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1924 erschienen die Dissertation der Netty Reiling und die erste Veröffentlichung von Anna Seghers "Die Toten auf der Insel Djal". Die unspektakuläre und scheinbar zufällige Wahl des Pseudonyms hatte beträchtliche Folgen. Anna Seghers kam von nun an nicht mehr faktografisch auf die Biografie der Netty Reiling zurück, mit einer Ausnahme "Der Ausflug der toten Mädchen". Natürlich lassen sich in Handlungen ihrer Werke individuelle Erfahrungen finden, aber nirgends ist aus den Texten Autobiographisches zu erschließen. Das machte ihre Texte manchmal nüchtern und spröde; dahinter stand die Absicht, eindeutig sein zu wollen. Sie hat ihre Biographie konsequent in ihren Werken zurücktreten lassen und das Spiel mit der Identität beschrieben, geradezu einzigartig im Roman "Transit". Aber Anna Seghers war nie nur Schriftstellerin. Sie war auch Politikerin und trennte streng die literarische von der politischen Ebene. Ihre Texte weisen aus, dass sie eine gegenseitige Benutzung zwischen den beiden von ihr bedienten Bereichen nicht gestattete; immer musste Politisches in literarische Themen übertragen werden, sollte es mit ästhetischen Mitteln vermittelt werden. So lassen sich ihre politischen Bekenntnisse nicht gegen literarische Zeugnisse ausspielen.

Politisch griff sie ein, wenn sie mit ihrer Meinung auf Unterlassungen aufmerksam machen wollte. Während des Baus der Berliner Mauer 1961 war sie nicht in der DDR. Erst im November 1961 begrüßte sie die Grenzziehung als "außerordentlich notwendig", verband das aber mit der Hoffnung, dass eine Phase der Öffnung folge. Als sie 1965 in Westberlin bei einem Leseabend nach der Mauer gefragt wurde, gab sie eine ausführliche Antwort, in der sie die Mauer historisch begründete und schloss: "Wenn nun die Grenze unseres Staates gegenüber Westberlin festgemacht ist, so muss jeder begreifen, dass an dieser Grenze Recht und Gesetz unseres Landes und seiner Regierung zu achten sind."

Recht, Gesetz und Sicherheit waren für sie Existenzbedingungen geworden. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, der viele private Gespräche mit ihr hatte, sagte einmal lapidar "Ihr Leben war immer bedroht. Sie befand sich noch in Paris, als Wehrmacht und Geheimpolizei dort eingezogen waren. Das Exil in Mexiko ...war hart. Hat sie es bemerkt?"

Anna Seghers hat es bemerkt. Kein Ereignis ihres Lebens hat sie so bewegt wie ihr Unfall in Mexiko, den sie als "Krankheit" bezeichnete. Es ist das Ereignis, was als einziges mehrfach literarisch aufgenommen und Erzählanlass für die Novelle "Ausflug der toten Mädchen" wurde. Mexiko bedeutete auch, dass nach ihrer Rückkehr 1945 argwöhnisch auf sie gesehen wurde. Nach dem Verständnis Stalins waren nur jene Exilanten zuverlässig, die in der Sowjetunion Zuflucht gesucht hatten. Der Seghers war das bewusst, wie man aus Brechts Arbeitsjournal erfährt.

Über ihr Schweigen im Janka-Prozess ist viel gerätselt worden. Ein wesentlicher Grund dürfte die grenzenlose Angst gewesen sein, die durch den Prozess auf einen Höhepunkt geriet. Wenn Anna Seghers während des Janka-Prozesses öffentlich schwieg, den Angeklagten nicht verteidigte, wie er es erwartet hatte, spielte Erinnerung an Mexiko mit. Sie setzte sich aber dennoch bei Walter Ulbricht zweimal für Janka ein, betrieb eine Resolution an das ZK der SED und an das Justizministerium, verbürgte sich dort mit mehreren Schriftstellerkollegen für Janka und wurde auch beim Innenministerium vorstellig. Auch hier hat Hans Mayer das Problem benannt: Janka habe "über Becher und Seghers ... seine Wahrheit" geschrieben. "Aber es gibt auch die Wahrheit der Anna Seghers." Erklärend fügte er an, dass das ihr weltliterarisch wirkendes Werk sei.

