Im schönen Süden Deutschlands ticken die Uhren oftmals etwas anders. Langsamer, um genau zu sein. Das zeigt sich nicht nur in dörflicher Landidylle und einem urwüchsigen, meist völlig zu Unrecht bespöttelten Menschenschlag, sondern ist auch in politisch-moralischer Hinsicht oftmals unter Beweis gestellt worden. Es dauert etwas länger, bis die Segnungen der Moderne in die Alpenausläufer vordringen; man verteidigt sich, so lange wie möglich, gegen Angriffe von außen, die das traditionelle Gefüge in Frage zu stellen drohen. Wertkonservativismus, im besten Sinne, nennt sich so etwas.
Was die Gesellschaft bedroht? Das kann der unsägliche Atheismus sein, der die Kreuze von den Wänden bayerischer Klassenzimmer reißen will und an derer statt am Besten noch Hammer und Sichel sehen möchte. Das kann die Auflösung der Familie, seit jeher Fundament der Gesellschaft, ihre Keimzelle und ihre Basis, sein. Oder auch widernatürliche sexuelle Gelüste, die zunächst den schwachen Menschen und irgendwann den ganzen Staat zersetzen. Homosexualität zum Beispiel.
Und außerdem bleibt es meistens nicht bei einer Verfehlung, die man ja eventuell gerade noch so hinnehmen könnte, allein: Wer schwul ist, bekommt meistens keine Kinder. Also ist auch die Familie in Gefahr. Wer die Familie und Ehe ablehnt, ist außerdem Kommunist, also auch Atheist. Und obendrein hat der sexuell motivierte Kriminelle, der die Übereinkunft unseres demokratischen Gemeinwesens ablehnt, die fatale Angewohnheit, sich epidemisch zu vermehren - durch Verführung bestenfalls, notfall auch durch Zwang zum Mitmachen. Bevorzugt gegen Kinder. Wo wir wieder bei der Gefahr für die Familie, unserer Heimstatt, wären - der Kreis schließt sich.
Und prompt ist die Bedrohung da: der Sündige zieht immer mehr Sünden an; aus einem kleinen Manko wird - die Universalbedrohung für Land, Staat und Bürger.
Schwachsinnige Argumentation? Mag sein. Aber erzählen Sie das bitte nicht mir, sondern zum Beispiel der bayerischen Polizei. Die denkt nämlich, muss man nach Betrachtung des folgenden Falles annehmen, genau so.
I. Homosexuelle als potentielle Tätergruppe - Ihre Polizei ermittelt.Die automatisierten Ermittlungssoftwares "IGVP" und "PVP", in der alle an Strafverfahren beteiligten Täter, aber auch alle Opfer und Zeugen gespeichert sind, kennt in Bayern (und auch in Thüringen und Nordrhein-Westfalen, der Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter geht überdies davon aus, dass dies auch in anderen Bundesländern geschieht) das besondere Kürzel *omosex*, wie
SPIEGEL ONLINE unlängst berichtete. Auf Eingabe des Kurzbefehls spuckt das Programm alle gespeicherten Personen, die der Gruppe "Homosexuelle" zugeordnet werden, als "potentielle Tätergruppe", keineswegs beschränkt auf Sexualstraftaten, aus. "Übliche Aufenthaltsorte" von Homosexuellen werden als "potentielle Tatorte" gelistet.
Dieses Verfahren lässt nicht nur unangenehme Erinnerungen an die sog. "Rosa Listen" aus der Zeit des deutschen Faschismus, dessen Homosexuellen-Verfolgung ungefähr 100.000 Menschen zum Opfer fielen, wach werden, sondern scheint sich zudem noch auf soziologisch kaum haltbare Konstrukte von Kriminalitätsanfälligkeiten gewisser gesellschaftlicher Gruppen zu stützen. Es ist schon nicht belegbar, dass (prozentual natürlich) mehr Homosexuelle als Heterosexuelle in justiziable Sexualdelikte verwickelt sind; völlig unhaltbar wird die Argumentation, wenn sie sich auf
alle Verbrechensbereiche ausdehnt. Darüber hinaus sollte die Frage, wessen Geschlecht sich ein Bankräuber z.B. zugeneigt fühlt, für die Klärung des Delikts keinerlei Nutzwert haben.
