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Von secarts

Angesichts der Tatsache, dass der Kapitalismus, auch und gerade in seinem imperialistischen Stadium, die Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit ist, stellt sich die Frage, wie es der Bourgeoisie gelingt, ihr Regiment aufrecht zu erhalten. Es ist klar, dass sie ohne Verbündete nicht in der Lage wäre, ihre politische Herrschaft abzusichern.
Diese Verbündeten stellen die Büttel, die notfalls mit direkter Gewalt „Ruhe und Ordnung“ herstellen und die gemeinsamen imperialistischen Interessen nach Außen umsetzen: das sind die bewaffneten Organe des Staatsapparats: Militär und Polizei – die militärische Stütze der Bourgeoisie. Sie stellen das Personal, das den Staat verwaltet: die Spitzenbeamten, Parteien und Charaktermasken des öffentlichen Lebens – die politische Stütze der Bourgeoisie. Und sie stellen die Verankerung des Kapitalismus in der sozialen Basis. Diese Kräfte müssen – denn nur auf Bajonette gestützt regiert es sich teuer und schwer – ideologische Anhänglichkeit an die Institutionen der Bourgeoisie schaffen; müssen spontan aufflammenden Kampf der Arbeiter eindämmen und systemkonform befrieden – das alles leisten die sozialen Stützen der Bourgeoisie. Diese findet die Bourgeoisie in allen Teilen der Gesellschaft, vor allem aber im Kleinbürgertum und Teilen des Lumpenproletariats einerseits sowie in der Arbeiteraristokratie1, inklusive der Arbeiterbürokraten2 andererseits. Auf eine der beiden möglichen sozialen Stützen baut die Bourgeoisie hauptsächlich ihre Herrschaft, während die zweite als Reserve bereit gehalten bzw. aufgebaut wird.

Arbeiteraristokratie als soziale Hauptstütze

[file-periodicals#107]Die Arbeiteraristokratie wurde erstmals am Vorabend des Ersten Weltkrieges in einer Situation zur sozialen Hauptstütze, als die Bourgeoisie in die Arbeiterschaft auch ideologisch einbrechen musste – ohne dies wäre dieser erste imperialistische Verteilungskrieg in keinem imperialistischen Land zu führen gewesen. „Die Klassengrundlage des Sozialchauvinismus und des Opportunismus ist dieselbe: das Bündnis einer kleinen bevorrechteten Arbeiterschicht mit ‚ihrer’ nationalen Bourgeoisie gegen die Masse der Arbeiterklasse, das Bündnis der Lakaien der Bourgeoisie mit ihr gegen die von ihr ausgebeutete Klasse. Der politische Inhalt des Opportunismus und des Sozialchauvinismus ist derselbe: Zusammenarbeit der Klassen, Verzicht auf die Diktatur des Proletariats, Verzicht auf die revolutionäre Aktion, rücksichtslose Anerkennung der bürgerlichen Legalität, Mißtrauen dem Proletariat, Vertrauen der Bourgeoisie gegenüber“, so Lenin3, der hier die wesentlichen Faktoren des Sozialdemokratismus umreißt und über seine soziale Basis folgendes schreibt: „Diese Schicht der verbürgerten Arbeiter oder der ‚Arbeiteraristokratie’, in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre ganze Weltanschauung vollkommen verspießert, ist […] in unsern Tagen die soziale (nicht militärische) Hauptstütze der Bourgeoisie. Denn sie sind wirklich Agenten der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung …, wirkliche Schrittmacher des Reformismus und Chauvinismus. Im Bürgerkrieg zwischen Proletariat und Bourgeoisie stellen sie sich in nicht geringer Zahl unweigerlich auf die Seite der Bourgeoisie"4.

Die Sozialdemokratie als politischer und organisatorischer Ausdruck der sozialen Hauptstütze Arbeiteraristokratie erfüllt u. a. dann ihren Dienst, wenn es
  • darum geht, eine revolutionäre Situation, eine kämpferische Arbeiterbewegung unter Kontrolle zu bekommen oder in einer „friedlichen“ Situation Klassenkämpfe zu befrieden,
  • darum geht, einen Krieg zu führen, der im Bündnis mit anderen Imperialisten gegen abhängige Länder zielt oder der von der Bourgeoisie nicht langfristig und systematisch vorbereitet werden konnte,
  • zu einer Verringerung der allgemeinen Arbeitslosigkeit und damit der Möglichkeit der Erpressung der Arbeiter kommt, also keine große industrielle „Reservearmee“ zur Verfügung steht, um Arbeitskämpfe abzuwürgen – oder
  • darum geht, sozialistische Länder nicht-militärisch in die Knie zu zwingen. Auch hier erfüllt die Sozialdemokratie dem Kapital den Dienst, das „Schaufenster des Kapitalismus“ anschaulich zu gestalten
Die Arbeiteraristokratie als soziale Hauptstütze wird vom Monopolkapital vor allem in „friedlichen“ wie in akut revolutionären Zeiten benötigt, in denen die Arbeiter kaum anders hinter die Bourgeoisie geschart werden können als durch verbalsozialistische Verbrämung des systematischen Verrats an ihren objektiven Klasseninteressen, durch Feilbietung einer ebenso verlogenen wie objektiv wirkungslosen Alternative zum revolutionären Kampf. Ihre politische Entsprechung ist die bürgerlich-parlamentarische Demokratie, ihre Ideologie der Sozialdemokratismus in der Arbeiterbewegung.