Die vorbildliche Genossin, die liebevolle Mütterliche, die geniale Schriftstellerin waren in den siebziger Jahren zum statuarischen Bild geworden. Durch ihre Zweifel, auch durch ihr Schweigen wurde aus dem Denkmal wieder der Mensch. Widerspruch, deutliches Andersdenken brachte sie in die Akademie der Künste ein. Folgt man den Protokollen, schwieg sie oft in den Auseinandersetzungen. Ging es aber um den Menschen im Künstler, sprach sie deutliche Worte. Auf der Dramatikerkonferenz am 17. Oktober 1961 verteidigte sie Heiner Müller vehement, nicht wegen seines Stückes, nicht wegen seines Talentes, sondern weil er ein leidender Mensch sei. Wenn man von ihr Alibistellungnahmen erbat, lehnte sie ab.

Noch einen Schritt weiter bei der Auflösung des Biografischen ins Literarische ging sie, als sie sich mythischen Stoffen zuwandte. Die ihr gemäße Identifikationsfigur wurde Odysseus, der ihr Werk leitmotivartig durchzieht: Er wurde das Beispiel des Menschen, der immer auf der Suche nach der Heimat war. Von Beginn an hatte sie eine Neigung zu Mythischem und Geheimnisvollem, zu Fernem und Ungewöhnlichem. 1937 schrieb die Seghers ihre "Sagen von Artemis"; mythische Figuren wurden erstmals namentlich genannt. Sie waren in ihrem Denken anwesend und warteten geradezu darauf, mit einem Namen versehen und abgerufen zu werden. In ihrem Gesamtwerk ist die Welt der Seghers "auch mythische Welt" (Hans Mayer). Diese mythische Welt ist in Begriffen wie "Sonderbares" und "Wunderbares" - sie gingen in Titel ihrer Erzählungen ein - ebenso ahnbar wie in dem des Phantastischen, das sie in der Erzählung "Die Reisebegegnung" (1973) von den Schriftstellern E. T. A. Hoffmann, Kafka und Gogol diskutieren ließ. Noch einmal wurde ihr Grundthema deutlich: Ein Dichter darf sich, muss sich Erfindungen erlauben, der politisch tätige Mensch muss sich an die Wirklichkeit halten. Das alles gipfelte in dem zur Maxime gewordenen Satz: "Ein richtiger Wald gehört zur Wirklichkeit, doch auch ein Traum von einem Wald."

Mit dem Erzählen wollen die erzählenden Gestalten, aber in ihnen auch die Schriftsteller Leid, Trauer und Angst beseitigen. Erzählt wird, um sich am Leben zu halten. Erzählen bedeutet, am Leben zu sein. Dadurch ist Zivilisation geworden, mit ihr aber auch Vernichtung. Abläufe haben sich wiederholt. Der Mythos steht für diese Wiederholung und endlich auch für ihre Aufhebung. Der Roman "Transit" wurde so eine Wiederholung, eine andere "Odyssee" und gleichzeitig auch ihr Gegensatz. Der Erzähler fährt nicht mehr weiter; er bricht die Odyssee ab, kehrt aber auch nicht in die Heimat zurück. Er findet im fremden Land "Obdach". Heimat wurde schließlich, wo man leben und erzählen kann. So sind auch ihre Nachkriegstexte Beispiele für ein Leben, das eine Utopie verwirklichen wollte und Enttäuschungen erlebte. Sie zweifelte aber nie am Sinn ihres Lebens und am Wert der Utopie. Manches bestätigt die Schriftstellerin: eine rührige Anna-Seghers-Gesellschaft, eine auf 23 Bände angelegte Werkausgabe, die leider zu langsam erscheint, Kolloquien, Konferenzen, Jahrbücher und ein Anna-Seghers-Preis. Blickt man auf die Reihe der Preisträger, unter ihnen Lutz Seiler, bleibt auch die Hoffnung präsent, dass die politischen Ideale der Anna Seghers eine Zukunft haben.

 
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