Was geschieht hier also, wenn es mit wissenschaftlich begründeten Eingrenzungskriterien (wie z.B. Bildung, Vorstrafen, Gewaltaffinität) nichts zu tun hat? Es geht um Stigmatisierung und Klein-Hänschen-Vorstellungen vom "bösen Mann": wer sich sexuell verfehlt, tut auch noch schlimmeres, scheint der Gedankengang hinter den Vorgängen zu sein.
Völlig vergessen wird dabei, dass die gesetzliche Diskriminierung Homosexueller durch die §§175, 175a und 175b seit 1994 ersatzlos aus dem StGB gestrichen wurde.
II. §175 - staatliche Diskriminierung mit langer Geschichte.Die Geschichte der staatlich sanktionierten Homosexuellenverfolgung liest sich als ein besonders dunkles Kapitel deutscher Historie.
Ausgehend vom 13. Jahrhundert wurde die vorher im christlich-moralischen Sinne zwar als anzüglich, keineswegs aber als kriminell oder gar bestrafungswürdig angesehene Homosexualität gesetzlich belangt - so zum Beispiel fixiert in der "Constitutio Criminalis Carolina" unter Karl V. von 1532:
„Straff der Vnkeusch, so wider die Natur beschicht. Jtem so ein mensch mit einem Viehe, Man mit Man, Weib mit Weib Vnkeusch treibenn, die habenn auch das leben Verwurckt. Vnt man solle sy, der gemeynen gewohnheit nach, mit dem feure vom lebenn zum tode richtenn.“Erst im preußischen "Allgemeinen Landrecht" von 1794 wurde die Todesstrafe auf Gefängnishaft reduziert. Hier aus dem §143:
„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren verübt wird, ist mit Gefängniß von sechs Monaten bis zu vier Jahren, sowie mit zeitiger Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte zu bestrafen.“ Damit galt Preußen damalig sogar als fortschrittlich im Sinne der Aufklärung; nur wenige Jahre später wurde im napoleonischen Code Civil allerdings die Homosexualität für völlig straffrei erklärt. Diesem Modell folgte zunächst Preußen und auch später das Deutsche Reich nicht; der betreffende Artikel, nun unter §175 und auf Homosexualität zwischen Männern und mit Tieren beschränkt, wurde aus dem ein Jahr vorher geschaffenen Strafgesetz des Norddeutschen Bundes übernommen (§175, RStGB, 1894):
„Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“III. Kampf gegen den §175 seit dem 19. JahrhundertVerschiedenen Initiativen, z.B. des Arztes Magnus Hirschfeld oder auch der damaligen SPD unter August Bebel, gelang trotz beeindruckender Kampagnen und Unterschriftensammlungen nicht die Aufhebung des Paragrafen. Auch in der Weimarer Republik konnten die linken Parteien dies nicht durchsetzen; im Gegenteil, es kam zu einer nochmaligen Verschärfung durch die Einführung des §297: statt eines
Vergehens wurde homosexuelle Betätigung nun unter bestimmten Umständen, z.B. männlicher Prostitution, als
Verbrechen eingestuft; die Straftatbestände wurde neben "beischlafähnlichen Handlungen" auch auf "gegenseitige Masturbation" ausgeweitet.
In der Begründung des Urteils wird der später während des Faschismus angewandte Tonfall des potentiell zersetzenden Homosexuellen und der "Ansteckungsgefahr" gegenüber "Unschuldigen" und Kindern deutlich:
„Dabei ist davon auszugehen, daß der deutschen Auffassung die geschlechtliche Beziehung von Mann zu Mann als eine Verirrung erscheint, die geeignet ist, den Charakter zu zerrütten und das sittliche Gefühl zu zerstören. Greift diese Verirrung weiter um sich, so führt sie zur Entartung des Volkes und zum Verfall seiner Kraft.“Als diese Strafrechtsnovelle 1929 dem Strafrechtsausschuss des dt. Reichstages vorgelegt wurde, gelang es einer Mehrheit aus KPD, SPD und DDP (Deutscher Demokratischer Partei) mit 15:13 Stimmen beinahe, die Einführung des neuen Paragraphen zu stoppen, was einer Legalisierung männlicher Homosexualität gleichgekommen wäre. Gleichzeitig aber wurde mit einer deutlichen Mehrheit der modifizierte §175 nur gegen die 3 Stimmen der KPD im Ausschuss durchgesetzt. Selbst dieser Teilerfolg aber wurde, gegen die Stimmen der Kommunisten, wieder zunichte gemacht, als der neu zu schaffende §297 wieder in das Reformpaket aufgenommen wurde; durch die Aushebelung des Parlamentes durch die Brüningschen Präsidialkabinette kam es allerdings zu keiner Verabschiedung mehr.