Kleinbürgertum und Lumpenproletariat als soziale Hauptstütze

Mit tatkräftiger Hilfe der Sozialdemokratie konnte die deutsche Bourgeoisie 1918/19 eine sozialistische Revolution verhindern. Für die Vorbereitung und Durchführung des Zweiten Weltkrieges boten sich nun andere Kräfte an: erprobt in den antirevolutionären Aktionen der frühen Weimarer Jahre, bildete sich eine buntscheckige Konterbande aus deklassierten und verkrachten Elementen, demobilisierter Soldateska, Junkern, Freikorps-Landsknechtstypen und kleinbürgerlichen Reaktionären jeglicher Couleur, die im Laufe der Zeit zur faschistischen Sammlungsbewegung heranreifte. Dass letztlich die NSDAP aus diesem Haufen den Zuschlag des Kapitals erhielt, ist nur Verlaufsform, nicht Ursache der Entwicklung. Von vielen „Testballons“ erwies sich die NSDAP als die geschickteste, ideologisch pragmatischste, rücksichtsloseste Kraft.
Diejenigen Fraktionen der Monopolbourgeoisie, die immer stärker der Meinung waren, auf die Sozialdemokratie verzichten zu können und statt dessen mit einem bewaffneten und zu allem bereiten Mob aus kleinbürgerlichen Kräften und Lumpenproletariern, die man in SA-Stiefel gesteckt hatte, diktatorisch regieren zu können, gewannen sukzessive die Oberhand. Dieser Wechsel der sozialen Hauptstütze fand dabei über mehrere Stufen statt und bildete keineswegs einen Automatismus: Schon seit Beginn der Weltwirtschaftskrise wurde die parlamentarische Demokratie unterminiert, die Bourgeoisie experimentierte mit verschiedenen Formen einer mehr oder weniger offenen Diktatur. Jedoch: der Vollzug des Austausches der sozialen Hauptstütze hätte nicht funktioniert, wenn die Bastionen der Arbeiterbewegung, wenn die bürgerlich-parlamentarische Demokratie selbst nicht schon jahrelang sturmreif geschossen worden wären. Und die Fehler, die in der Arbeiterbewegung gemacht wurden, begünstigten und erlaubten der Bourgeoisie diesen Schritt erst. Genannt sei an dieser Stelle nur die Verwechslung von Faschisten und dem Faschismus an der Macht. Die daraus resultierende Inflationierung des Faschismusbegriffes einerseits, die Historisierung oder Nationalisierung des Faschismus (z. B. als rein „italienisches Phänomen“) andererseits richtet in der Arbeiterbewegung bis heute viel Unheil an.

Der Faschismus an der Macht, das ist „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“5. Aber auch der Faschismus regiert nicht (nur) über die Bajonette, auch er benötigt eine soziale Hauptstütze – die faschistische Sammlungsbewegung: Sie wird u.a. dann zur hauptsächlichen sozialen Stütze, wenn
  • die allgemeine kapitalistische Krise so sehr in eine Wirtschaftskrise eskaliert, dass einer signifikanten Mehrheit in der Bourgeoisie keine Lösung unter demokratischen Bedingungen mehr möglich scheint,
  • ein Angriffskrieg, insbesondere ein zwischenimperialistischer (Um-)Verteilungskrieg langfristig und systematisch vorbereitet wird,
  • die Auseinandersetzung innerhalb der Bourgeoisie, innerhalb der Monopole, aber auch zwischen monopolistischen und nichtmonopolistischen Flügeln immer mehr an Schärfe gewinnt und keine parlamentarische „Kompromissfindung“ mehr möglich macht, und
  • die Arbeiterbewegung in einer Defensive gefangen oder zu zersplittert ist, um die Anschläge des Kapitals abzuwehren.
Der Schwenk zum Faschismus ist damit auch ein Zeichen der Schwäche der Bourgeoisie: sie kann mit ihren alten Methoden des Parlamentarismus nicht mehr herrschen.

Politisch organisiert wird diese Stütze in durchaus miteinander konkurrierenden und sich bekämpfenden - auch Faschisten untereinander benehmen sich gegenüber ihresgleichen faschistisch - Organisationen; ihre politische Entsprechung ist die offene faschistische Diktatur, ihre Ideologie die der Volksgemeinschaft, also der Versuch, den Klassenkampf „abzuschaffen“. Da dies unter kapitalistischen Umständen unmöglich ist, greift sie zur offensten Gewalt, um die gesellschaftlichen Widersprüche wenigstens niederzuhalten.


Anmerkungen:
1 Nach Marx der „bestbezahlte Teil der Arbeiterklasse“ (vergl. „Das Kapital“, MEW 23, S 697). Engels stellte bereits 1858 fest, „dass das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so dass diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen.“ (Brief an Marx vom 7.10.1858, MEW 29, S. 358) Er nannte auch die materielle Grundlage dafür in einem Brief an Kautsky vom 12.9.1882: „Die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts- und Kolonialmonopol Englands“ (MEW 35).
2 Sie finden sich unter Gewerkschaftsfunktionären und sozialdemokratischen Politikern, die bevorzugt schon aus der Arbeiteraristokratie stammen und einen sozialdemokratischen Aufstieg hingelegt haben. Diese Schicht wird mit kleinen Teilen der gigantischen Extraprofite aus internationalen Raubzügen billig eingekauft, „von den Kapitalisten der ‚fortgeschrittenen’ Länder bestochen – durch tausenderlei Methoden, direkte und indirekte, offene und versteckte“ (vergl. Lenin, „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (Vorwort), LW, Bd. 22, S. 198).
3 W.I. Lenin, „Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale“, Januar 1916, LW Bd. 22, S. 110 ff.
4 W.I. Lenin, Vorwort zur französischen und deutschen Ausgabe zu „Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“, Ausgew. Werke, Bd. 1, S. 774
5 Georgi Dimitroff, „Arbeiterklasse gegen Faschismus“, Bericht an den VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale.



 
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