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•NEUES THEMA24.10.2019, 12:56 Uhr
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• Chile, Oktober 2019
Erklärung der Kommunistischen Partei Chiles
An diesem 23. Oktober haben Hunderttausende Chileninnen und Chilenen im ganzen Land und im Ausland bei Großdemonstrationen und Massenprotesten ihrer legitimen Unzufriedenheit Ausdruck gegeben und die Repression sowie die von der Regierung Piñera vor einigen Stunden angekündigten Almosen zurückgewiesen.
Es handelt sich um Demonstrationen, die in den vergangenen Jahrzehnten einmalig waren und im letzten Zyklus der chilenischen Geschichte vielleicht keinen Präzedenzfall haben.
Millionen gehen seit Tagen friedlich auf die Straße, und alles deutet darauf hin, dass die Proteste und die Unzufriedenheit nicht abnehmen. Sie wachsen an.
Chile fordert und ruft nach Veränderungen jetzt und nicht nach kosmetischen Maßnahmen.
Wir begrüßen und unterstützen den Aufruf des TISCHES DER SOZIALEN EINHEIT zum Generalstreik, der am morgigen Donnerstag weitergeht. Der heutige Tag war eine massenhafte Antwort auf das von Piñera angekündigte Maßnahmenpaket, das in der Bürgerschaft keinen Widerhall findet.
Wir glauben, dass die Parteien, die wirklich auf das Volk hören wollen, diesen breiten, demokratischen und pluralen Raum sozialer Bewegungen und Organisationen unterstützen sollten.
Der einzige legitime und demokratische Raum für den Dialog ist der, den der TISCH DER SOZIALEN EINHEIT unter gleichberechtigten Bedingungen anbietet. Die Regierung muss damit aufhören, ihn auszuschließen, wie sie es weiterhin versucht.
Bis heute hat die Regierung die Welt der Gesellschaft und des Volkes ausgeschlossen und an den Rand gedrängt. Es ist die Zeit gekommen, wirklich die nationalen Mehrheiten anzuhören.
Chile weist die Versuche zurück, ausgrenzende, sektiererische Abkommen der Spitzen durchzusetzen, die kosmetische und volksfeindliche Maßnahmen aufzwingen sollen.
Declaración pública Partido Comunista – ⁦@PCdeChile⁩ ⁦@jjcc_chile⁩ ⁦@Diputados_PC⁩ Link ...jetzt anmelden!
— Oficina de Prensa PC Chile (@PrensaPCdeChile) October 23, 2019
Von unserer Seite glauben wir, dass die konkreten und dringlichen Forderungen, die berücksichtigt werden müssen, die folgenden sind:
Ein neues Rentensystem, das die volle Würde garantiert. Keine weiteren AFP (private Rentenfonds; Anm. d. Übers.)
Würdige Gehälter, die oberhalb der Armutsgrenze liegen und im Rahmen von 40 Wochenstunden liegen – und nicht von 45, wie es die Regierung durchsetzen will.
Eine neue politische Verfassung durch eine Verfassunggebende Versammlung.
Einfrieren der Gesetzesprojekte, die nur den Reichsten nützen, wie der Steuerreform, der Rentenreform und der Arbeitsgesetze.
Ein neues Einkammern-Parlamentssystem, Verbesserung der Pluralität und Bürgervertretung mit Gehältern entsprechend der Skala des Systems öffentlicher Beamter.
Sofortige Beendigung des Ausnahmezustands. Ende der verbrecherischen Repression. Die Anklagen über Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt werden. Strenge Untersuchung der Repressionshandlungen sowie mit extremer Dringlichkeit die Präsenz internationaler Beobachter und UN-Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte in Chile.
Piñera muss antworten. Er und seine Regierung sind die verantwortlich für diese Krise. Wir betreiben eine Verfassungsklage wegen schwerwiegenden Verlassens des Rechtsstaates mit gravierenden Folgen für die Gesellschaft und die Demokratie.
Quelle: Kommunistische Partei Chiles / Übersetzung: RedGlobe
An diesem 23. Oktober haben Hunderttausende Chileninnen und Chilenen im ganzen Land und im Ausland bei Großdemonstrationen und Massenprotesten ihrer legitimen Unzufriedenheit Ausdruck gegeben und die Repression sowie die von der Regierung Piñera vor einigen Stunden angekündigten Almosen zurückgewiesen.
Es handelt sich um Demonstrationen, die in den vergangenen Jahrzehnten einmalig waren und im letzten Zyklus der chilenischen Geschichte vielleicht keinen Präzedenzfall haben.
Millionen gehen seit Tagen friedlich auf die Straße, und alles deutet darauf hin, dass die Proteste und die Unzufriedenheit nicht abnehmen. Sie wachsen an.
Chile fordert und ruft nach Veränderungen jetzt und nicht nach kosmetischen Maßnahmen.
Wir begrüßen und unterstützen den Aufruf des TISCHES DER SOZIALEN EINHEIT zum Generalstreik, der am morgigen Donnerstag weitergeht. Der heutige Tag war eine massenhafte Antwort auf das von Piñera angekündigte Maßnahmenpaket, das in der Bürgerschaft keinen Widerhall findet.
Wir glauben, dass die Parteien, die wirklich auf das Volk hören wollen, diesen breiten, demokratischen und pluralen Raum sozialer Bewegungen und Organisationen unterstützen sollten.
Der einzige legitime und demokratische Raum für den Dialog ist der, den der TISCH DER SOZIALEN EINHEIT unter gleichberechtigten Bedingungen anbietet. Die Regierung muss damit aufhören, ihn auszuschließen, wie sie es weiterhin versucht.
Bis heute hat die Regierung die Welt der Gesellschaft und des Volkes ausgeschlossen und an den Rand gedrängt. Es ist die Zeit gekommen, wirklich die nationalen Mehrheiten anzuhören.
Chile weist die Versuche zurück, ausgrenzende, sektiererische Abkommen der Spitzen durchzusetzen, die kosmetische und volksfeindliche Maßnahmen aufzwingen sollen.
Declaración pública Partido Comunista – ⁦@PCdeChile⁩ ⁦@jjcc_chile⁩ ⁦@Diputados_PC⁩ Link ...jetzt anmelden!