IV. staatlicher Terror gegen Homosexuelle unter dem deutschen FaschismusIm Jahr 1935 wurde unter den Faschisten der §175 verschärft; die Höchststrafe wurde von 6 Monaten auf 5 Jahre heraufgesetzt und im gleichen Zuge die Praxis der sog. "Schutzhaft" nach Verbüßung der Strafe, bei Freispruch oder bei als zu kurz verstandenen Strafmaßen eingeführt, was in der Realität oftmals einer Todesstrafe durch Folter und KZ-Haft gleichkam. Dier "qualifizierte Unzucht", gemeint sind z.B. Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen oder männliche Prostitution, wurde nach §175a ausgelagert, die "Unzucht mit Tieren" nach §175b.
In einem Runderlass des Reichssicherheitshauptamts von 1940 wurde pauschal bestimmt:
„alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen“.Lediglich etwa 40% der 10.000 Opfer, die aufgrund der "Vorbeugehaft" in die Mühlen des staatlichen Terrors gerieten, überlebten die Zeit des deutschen Faschismus (und kamen in den westlichen Besatzungszonen und der späteren BRD oftmals wieder ins Gefängnis, da sie entweder ihre Strafe nach den nach wie vor gültigen §§175, 175a und 175b noch nicht verbüßt hatten oder im gleichen "Delikt" wieder "straffällig" wurden).
Mit Beginn der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die weitere Geschichte des §175 in der späteren DDR und BRD einen sehr unterschiedlichen Verlauf:
V. (zu späte) Einsicht in das Unrecht: der §175 und die DDRDie Rechtentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR war uneinheitlich: In den allermeisten Teilen des Landes wurde zunächst wieder die Fassung des §175 vor der faschistischen Modifizierung angewandt. Erst 1957 wurde durch das Strafrechtsänderungsgesetz der §175 faktisch außer Kraft gesetzt und lediglich noch in Fällen der "Verführung Minderjähriger" zur Anwendung gebracht.
Das Kammergericht Berlin urteilte,
"daß bei allen unter § 175 alter Fassung fallenden Straftaten weitherzig von der Einstellung wegen Geringfügigkeit Gebrauch gemacht werden soll“. Homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen blieben daher ab Ende der 50er Jahre in der DDR straffrei.
Im Jahr 1968 wurde der Straftatbestand der "Verführung gleichgeschlechtlicher Minderjähriger" in den §151 StGD-DDR eingegliedert; 1987 wurde durch ein Urteil des Obersten Gerichts der DDR auch dieser Paragraph mit der Begründung aufgehoben, dass:
„Homosexualität ebenso wie Heterosexualität eine Variante des Sexualverhaltens darstellt. Homosexuelle Menschen stehen somit nicht außerhalb der sozialistischen Gesellschaft, und die Bürgerrechte sind ihnen wie allen anderen Bürgern gewährleistet.“ Ein Jahr später strich die Volkskammer der DDR den Paragraphen ersatzlos. Noch ein Jahr später, nach der "Wende" und der Annexion der DDR, wurde der BRD-Paragraph 175 wieder eingeführt.
VI. weiter, als wäre nichts geschehen: der §175 in der BRDIm Jahr 1949 wurden die betreffenden Teile des faschistischen Gesetzes eins zu eins in das StGB der BRD übernommen; der Bundesgerichtshof schloß sich ebenfalls der unter dem Faschimus üblichen Auslegung des §175, nach der es zur "Unzucht" nicht einmal körperlicher Berührung bedürfe, an. Zuschauen oder gleichzeitiges Masturbieren genügte.
