"Die Wahrheit hat tausend Hindernisse zu überwinden, um unbeschädigt zu Papier zu kommen und von Papier wieder zu Kopf." Diese Erkenntnis des Aphoristikers Georg Christoph Lichtenberg hätte als Motto über den Diskussionsrunden und Festlichkeiten am 5. und 6. Mai zum Jubiläum der Zeitung "Prawda", der 1912 von Lenin gegründeten "Wahrheit" stehen können. Vertreter von 24 kommunistischen und linken Presseorganen waren der Einladung nach Moskau, aus diesem Anlass ausgesprochen von der Redaktion und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, gefolgt.
Einen wechselvollen Weg hat das Blatt, das als kollektiver Organisator und Propagandist der kommunistischen Partei wirkte und wirkt, in diesen 100 Jahren zurückgelegt. Vom halblegalen, immer wieder verbotenen Kampfblatt noch unter dem Zaren, der Zensur wegen oft zu einer "Sklavensprache" gezwungen, zum Leitmedium und Sprachrohr der Kommunistischen Partei der Sowjetunion mit einer Auflage von über 11 Millionen Exemplaren. Am 22. August 1991 erschien die "Prawda" zum letzten Mal als Zeitung der KPdSU. Nach der Zerstörung der UdSSR unter Jelzin wieder mehrfach vom Verbot bedroht, wird die "Prawda" heute bei einer Auflage von rund 100 000 Exemplaren von noch 14 Redakteuren erstellt.
Historische Kontinuität wahrt die Zeitung als Stimme der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation. Auch ihr Sitz ist immer noch in der Moskauer Uliza Prawda. Allerdings muss sich die Redaktion, in der die ausländischen Gäste am 4. Mai empfangen wurden, das riesige Gebäude heute mit mehreren anderen Redaktionen ganz anderer Ausrichtung - unter anderem der "Rossiskaja Gaseta" und des "Ekonomist" - teilen und residiert jetzt auf die achte Etage beschränkt. Dort erinnert vieles an die Vergangenheit. Hier befindet sich auch noch der Schreibtisch, an dem einst Nadeschda Krupskaja, Lenins Frau, arbeitete. Eine Gedenktafel auf dem Flur erinnert an die im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen Frontkorrespondenten. Das große Foto, auf dem Lenin die "Prawda" studiert, beherrscht den Konferenzraum. Aber Chefredakteur Boris Komotski weiß, dass er heute in einer anderen Zeit lebt: "Wir sind in der Opposition und haben uns der Konkurrenz zu stellen, um zu überleben", sagt er. "Aber wir kämpfen immer noch gegen den Kapitalismus und folgen den Leninschen Idealen." Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass selbst Noch-Präsident Medwedjew einen Glückwunsch zum Jubiläum gesandt hat - wie übrigens auch der belorussische Präsident Lukaschenko.
Die eingangs erwähnten "tausend Hindernisse" bei der Verbreitung der Wahrheit waren am 6. Mai das zentrale Thema bei der Runde der 25 Gäste aus 22 Ländern, von China bis Chile, von Finnland bis Kuba. Vor allem die Vertreter der Zeitungen aus den ehemaligen sozialistischen Staaten wussten von Repressionsmaßnahmen des Staates zu berichten. Der Genosse aus Litauen berichtete: "Der kalte Krieg ist nicht beendet. Die Lage ist ernst. Vor wenigen Tagen wurde unser Vorsitzender verhaftet." Der Chefredakteur der ungarischen "A Szabadszag" beklagte, dass seine Zeitung unter der ungarischen Rechtsregierung fast in die Illegalität gedrängt ist. Aus den kapitalistischen Ländern war zu hören, wie monopolistische Medien das Massenbewusstsein manipulieren und die wenigen linken oder auch nur kritischen Stimmen an den Rand drängen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie unter großem wirtschaftlichen Druck stehen, dass ihre Fortexistenz von der Einsatzbereitschaft ihrer Mitarbeiter und der Opferbereitschaft ihrer Leserinnen und Leser abhängt. Das ist schmerzlich, weil einige der Zeitungen vor dem Zusammenbruch der europäischen sozialistischen Staaten großen Einfluss und eine breite Leserschaft hatten. Doch der Kollege vom britischen "Morning Star" bringt die Aufgabenstellung auf den Punkt, wenn er sagt, dass niemand von vergangener Größe leben kann. Es gilt, in der gegebenen Situation um neuen Einfluss zu ringen.