— Oficina de Prensa PC Chile (@PrensaPCdeChile) October 23, 2019
Von unserer Seite glauben wir, dass die konkreten und dringlichen Forderungen, die berücksichtigt werden müssen, die folgenden sind:
Ein neues Rentensystem, das die volle Würde garantiert. Keine weiteren AFP (private Rentenfonds; Anm. d. Übers.)
Würdige Gehälter, die oberhalb der Armutsgrenze liegen und im Rahmen von 40 Wochenstunden liegen – und nicht von 45, wie es die Regierung durchsetzen will.
Eine neue politische Verfassung durch eine Verfassunggebende Versammlung.
Einfrieren der Gesetzesprojekte, die nur den Reichsten nützen, wie der Steuerreform, der Rentenreform und der Arbeitsgesetze.
Ein neues Einkammern-Parlamentssystem, Verbesserung der Pluralität und Bürgervertretung mit Gehältern entsprechend der Skala des Systems öffentlicher Beamter.
Sofortige Beendigung des Ausnahmezustands. Ende der verbrecherischen Repression. Die Anklagen über Menschenrechtsverletzungen müssen aufgeklärt werden. Strenge Untersuchung der Repressionshandlungen sowie mit extremer Dringlichkeit die Präsenz internationaler Beobachter und UN-Organisationen zur Verteidigung der Menschenrechte in Chile.
Piñera muss antworten. Er und seine Regierung sind die verantwortlich für diese Krise. Wir betreiben eine Verfassungsklage wegen schwerwiegenden Verlassens des Rechtsstaates mit gravierenden Folgen für die Gesellschaft und die Demokratie.
Quelle: Kommunistische Partei Chiles / Übersetzung: RedGlobe
•NEUER BEITRAG24.10.2019, 12:57 Uhr
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Chile: Keine Anfüher*innen und "Wut gegen die staatliche Autorität" - Lower Class Magazine
Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch die Bevölerung trotzt der Polizeigewalt: Allein gestern, Dienstag, waren allein in der Hauptstadt Santiago mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Chris Ko hat für’s lcm ein Interview mit Camilo González, der aktiv in der Studierendenbewegung in Valparaíso ist, geführt und mit ihm über die Hintergründe des Protests gesprochen
In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Was ist da gerade los in Chile?
Was gerade in Chile passiert, ist der größte Aufstand seit dem Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Der Neoliberalismus ist während der „Demokratie“ noch stärker geworden. Und jetzt haben wir hier die krassesten Ausschreitungen und sie werden auch nicht nur von Studierenden getragen.
Am Anfang sah es ja tatsächlich so aus, als wenn vor allem Schüler_innen und Studierende protestiert haben. Hat sich das jetzt auf andere Gruppen ausgeweitet, z.b. die ganzen verarmten und diskriminierten Migrant_innen aus Venezuela oder Haiti?
Ja, alles hat damit angefangen, dass die Regierung die Ticketpreise für die U-Bahn um 30 Chilenische Pesos (weniger als 5 Eurocent) erhöhen wollte. Das klingt vielleicht erst mal nicht nach viel, aber das Leben in Chile ist sowieso schon sehr teuer, die Löhne gering. Deshalb fingen die Studierenden an über die Drehkreuze zu springen und die Polizei ist dann dagegen vorgegangen. Daraufhin gab es Aufrufe, massenhaft ohne Ticket zu fahren, die Situation heizte sich auf und am Freitag begannen die Leute in den U-Bahn-Stationen zu randalieren. In kurzer Zeit entwickelte sich dies zu einem Aufstand, in dessen Verlauf viele Stationen angezündet und zerstört wurden. Samstag waren dann wirklich viele Leute auf den Straßen. Hauptsächlich junge Menschen, aber auch mehr und mehr ältere. Es gab weiter Ausschreitungen und auch Plünderungen von Supermärkten, Shopping Malls, Banken, Autohäuser etc. Tatsächlich haben ein paar Migrant_innen an friedlichen Demonstrationen in Santiago teilgenommen, aber diese Revolte speist sich vor allem aus der lang angestauten Wut in der chilenischen Gesellschaft: Der Sozialpakt ist gründlich delegitimiert.
Studierende wären von den neuen Ticketpreisen gar nicht betroffen gewesen. Warum seid ihr trotzdem bei den Protesten ganz vorne mit dabei?
Es stimmt, dass Studierende nicht betroffen wären, aber die Erhöhung war auch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie gesagt, die Unzufriedenheit im neoliberalen Chile ist groß. Nicht nur die Wirtschaft, alle Lebensbereiche sind prekär. Diese neoliberale Logik, dass um jeden Preis Profite erhöht und Kosten gesenkt werden müssen, ist fester Bestandteil des sozialen Lebens geworden. Überall herrscht ein extremer Individualismus. Studierende und Schüler_innen können sich noch organisieren und Bildungsproteste haben hier ja auch eine starke Tradition, vor allem in den öffentlichen Universitäten und Schulen. Aber Arbeiter_innen haben kaum noch Möglichkeit dazu, weil es in Chile kaum Sicherheit für die Arbeiter_innenklasse gibt.
Die Regierung hat die Erhöhung bereits zurückgezogen, aber die Proteste sind mit einem Generalstreik am Montag weiter gegangen. Was erwartest du für die nächste Zeit?
Der Generalstreik wurde nicht vom größten Gewerkschaftsverband, der CUT (Central unitaria de trabajadores), unterstützt. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen und Bergbaugewerkschaften aus dem Norden haben dazu aufgerufen. Aber davon ab ist es kein richtiger Generalstreik.
Meiner Meinung nach waren die Proteste am Wochenende vor allem von zwei Gruppen getragen:
Die politischen Protestierenden und das randalierende „Lumpenproletariat“ (in Chile wird tatsächlich auch von „Lumpen“ in den Medien gesprochen, haha). Diese Trennung soll nur den unterschiedlichen Grad der politischen Beweggründe und des Austauschs mit der Community deutlich machen.
Erstere haben geplündert und die Beute geteilt, so Robin Hood mäßig, während die Menschen die besonders arm und prekär leben, einfach oft die Möglichkeit etwas umsonst zu bekommen genutzt haben. Das umfasst sowohl Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Klopapier, als auch Alkohol oder große Fernseher. Frei nach dem Motto: „Wenn andere das können, kann ich das auch!“.