Zwischen 1950 und 1969 kam es zu mehr als 100.000 Ermittlungen und über 50.000 rechtskräftigen Verurteilungen aufgrund der §§175, 175a und 175b. Mehrere regelrechte Treibjagden auf Homosexuelle mit anschließenden Prozeßwellen, wie zum Beispiel 1950/51 in Frankfurt a.M., forderten ihre Opfer: in diesem Falle 6 Suizide und oftmals der Verlust der bürgerlichen Stellung neben Gefängnisurteilen.
1962 wurde die Aufrechterhaltung des §175 wie folgt gerechtfertigt (Regierungsentwurf für das StGB der BRD, E 1962, BT-Drs. IV/650):
„Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“VII. das Ende der (gesetzlichen) Diskriminierung ?Zunächst unter Kiesinger 1969, als in einer der letzten Amtshandlungen der Großen Koalition die Zusatzparagraphen a und b wegfielen und der Straftatbestand auf "qualifizierte Unzucht" begrenzt wurde, als auch 1973 unter der SPD-FDP-Koalition unter Willy Brandt in einer großen Sexualrechtsreform, als der der Begriff der Unzucht durch den der „sexuellen Handlungen“ ersetzt wurde und nur noch Sex mit Minderjährigen als qualifizierendes Merkmal zurückblieb (das "Schutzalter" wurde ebenfalls von 21 auf 18 Jahre gesenkt), wurde der §175 weiter vereinfacht und abgeschwächt.
Erst im Jahr 1994 konnten sich die Gesetzgeber dazu durchringen, den §175 ersatzlos zu streichen.
Seit gut zehn Jahren also macht sich ein Mann, der einen anderen Mann liebt, nicht mehr nach dem Gesetz strafbar. Auch wenn diese Gesetzesänderung noch nicht in allen Bereichen Deutschlands bekannt zu sein scheint und obendrein subtilere Varianten der Diskriminierung Homosexueller nach wie vor eine gesellschaftliche Funktion erfüllen, ist die BRD damit endlich auf dem längst üblichen Level bürgerlicher Rechtsstaatlichkeit, dass uns unsere europäischen Nachbarn schon lange vorleben, angekommen.
Sicher, dies alles hilft wenig, wenn man in Bereichen tätig ist oder lebt, wo Gesetze das Papier, auf dem sie stehen, nicht wert sind. In der Armee zum Beispiel, als Sportler in Bundesligavereinen, als Angestellter in kirchlichen Einrichtungen. Oder, neuerdings wieder, als Zeuge, Opfer oder auch Angeklagter in einem Strafprozeß.
Geschichte soll sich angeblich nicht wiederholen. Und der Fortschritt unaufhaltsam sein. Es gibt, kann man einwenden, heute doch schon genug Spitzenpolitiker, die sich ohne Gefahr für Karriere oder gar bürgerliche Glaubwürdigkeit "outen" können. Die Zeiten haben sich doch geändert!
Solange es irgendeiner Rechtfertigung oder gar eines "Outings", vor dem Gesetz oder vor einem Millionenpublikum vor Fernseher und Zeitung, für Liebe bedarf, stimmt etwas nicht.
Gleichberechtigte und einvernehmliche Liebe ist, egal, auf welches Geschlecht sie sich richtet, nicht "pervers", "abnormal" oder "potentiell kriminell", sondern der Normalzustand. Rechtfertigen müssten sich diejenigen, die
nicht lieben.
Über eines sollte sich niemand, der sich aufgrund anders gearteter sexueller Neigungen über dererlei Zustände in unserer Gesellschaft erhaben fühlt, hinwegtäuschen lassen: Von der Unterdrückung, Kriminalisierung und gesellschaftlicher Ächtung von Menschen, die die "falsche" Person vom "falschen" Geschlecht lieben, ist es nur ein kurzer Weg zur Kriminalisierung und Verfolgung aufgrund der "falschen" Haut- oder Augenfarbe, der "falschen" Sprache, der "falschen" Eltern oder der "falschen" (oder, noch schlimmer, gar keiner) Religion.
Die, die heute Homosexuelle auf eine Liste setzen, können die sein, die dies morgen mit "den Sozialisten", "den Atheisten" oder "den Juden" tun. Und ist die Liste erst einmal da, wird sich wer finden lassen, der sie nutzt. Das alles wäre nicht neu in unserem Land.