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(MAGDEBURG/DESSAU) - Einer der großen Skandale der deutschen Polizeigeschichte wird am heutigen Donnerstag vor dem Bundesgerichtshof verhandelt. Gegenstand ist der Tod eines Mannes aus Sierra Leone in einer Polizeizelle in Dessau (Sachsen-Anhalt). Der Asylbewerber war im Januar 2005 in der Zelle an Händen und Füßen gefesselt worden und dann unter ungeklärten Umständen verbrannt. Die diensthabenden Polizisten hatten den Feueralarm ignoriert. Ihr Freispruch, mit dem vor rund einem Jahr ein weithin als skandalös eingestuftes Gerichtsverfahren endete, ist Gegenstand des heutigen Revisionstermins. Der Fall gewinnt vor dem Hintergrund anhaltend hoher Gewalt und behördlicher Schikanen gegenüber Flüchtlingen in Deutschland neue Brisanz. Unlängst überfielen Gewalttäter zum wiederholten Male ein Flüchtlingslager in Sachsen-Anhalt, dessen Bewohner schon lange rechte Übergriffe beklagen. Von weiteren Gewalttaten in dem Bundesland, das in der Rangliste extrem rechter Straftaten seit Jahren weit oben steht, berichten Anika Döhring und Martin Burgdorf im Gespräch mit german-foreign-policy.com. Die Bundesregierung reagiert auf das kontinuierliche Erstarken extrem rechter Gewalt mit der Ankündigung, die staatlichen Mittel für den Kampf gegen Neonazismus zu kürzen.

Tod in der Zelle

Am heutigen Donnerstag befasst sich der Bundesgerichtshof in Karlsruhe mit dem Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh aus Sierra Leone. Jalloh war am Morgen des 7. Januar 2005 festgenommen und in eine Zelle der Polizeiwache in Dessau (Bundesland Sachsen-Anhalt) verbracht worden. Dort wurde er durchsucht; es wurden weder ein Feuerzeug noch Streichhölzer bei ihm gefunden. Dennoch verbrannte Jalloh in der Zelle, nachdem er dort auf eine feuersichere Matratze gelegt und auf ihr festgeschnallt ("fixiert") worden war. Wie der Brand gelegt wurde, ist bis heute ungeklärt; Polizisten behaupten, Jalloh habe angebliche Löcher in der Matratze genutzt, um - weiterhin in Fesseln - mit einem Feuerzeug unbekannter Herkunft das entflammbare Innere der Matratze anzuzünden. Belegt ist, dass ein verantwortlicher Polizist Hilferufe ignorierte und die Sprechanlage in Jallohs Zelle leiser stellte, anstatt ihm zu Hilfe zu eilen. Keine drei Jahre zuvor war in derselben Polizeiwache unter der Aufsicht desselben Polizeibeamten ebenfalls ein Inhaftierter in einer Zelle zu Tode gekommen.1

Falschaussagen

Das erste Gerichtsverfahren um Oury Jallohs Tod, das vor rund einem Jahr mit dem Freispruch sämtlicher involvierter Polizeibeamter endete, hat international erhebliche Aufmerksamkeit erregt. Kritiker nennen die offenkundigen Vertuschungsbemühungen seitens der Polizei in Dessau skandalös - ein Urteil, das sich auf Einschätzungen des zuständigen Richters stützen kann. Dieser erklärte über Äußerungen der Polizisten vor Gericht, es sei "erschreckend, in welchem Maße hier schlicht und ergreifend falsch ausgesagt wurde." Die beteiligten Polizeibeamten hätten "eine Aufklärung verunmöglicht": "Das, was hier geboten wurde, war kein Rechtsstaat mehr".2 Die Revision des Verfahrens liegt nun dem Bundesgerichtshof vor.

Schikanen

Der Fall Oury Jalloh gewinnt vor dem Hintergrund anhaltend hoher Gewalt und behördlicher Schikanen gegenüber Flüchtlingen in Deutschland neue Brisanz. In Sachsen-Anhalt, dem Bundesland, in dem Jalloh lebte und zu Tode kam, wurde erst kürzlich wieder ein Flüchtlingslager überfallen - zum wiederholten Mal. Unbekannte Gewalttäter drangen in das Wohngebäude des Lagers bei Harbke ein, verwüsteten es und sprühten Hakenkreuze an die Wand. Es habe sich dabei um den dritten Vorfall mit Rechten in dem Lager gehandelt, berichtet Anika Döhring von der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt gegenüber german-foreign-policy.com.3 Das Lager Harbke, dessen Schließung seine Bewohner vergeblich fordern, liegt fünf Kilometer außerhalb der Ortschaft Harbke mitten im Wald neben einer Autobahn. Die Unterbringung von Flüchtlingen dort wird seit geraumer Zeit als üble Behördenschikane kritisiert: Medien sprechen von katastrophalen hygienischen Bedingungen und von Schimmel an den Wänden, Wasser tropft durch die Decke in die Küche, günstige Geschäfte sind mehrere Kilometer weit entfernt, und die Teilnahme am sozialen Leben außerhalb des Lagers ist wegen der Entfernung zur nächsten Ortschaft kaum möglich.4