In jedem Fall sind beide aber Ausdruck der Wut gegen die staatliche Autorität und insbesondere die Polizei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es keine Anführer_innen in den Demonstrationen gibt. Auch haben politische Parteien nichts zu sagen. Die linken Parteien haben generell kein politisches Projekt, mit dem sie die zwei oben erwähnten Gruppen ansprechen können.
Was sind die weiteren Forderungen, nachdem die Preiserhöhungen verhindert wurden?
Weitere Forderungen haben sich noch nicht richtig herauskristallisiert. Da die Bewegung keine Anführer_innen hat, steht erst mal die Ablehnung der Regierung im Mittelpunkt. Die Oppositionsparteien haben keine politische Strategie, aber am Montag hat die Hafenarbeitergewerkschaft angefangen zu streiken, ebenso die Arbeiter_innen von Minera Escondida, der größten Kupfermine in Chile. In erster Linie tun sie das, damit die Armee wieder abgezogen wird.
Meiner Meinung nach, ist es aber wirklich Zeit, dass die Arbeiter_innen in den Gewerkschaften endlich ihre Rolle übernehmen und damit anfangen die Arbeiter_innenklasse auf die Straße zu bringen.
Dass nach der Erklärung des Ausnahmezustandes, die Armee auf die Straßen geschickt wurde erinnert natürlich an die sehr bekannten Bilder vom Putsch 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur. Nichtsdestotrotz gehen die Menschen auf die Straße. Was für Gefühle und Reaktionen erzeugt diese Situation in der Bevölkerung? Gibt es Konfrontationen zwischen Armee und Demonstrant_innen?
Für ältere Menschen ist es eine krasse Erfahrung, dass wieder Panzer über die Straßen rollen. Der Sound von Helikoptern über der Stadt und die Arme wieder in den Städten patrouillieren zu sehen, hat natürlich eine gewaltvolle, symbolische Aufladung. Aber für die Jüngeren, die die Diktatur nicht mehr aktiv mitbekommen haben, geht es um etwas anderes. Insbesondere für die, die bei der Schüler_innenbewegung 2006 und bei den Bildungsprotesten 2011, wo wir gestreikt und die Unis für fünf Monate besetzt haben, dabei waren. Und jetzt haben wir diese Situation. Es ist wie eine Spirale des politischen Konflikts, aber wir warten immer noch darauf, dass sich diejenigen einmischen, die am meisten unter der Diktatur gelitten haben: die Arbeiter_innenklasse.
Es wird immer wieder skandiert, dass die Diktatur noch andauert. Inwiefern beeinflusst sie das Land noch immer?
Die Diktatur ist präsent, weil wir immer noch unter der Verfassung von 1980 leben. Im Zuge dessen wurden viele Teile der produktiven Sektoren in Chile privatisiert. Das betrifft vor allem die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem, aber auch Bodenschätze und sogar das Trinkwasser. Auch untersteht die Armee nicht den zivilen Gerichten. Deshalb gibt es immer noch keine Gerechtigkeit für die zahlreichen Verbrechen, die unter der Diktatur stattfanden. Armee und Polizei haben in dieser Zeit gefoltert, gemordet und mehr als 1200 Menschen verschwinden lassen. Bis heute ist oft nicht klar, wo ihre Körper sind und was genau mit ihnen passiert ist. Die wenigen Soldaten die verurteilt worden sind, sitzen ihre Strafen in speziellen Gefängnissen ab und genießen dort viele Privilegien.
Während Angehörige der Armee eine vergleichsweise hohe Pension vom Staat erhalten, erhalten Rentner_innen bloß einen kleinen, miserablen Betrag aus dem privatisierten Rentensystem … Scheiss auf die Armee!
Du hast schon die letzte große Protestwelle in Chile, die Bildungsstreiks 2011/2012, angesprochen. Damals war auch der rechte Politiker Sebastián Piñera Präsident. Durch die damalige Weigerung der Regierung mit den Studierenden zu sprechen und die brutale Repression, hat er einen immensen Beliebtheitsverlust in der Bevölkerung einstecken müssen. Nun werden wieder Rücktrittsforderungen laut. Wie konnte er überhaupt wieder Präsident werden?
Piñera wurde hauptsächlich aus zwei Gründen gewählt: In seiner ersten Amtszeit, hat er zusammen mit den Medien eine Erzählung entwickelt, dass mit dem anderen (mitte-“links“ und auch neoliberalen) Kandidaten, Chile wirtschaftlich zu einem zweiten Venezuela werden würde. Die Leute fingen sogar an von „Chilezuela“ zu sprechen. Bemerkenswerterweise waren dann aber die Warteschlangen in den Geschäften in der Mitte der Amtszeit von Piñera am längsten.
In seiner zweiten Amtszeit hat er mehr Jobs und höhere Löhne versprochen. Die Kultur dieses Landes ist so neoliberal geprägt, dass sich viele Leute weniger von sozialen Rechten oder öffentlicher Gesundheitsversorgung und Bildung angesprochen fühlen, dafür aber umso mehr von einem hohen Gehalt. Bei der starken alltäglichen Konkurrenz und den vergleichsweise geringen persönlichen finanziellen Ressourcen vieler Chilen_innen, hat dieser Wahlkampf leider gut funktioniert.
Scheinbar fand der Aufstand vor allem in Chiles Hauptstadt Santiago und in ein paar größeren Städten statt. Wie sieht es gerade im Rest des Landes aus?
Die Demonstrationen haben in Santiago begonnen und sind schnell auch hier nach Valparaíso und nach Concepción übergeschwappt. Dies waren auch die ersten Regionen wo der Ausnahmezustand und damit einhergehende Ausgangssperren verhängt wurden. Danach breitete sich der Aufstand von Norden nach Süden aus. Überall gibt es große Riots und Plünderungen, sogar im eher dünn besiedelten Süden Chiles.
Chile: Keine Anfüher*innen und "Wut gegen die staatliche Autorität" - Lower Class Magazine
Der Aufstand in Chile geht seit Samstag unvermindert weiter. Militär und Polizei gehen brutal gegen die protestierende Bevölkerung vor. Doch die Bevölerung trotzt der Polizeigewalt: Allein gestern, Dienstag, waren allein in der Hauptstadt Santiago mehr als 100.000 Menschen auf der Straße. Chris Ko hat für’s lcm ein Interview mit Camilo González, der aktiv in der Studierendenbewegung in Valparaíso ist, geführt und mit ihm über die Hintergründe des Protests gesprochen
In den letzten Tagen überschlugen sich die Ereignisse. Was ist da gerade los in Chile?
Was gerade in Chile passiert, ist der größte Aufstand seit dem Ende der Diktatur vor 30 Jahren. Der Neoliberalismus ist während der „Demokratie“ noch stärker geworden. Und jetzt haben wir hier die krassesten Ausschreitungen und sie werden auch nicht nur von Studierenden getragen.
Am Anfang sah es ja tatsächlich so aus, als wenn vor allem Schüler_innen und Studierende protestiert haben. Hat sich das jetzt auf andere Gruppen ausgeweitet, z.b. die ganzen verarmten und diskriminierten Migrant_innen aus Venezuela oder Haiti?
Ja, alles hat damit angefangen, dass die Regierung die Ticketpreise für die U-Bahn um 30 Chilenische Pesos (weniger als 5 Eurocent) erhöhen wollte. Das klingt vielleicht erst mal nicht nach viel, aber das Leben in Chile ist sowieso schon sehr teuer, die Löhne gering. Deshalb fingen die Studierenden an über die Drehkreuze zu springen und die Polizei ist dann dagegen vorgegangen. Daraufhin gab es Aufrufe, massenhaft ohne Ticket zu fahren, die Situation heizte sich auf und am Freitag begannen die Leute in den U-Bahn-Stationen zu randalieren. In kurzer Zeit entwickelte sich dies zu einem Aufstand, in dessen Verlauf viele Stationen angezündet und zerstört wurden. Samstag waren dann wirklich viele Leute auf den Straßen. Hauptsächlich junge Menschen, aber auch mehr und mehr ältere. Es gab weiter Ausschreitungen und auch Plünderungen von Supermärkten, Shopping Malls, Banken, Autohäuser etc. Tatsächlich haben ein paar Migrant_innen an friedlichen Demonstrationen in Santiago teilgenommen, aber diese Revolte speist sich vor allem aus der lang angestauten Wut in der chilenischen Gesellschaft: Der Sozialpakt ist gründlich delegitimiert.
Studierende wären von den neuen Ticketpreisen gar nicht betroffen gewesen. Warum seid ihr trotzdem bei den Protesten ganz vorne mit dabei?
Es stimmt, dass Studierende nicht betroffen wären, aber die Erhöhung war auch nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Wie gesagt, die Unzufriedenheit im neoliberalen Chile ist groß. Nicht nur die Wirtschaft, alle Lebensbereiche sind prekär. Diese neoliberale Logik, dass um jeden Preis Profite erhöht und Kosten gesenkt werden müssen, ist fester Bestandteil des sozialen Lebens geworden. Überall herrscht ein extremer Individualismus. Studierende und Schüler_innen können sich noch organisieren und Bildungsproteste haben hier ja auch eine starke Tradition, vor allem in den öffentlichen Universitäten und Schulen. Aber Arbeiter_innen haben kaum noch Möglichkeit dazu, weil es in Chile kaum Sicherheit für die Arbeiter_innenklasse gibt.
Die Regierung hat die Erhöhung bereits zurückgezogen, aber die Proteste sind mit einem Generalstreik am Montag weiter gegangen. Was erwartest du für die nächste Zeit?
Der Generalstreik wurde nicht vom größten Gewerkschaftsverband, der CUT (Central unitaria de trabajadores), unterstützt. Die Gewerkschaft der Hafenarbeiter_innen und Bergbaugewerkschaften aus dem Norden haben dazu aufgerufen. Aber davon ab ist es kein richtiger Generalstreik.
Meiner Meinung nach waren die Proteste am Wochenende vor allem von zwei Gruppen getragen:
Die politischen Protestierenden und das randalierende „Lumpenproletariat“ (in Chile wird tatsächlich auch von „Lumpen“ in den Medien gesprochen, haha). Diese Trennung soll nur den unterschiedlichen Grad der politischen Beweggründe und des Austauschs mit der Community deutlich machen.
Erstere haben geplündert und die Beute geteilt, so Robin Hood mäßig, während die Menschen die besonders arm und prekär leben, einfach oft die Möglichkeit etwas umsonst zu bekommen genutzt haben. Das umfasst sowohl Dinge des alltäglichen Bedarfs wie Klopapier, als auch Alkohol oder große Fernseher. Frei nach dem Motto: „Wenn andere das können, kann ich das auch!“.
In jedem Fall sind beide aber Ausdruck der Wut gegen die staatliche Autorität und insbesondere die Polizei.
Ein anderer wichtiger Punkt ist, dass es keine Anführer_innen in den Demonstrationen gibt. Auch haben politische Parteien nichts zu sagen. Die linken Parteien haben generell kein politisches Projekt, mit dem sie die zwei oben erwähnten Gruppen ansprechen können.
Was sind die weiteren Forderungen, nachdem die Preiserhöhungen verhindert wurden?
Weitere Forderungen haben sich noch nicht richtig herauskristallisiert. Da die Bewegung keine Anführer_innen hat, steht erst mal die Ablehnung der Regierung im Mittelpunkt. Die Oppositionsparteien haben keine politische Strategie, aber am Montag hat die Hafenarbeitergewerkschaft angefangen zu streiken, ebenso die Arbeiter_innen von Minera Escondida, der größten Kupfermine in Chile. In erster Linie tun sie das, damit die Armee wieder abgezogen wird.
Meiner Meinung nach, ist es aber wirklich Zeit, dass die Arbeiter_innen in den Gewerkschaften endlich ihre Rolle übernehmen und damit anfangen die Arbeiter_innenklasse auf die Straße zu bringen.
Dass nach der Erklärung des Ausnahmezustandes, die Armee auf die Straßen geschickt wurde erinnert natürlich an die sehr bekannten Bilder vom Putsch 1973 und der darauf folgenden Militärdiktatur. Nichtsdestotrotz gehen die Menschen auf die Straße. Was für Gefühle und Reaktionen erzeugt diese Situation in der Bevölkerung? Gibt es Konfrontationen zwischen Armee und Demonstrant_innen?