Auf hohem Niveau

Wie Anika Döhring von der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt und Martin Burgdorf vom Regionalen Beratungsteam gegen Rechtsextremismus im Gespräch mit dieser Redaktion berichten, sind die Vorfälle im Flüchtlingslager Harbke alles andere als ein Einzelfall. Demnach verzeichnet Sachsen-Anhalt insgesamt ein erhebliches Maß an rassistisch motivierter Gewalt. Neben Attacken gegen Personen komme es etwa immer wieder zu Sachbeschädigungen und Brandanschlägen auf Imbissbuden und Geschäfte, die von Migranten betrieben werden, schildert Döhring. Potenzielle Opfer wüssten zumeist genau, "welche Orte sie meiden müssen", um Attacken zu vermeiden, sagt Burgdorf; das könnten "Gegenden sein, wo Rechte ihre Treffpunkte haben", aber "auch ganz einfach Volksfeste".5 Die immer wiederkehrenden Angriffe auf Flüchtlinge gehen mit umfangreichen Aktivitäten der extremen Rechten in Sachsen-Anhalt einher, die Burgdorf gegenüber german-foreign-policy.com für den Norden des Bundeslandes beschreibt. Dort ist ihm zufolge "die organisierte rechte Szene nach wie vor auf hohem Niveau aktiv" und bekommt weiterhin Zulauf - "vor allem aus rechten Jugendkulturen".

Rechte Gewalt

Tatsächlich belegt das Bundesland Sachsen-Anhalt in der Rangliste rechtsextremer Straftaten pro Kopf der Bevölkerung unter den Bundesländern regelmäßig einen der vordersten Plätze. Für das Jahr 2008 zählte das Magdeburger Innenministerium insgesamt 121 rechts motivierte Gewalttaten; dies war dem Bundeskriminalamt zufolge der höchste Pro-Kopf-Wert unter den Bundesländern. Dabei wurden offenbar nicht sämtliche rechts motivierten Gewaltdelikte erfasst; die Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt zählt im selben Zeitraum 151 Fälle. Die rechts motivierten Straftaten, bei denen Sachsen-Anhalt mehrere Jahre lang ebenfalls an der Spitze der Pro-Kopf-Statistik lag, beliefen sich laut dem Innenministerium im Jahr 2008 auf 1.761 Fälle; das sind beinahe fünf Delikte pro Tag. Im Vergleich mit anderen Bundesländern muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass die Statistiken unterschiedlich gehandhabt werden. Einige Bundesländer stufen extrem rechte Straftaten, etwa Hakenkreuzschmierereien, nicht als "rechts motiviert" ein, sofern die Täter und ihre Absichten nicht ermittelt werden können - eine Ursache dafür, dass manche Statistiken das wahre Ausmaß extrem rechter Gewalt nicht erkennen lassen.6

Ohne Grundlage

Angesichts des ungebrochen hohen, teilweise sogar steigenden Ausmaßes extrem rechter Gewalt, das nicht nur Sachsen-Anhalt, sondern zahlreiche Gebiete in der gesamten Bundesrepublik betrifft, kündigt die neue Bundesfamilienministerin, Kristina Köhler, eine faktische Kürzung staatlicher Mittel für den Kampf gegen die extreme Rechte an. Die entsprechenden Bundesprogramme, aus denen Projekte gegen rechts unterstützt werden, werden großenteils von ihrem Ministerium finanziert; sie sollen sich in Zukunft auch gegen "Linksextremismus und islamischen Extremismus" wenden.7
Diesbezügliche Festlegungen im Koalitionsvertrag "werde ich umsetzen", kündigt Köhler an. Damit entzieht die Bundesregierung Projekten, die sich gegen die extreme Rechte wenden, die materielle Grundlage und schafft den erstarkenden Neonazis einen bedeutenden Gegner vom Hals.

Bitte lesen Sie auch unser Interview mit Anika Döhring und Martin Burgdorf.


Anmerkungen:
1 Wie starb Oury Jalloh? Der Tagesspiegel 30.07.2009
2 59. Prozesstag; ouryjalloh.wordpress.com
3 s. dazu Die extreme Rechte in Sachsen-Anhalt
4 s. auch Das Prinzip Abschreckung
5 s. dazu Die extreme Rechte in Sachsen-Anhalt
6 LKA soll Rechtsextremismus-Statistik geschönt haben; Spiegel Online 27.11.2007
7 Köhler will für das Betreuungsgeld kämpfen; Welt Online 05.12.2009


 
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