Für ältere Menschen ist es eine krasse Erfahrung, dass wieder Panzer über die Straßen rollen. Der Sound von Helikoptern über der Stadt und die Arme wieder in den Städten patrouillieren zu sehen, hat natürlich eine gewaltvolle, symbolische Aufladung. Aber für die Jüngeren, die die Diktatur nicht mehr aktiv mitbekommen haben, geht es um etwas anderes. Insbesondere für die, die bei der Schüler_innenbewegung 2006 und bei den Bildungsprotesten 2011, wo wir gestreikt und die Unis für fünf Monate besetzt haben, dabei waren. Und jetzt haben wir diese Situation. Es ist wie eine Spirale des politischen Konflikts, aber wir warten immer noch darauf, dass sich diejenigen einmischen, die am meisten unter der Diktatur gelitten haben: die Arbeiter_innenklasse.
Es wird immer wieder skandiert, dass die Diktatur noch andauert. Inwiefern beeinflusst sie das Land noch immer?
Die Diktatur ist präsent, weil wir immer noch unter der Verfassung von 1980 leben. Im Zuge dessen wurden viele Teile der produktiven Sektoren in Chile privatisiert. Das betrifft vor allem die Gesundheitsversorgung und das Bildungssystem, aber auch Bodenschätze und sogar das Trinkwasser. Auch untersteht die Armee nicht den zivilen Gerichten. Deshalb gibt es immer noch keine Gerechtigkeit für die zahlreichen Verbrechen, die unter der Diktatur stattfanden. Armee und Polizei haben in dieser Zeit gefoltert, gemordet und mehr als 1200 Menschen verschwinden lassen. Bis heute ist oft nicht klar, wo ihre Körper sind und was genau mit ihnen passiert ist. Die wenigen Soldaten die verurteilt worden sind, sitzen ihre Strafen in speziellen Gefängnissen ab und genießen dort viele Privilegien.
Während Angehörige der Armee eine vergleichsweise hohe Pension vom Staat erhalten, erhalten Rentner_innen bloß einen kleinen, miserablen Betrag aus dem privatisierten Rentensystem … Scheiss auf die Armee!
Du hast schon die letzte große Protestwelle in Chile, die Bildungsstreiks 2011/2012, angesprochen. Damals war auch der rechte Politiker Sebastián Piñera Präsident. Durch die damalige Weigerung der Regierung mit den Studierenden zu sprechen und die brutale Repression, hat er einen immensen Beliebtheitsverlust in der Bevölkerung einstecken müssen. Nun werden wieder Rücktrittsforderungen laut. Wie konnte er überhaupt wieder Präsident werden?
Piñera wurde hauptsächlich aus zwei Gründen gewählt: In seiner ersten Amtszeit, hat er zusammen mit den Medien eine Erzählung entwickelt, dass mit dem anderen (mitte-“links“ und auch neoliberalen) Kandidaten, Chile wirtschaftlich zu einem zweiten Venezuela werden würde. Die Leute fingen sogar an von „Chilezuela“ zu sprechen. Bemerkenswerterweise waren dann aber die Warteschlangen in den Geschäften in der Mitte der Amtszeit von Piñera am längsten.
In seiner zweiten Amtszeit hat er mehr Jobs und höhere Löhne versprochen. Die Kultur dieses Landes ist so neoliberal geprägt, dass sich viele Leute weniger von sozialen Rechten oder öffentlicher Gesundheitsversorgung und Bildung angesprochen fühlen, dafür aber umso mehr von einem hohen Gehalt. Bei der starken alltäglichen Konkurrenz und den vergleichsweise geringen persönlichen finanziellen Ressourcen vieler Chilen_innen, hat dieser Wahlkampf leider gut funktioniert.
Scheinbar fand der Aufstand vor allem in Chiles Hauptstadt Santiago und in ein paar größeren Städten statt. Wie sieht es gerade im Rest des Landes aus?
Die Demonstrationen haben in Santiago begonnen und sind schnell auch hier nach Valparaíso und nach Concepción übergeschwappt. Dies waren auch die ersten Regionen wo der Ausnahmezustand und damit einhergehende Ausgangssperren verhängt wurden. Danach breitete sich der Aufstand von Norden nach Süden aus. Überall gibt es große Riots und Plünderungen, sogar im eher dünn besiedelten Süden Chiles.
•NEUER BEITRAG24.10.2019, 12:58 Uhr
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mischa | |
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In jüngerer Zeit gab es öfter Aufstände gegen neoliberale Regierungen in Lateinamerika. Jetzt in Chile, davor in Ecuador, Haiti, Puerto Rico oder auch letztes Jahr in Argentinien. Was denkst du warum passiert das gerade? Meinst du, wir könnten noch sowas wie einen lateinamerikanischen Frühling erleben?
Ich denke, man kann sagen, dass der Kapitalismus der Grund für all das Unbehagen ist. Wenn ich sehe, wie Menschen Supermärkte plündern, dann ist das für mich Klassenkampf. Auch wenn es in erster Linie darum geht, Sachen umsonst zu bekommen. Denn hier kommt es durchaus vor, dass Menschen Rechnungen über umgerechnet 15 Euro für ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs in zwölf Raten abstottern müssen. Das ist super brutal. Oder wenn ein 75-jähriger Arbeiter als Wachmann schuften muss, weil seine kümmerliche Rente nicht ausreicht, um zu leben. Wenn du in die müden Gesichter der Menschen schaust, dann merkst du, dass die Wut nicht bloß aus der Erhöhung der Ticketpreise resultiert. Die Ausbeutung ist riesig.
In den letzten Jahren wurden Länder wie Argentinien oder Ecuador wieder deutlich neoliberaler und wir konnten sehen, wie zerstörerisch das ist. Viele sind gerade nostalgisch und wünschen sich die Zeit der progressiven Regierungen in Lateinamerika zurück. Sie verkennen dabei aber, dass es auch in dieser Zeit kein ernsthaftes Interesse gab, den Kapitalismus zu überwinden und die Autonomie der Bevölkerung zu stärken. Stattdessen verfestigte sich die Abhängigkeit von Rohstoffen und der Führungsanspruch von Präsidenten.
Jetzt gerade gibt es keine Anführer_innen im Aufstand. Ich denke, die Menschen sollten in ihre eigene Kraft vertrauen. Ich würde mich freuen, wenn sich die verschiedenen nationalen Kämpfe verbinden würden, aber um wirklich zu gewinnen, müssen wir zuerst das neoliberale Denken aus unseren Köpfen und Herzen drängen.
#Titelbild: Nachdem das Militär aus nächster Nähe auf eine Demo in Santiago schoss, haute ein Demonstrant einem Soldaten ins Gesicht. frentefotografico
Ich denke, man kann sagen, dass der Kapitalismus der Grund für all das Unbehagen ist. Wenn ich sehe, wie Menschen Supermärkte plündern, dann ist das für mich Klassenkampf. Auch wenn es in erster Linie darum geht, Sachen umsonst zu bekommen. Denn hier kommt es durchaus vor, dass Menschen Rechnungen über umgerechnet 15 Euro für ganz normale Artikel des täglichen Bedarfs in zwölf Raten abstottern müssen. Das ist super brutal. Oder wenn ein 75-jähriger Arbeiter als Wachmann schuften muss, weil seine kümmerliche Rente nicht ausreicht, um zu leben. Wenn du in die müden Gesichter der Menschen schaust, dann merkst du, dass die Wut nicht bloß aus der Erhöhung der Ticketpreise resultiert. Die Ausbeutung ist riesig.
In den letzten Jahren wurden Länder wie Argentinien oder Ecuador wieder deutlich neoliberaler und wir konnten sehen, wie zerstörerisch das ist. Viele sind gerade nostalgisch und wünschen sich die Zeit der progressiven Regierungen in Lateinamerika zurück. Sie verkennen dabei aber, dass es auch in dieser Zeit kein ernsthaftes Interesse gab, den Kapitalismus zu überwinden und die Autonomie der Bevölkerung zu stärken. Stattdessen verfestigte sich die Abhängigkeit von Rohstoffen und der Führungsanspruch von Präsidenten.
Jetzt gerade gibt es keine Anführer_innen im Aufstand. Ich denke, die Menschen sollten in ihre eigene Kraft vertrauen. Ich würde mich freuen, wenn sich die verschiedenen nationalen Kämpfe verbinden würden, aber um wirklich zu gewinnen, müssen wir zuerst das neoliberale Denken aus unseren Köpfen und Herzen drängen.
#Titelbild: Nachdem das Militär aus nächster Nähe auf eine Demo in Santiago schoss, haute ein Demonstrant einem Soldaten ins Gesicht. frentefotografico
•NEUER BEITRAG27.10.2019, 20:14 Uhr
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FPeregrin | |
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Chile, Oktober 2019
jW morgen:
Oktoberrevolution
Aufstand in Chile
Von André Scheer
So hatte es sich der damalige Nationale Sicherheitsberater der USA, John Bolton, nicht vorgestellt, als er im Februar verkündete, dass Amerika bald der »erste freie Kontinent der Welt« sein werde. Es müsse nur noch die »Troika der Tyrannei« beseitigt werden: die »Regime« in Venezuela, Kuba und Nicaragua. Keine neun Monate später sind es nicht mehr die linken Regierungen Lateinamerikas, deren Sturz unmittelbar bevorzustehen scheint – es wanken die engsten Verbündeten Washingtons.
Vor wenigen Wochen noch lobte Chiles Präsident Sebastián Piñera in der britischen BBC sein Land als eine »Oase« inmitten eines unruhigen Kontinents. Kurz darauf sah er sich im »Krieg gegen einen mächtigen Feind«. Dieser war und ist niemand anderes als sein eigenes Volk. Als die Staatsmacht einen der üblichen Proteste gegen die Erhöhung der Fahrpreise bei der U-Bahn in der chilenischen Hauptstadt brutal niederschlagen ließ und das Militär gegen die Demonstranten einsetzte, explodierte die angestaute Wut. Auf einmal waren es nicht mehr nur Studierende und linke Gruppen oder die seit Jahrzehnten ausgegrenzten und kriminalisierten Mapuche, die sich der Staatsmacht entgegenstellten. Mehr als eine Million Menschen am Freitag allein in Santiago auf der Straße, zuvor ein zweitägiger Generalstreik, Ausnahmezustand und nächtliche Ausgangssperre – aus dem »Modell« des Neoliberalismus wurde quasi über Nacht ein Beispiel dafür, wie schnell das Schreckenswort »Revolution« auf die Tagesordnung eines kapitalistischen Staates zurückkehren kann.
»Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre« – die Wut richtet sich gegen ein System, dessen Regeln und Grenzen von der Diktatur festgelegt wurden. Auch 30 Jahre nach dem Abtritt Pinochets gilt in Chile noch immer die 1980 beschlossene Verfassung. Jahrzehntelang flossen zehn Prozent aller Einnahmen aus dem Kupferverkauf direkt in die Kassen der Streitkräfte. Ein von den Militärs durchgesetztes Wahlrecht garantiert den reaktionären Rechtsparteien überproportionale Vertretung in den Parlamenten.
Keine der sozialdemokratisch geführten Regierungen vergangener Jahre, auch nicht die der heutigen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, hat sich an grundsätzliche Veränderungen herangetraut. Keine hat eine echte Abkehr vom Neoliberalismus gewagt. Deshalb richtet sich die Ablehnung vieler Demonstranten heute nicht nur gegen die regierende Rechte, sondern auch gegen die Linksparteien. Sie werden nicht als Alternative wahrgenommen, weil sie lange das jeweils »kleinere Übel« mitgetragen haben.
Möglicherweise wird es der herrschenden Klasse gelingen, die Lage durch Personalrochaden und einige soziale Maßnahmen vorübergehend wieder zu stabilisieren. Doch in Chile gibt es künftig ein »Vorher« und ein »Nachher«: Dieser Oktober 2019 hat bereits jetzt Geschichte geschrieben.
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Oktoberrevolution
Aufstand in Chile
Von André Scheer
So hatte es sich der damalige Nationale Sicherheitsberater der USA, John Bolton, nicht vorgestellt, als er im Februar verkündete, dass Amerika bald der »erste freie Kontinent der Welt« sein werde. Es müsse nur noch die »Troika der Tyrannei« beseitigt werden: die »Regime« in Venezuela, Kuba und Nicaragua. Keine neun Monate später sind es nicht mehr die linken Regierungen Lateinamerikas, deren Sturz unmittelbar bevorzustehen scheint – es wanken die engsten Verbündeten Washingtons.
Vor wenigen Wochen noch lobte Chiles Präsident Sebastián Piñera in der britischen BBC sein Land als eine »Oase« inmitten eines unruhigen Kontinents. Kurz darauf sah er sich im »Krieg gegen einen mächtigen Feind«. Dieser war und ist niemand anderes als sein eigenes Volk. Als die Staatsmacht einen der üblichen Proteste gegen die Erhöhung der Fahrpreise bei der U-Bahn in der chilenischen Hauptstadt brutal niederschlagen ließ und das Militär gegen die Demonstranten einsetzte, explodierte die angestaute Wut. Auf einmal waren es nicht mehr nur Studierende und linke Gruppen oder die seit Jahrzehnten ausgegrenzten und kriminalisierten Mapuche, die sich der Staatsmacht entgegenstellten. Mehr als eine Million Menschen am Freitag allein in Santiago auf der Straße, zuvor ein zweitägiger Generalstreik, Ausnahmezustand und nächtliche Ausgangssperre – aus dem »Modell« des Neoliberalismus wurde quasi über Nacht ein Beispiel dafür, wie schnell das Schreckenswort »Revolution« auf die Tagesordnung eines kapitalistischen Staates zurückkehren kann.
»Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre« – die Wut richtet sich gegen ein System, dessen Regeln und Grenzen von der Diktatur festgelegt wurden. Auch 30 Jahre nach dem Abtritt Pinochets gilt in Chile noch immer die 1980 beschlossene Verfassung. Jahrzehntelang flossen zehn Prozent aller Einnahmen aus dem Kupferverkauf direkt in die Kassen der Streitkräfte. Ein von den Militärs durchgesetztes Wahlrecht garantiert den reaktionären Rechtsparteien überproportionale Vertretung in den Parlamenten.
Keine der sozialdemokratisch geführten Regierungen vergangener Jahre, auch nicht die der heutigen UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, hat sich an grundsätzliche Veränderungen herangetraut. Keine hat eine echte Abkehr vom Neoliberalismus gewagt. Deshalb richtet sich die Ablehnung vieler Demonstranten heute nicht nur gegen die regierende Rechte, sondern auch gegen die Linksparteien. Sie werden nicht als Alternative wahrgenommen, weil sie lange das jeweils »kleinere Übel« mitgetragen haben.
Möglicherweise wird es der herrschenden Klasse gelingen, die Lage durch Personalrochaden und einige soziale Maßnahmen vorübergehend wieder zu stabilisieren. Doch in Chile gibt es künftig ein »Vorher« und ein »Nachher«: Dieser Oktober 2019 hat bereits jetzt Geschichte geschrieben.
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•NEUER BEITRAG29.10.2019, 13:56 Uhr
EDIT: arktika
29.10.2019, 13:59 Uhr
29.10.2019, 13:59 Uhr
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Chile, Oktober 2019
Zur aktuellen Repression gg die Proteste und deren langandauernde Kontinuität seit der Pinochet-Diktatur gibt es auf amerika21 einen Artikel von Verena del Carmen Koch Santibanez vom 27. Oktober. (Verena del Carmen Koch Santibáñez ist Enkelin von politisch Geflüchteten aus Chile und Tochter einer Exil-Chilenin; feministische Aktivistin und Sozialarbeiterin. 1991 in Deutschland geboren, lebte sie viele Jahre in Chile, unter anderem in Temuko, wo sie im Observatorio Regional de Equidad en Salud según Género y Pueblo Mapuche (Regionale Beobachtungsstelle zur Gleichstellung im Gesundheitssektor gemäß Gender und Mapuche) der Universidad de La Frontera arbeitete und ein Masterstudium in Gemeinwesenpsychologie (Psicología comunitaria) absolvierte. Seit 2019 befindet sie sich wieder in Deutschland.)
Chile: Die Kriminalisierung des sozialen Widerstands
Vor einer Woche rief Präsident Sebastian Piñera den Notstand aus und verhängte in einigen Städten eine Ausgangssperre. Das Land sei im Krieg, so der Präsident
"Estamos en guerra contra un enemigo poderoso" – "Wir sind im Krieg gegen einen mächtigen Feind".
Der Notstand ist ausgerufen. Ausgangssperren werden verhängt.
Cacerolazos1 - Der soziale Widerstand bleibt aufrecht.
Militärs mit Maschinengewehren bewaffnet.
Es fallen Schüsse auf Demonstranten.
Nächtliche "Festnahmen" durch Polizisten in Zivil.
Folterpraktiken in Polizeirevieren.
Menschen, deren Aufenthaltsort unklar ist. ?Donde estan?
Panzer, Tränengas.
Wut! Angst.
Bilder und Worte, die uns zurückwerfen in die Zeit der Militärdiktatur unter Diktator Augusto Pinochet (1973-1990). Doch diese Beschreibungen sind heute erneut Realität in Chile.
Laut dem Nationalen Menschenrechtsinstitut kam es im Lauf der Proteste bisher zu 2.686 Festnahmen, darunter auch Kinder, 584 Menschen wurden verletzt, 5 Menschen starben durch staatliche Gewalt (Stand 24.10.2019, 14.00 Uhr ). Auch liegen dem Institut Anzeigen wegen Entblößungen und sexualisierter Gewalt und deren Androhung gegenüber Frauen, wegen körperlicher und psychischer Gewalt, Folter und sexueller Belästigung seitens staatlicher Akteure vor.
Kriminalisierung der sozialen Proteste
Vor einer Woche rief Chiles Präsident Pinera den Notstand aus und verhängte in einigen Städten eine Ausgangssperre. Das Land sei im Krieg, so der Präsident.
Bei den Protesten geht es um weit mehr als die Erhöhung der Metro-Fahrkartenpreise. Es ist die Prekarisierung des Lebens in einem neokapitalistischen und neokolonialen System, das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte beschneidet und Rechte privatisiert. Doch was die konventionellen Medien zeigen, ist ein anderes Bild. Nichts ist zu sehen von Polizisten, die Supermärkte und Banken in Flammen aufgehen lassen. Keine Berichterstattung in traditionellen Medien über den Exzess von Staatsgewalt, der bereits zu Toten geführt hat. Stattdessen werden Schlangen vor Supermärkten gezeigt, Plünderungen und Nachbarn, die ihre Häuser verteidigen. Eine Informationsblockade, die den Einsatz von Gewalt auf staatlicher Seite legitimieren soll?
Doch was sind die Beobachtungen vor Ort? Was zeigen Menschen über soziale Netzwerke, was die unabhängige Presse?
In Temuco, Wallmapu, ein Territorium, das konstanter Militarisierung ausgesetzt ist und in dem staatliche Gewalt gegenüber den indigenen Mapuche-Gemeinden tagtäglich stattfindet, wird von einer deutlichen Zunahme der Gewalt berichtet. "Gestern Nacht, sehr spät, sind die Militärs in unser Viertel eingedrungen, um zu unterdrücken, und nahmen willkürlich Menschen mit, die ihnen über den Weg liefen”, informiert eine Mapuche-Aktivistin über die Situation in Temuko.
Die Kriminalisierung des sozialen Widerstandes ist eine Praxis, die in Wallmapu zum gängigen Repertoire staatlicher Gewalt gehört: die "Operacion Huracan"2, die Installation des Militärkommandos "Jungla" und im Zuge dessen die Ermordung des Mapuche-Aktivisten Camilo Catrillanca3, der politische Mord an der Mapuche-Aktivistin Macarena Valdes4.
Der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte indigener Völker, James Anaya, bereiste Chile im Jahr 2009, um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, und berichtete vom exzessiven Gebrauch von Schusswaffen und Tränengas sowie körperlicher Gewalt und Beleidigungen seitens der Polizei gegenüber Mapuche5. In der Region Araukarien wird seit Jahren das Antiterrorgesetz (Ley No. 18314) auf die Mapuche-Bevölkerung angewandt. So finden in diesem Zuge regelmäßig widerrechtliche Hausdurchsuchungen statt, Tränengasangriffe auf Mapuche-Schulen und die Verfolgung und Einschüchterung von Aktivisten durch die ständige Präsenz von militarisierten Spezialeinheiten. Und dennoch gehen die Menschen, Chilenen und Mapuche, in Wallmapu auf die Straßen, feministische Anwältinnen stellen sich in den Dienst der Zivilbevölkerung, das Regionale Menschenrechtsinstitut ist in den Polizeirevieren anwesend, denn nur ihre Anwälte dürfen die Inhaftierten sprechen.
"El fantasma de la dictadura volvio con todo"
LKW-Fahrer informierten am Dienstag, den 22.Oktober, dass große (trans)nationale Supermarktketten die gelieferte Ware nicht annehmen. Darunter Wallmart und das von dem in Kassel geborenen Horst Paulmann Kemna gegründete Unternehmen Cencosud. Dem Unternehmer wird eine Verbindung zu der Folterstätte Colonia Dignidad vorgeworfen, in der im Dienste der Pinochet-Diktatur Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden und das ebenso ein Ort systematischer sexualisierter Gewalt an Kindern war. Zu Beginn der derzeit stattfindenden sozialen Proteste traf sich Präsident Pinera mit den Besitzern der großen Supermarktketten. Eine weitere politische Inszenierung, in diesem Fall von Lebensmittelknappheit, um die Bevölkerung zu spalten?
Weltweit finden Solidaritätskundgebungen mit den sozialen Bewegungen Chiles und den indigenen Völkern statt. Medien berichten auch in Deutschland, mal mehr mal weniger differenziert, über die Geschehnisse. "El fantasma de la dictadura volvio con todo", so der Wortlaut einer feministischen Aktivistin aus Temuko. Der Geist der Diktatur sei zurück - mit allem.
Ja, das macht Angst.
Die unverhältnismäßigen und gewaltvollen Maßnahmen von Staatsseite, die Einschränkungen von Grundfreiheiten, die Inszenierungen und Manipulation unabhängiger Berichterstattung sind entschieden abzulehnen und öffentlich zu verurteilen, auch von Akteuren in Deutschland. Die Menschen vor Ort bitten um die Verbreitung dessen, was sie erleben, denn auch die virtuelle Meinungsfreiheit sieht sich eingeschränkt: Videos, die von der Zivilbevölkerung in sozialen Medien verbreitet werden und das repressive Vorgehen staatlicher Akteure zeigen, verschwinden aus dem Netz.
Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger zu berichten, was Menschen vor Ort erleben, wie sie die Situation einschätzen. Sie fordern die internationale Berichterstattung auf, über das repressive und menschenrechtsverletzende Vorgehen des chilenischen Staates zu informieren, um die Informationssperre aufzubrechen und internationalen Druck auszuüben.
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Chile: Die Kriminalisierung des sozialen Widerstands
Vor einer Woche rief Präsident Sebastian Piñera den Notstand aus und verhängte in einigen Städten eine Ausgangssperre. Das Land sei im Krieg, so der Präsident
"Estamos en guerra contra un enemigo poderoso" – "Wir sind im Krieg gegen einen mächtigen Feind".
Der Notstand ist ausgerufen. Ausgangssperren werden verhängt.
Cacerolazos1 - Der soziale Widerstand bleibt aufrecht.
Militärs mit Maschinengewehren bewaffnet.
Es fallen Schüsse auf Demonstranten.
Nächtliche "Festnahmen" durch Polizisten in Zivil.
Folterpraktiken in Polizeirevieren.
Menschen, deren Aufenthaltsort unklar ist. ?Donde estan?
Panzer, Tränengas.
Wut! Angst.
Bilder und Worte, die uns zurückwerfen in die Zeit der Militärdiktatur unter Diktator Augusto Pinochet (1973-1990). Doch diese Beschreibungen sind heute erneut Realität in Chile.
Laut dem Nationalen Menschenrechtsinstitut kam es im Lauf der Proteste bisher zu 2.686 Festnahmen, darunter auch Kinder, 584 Menschen wurden verletzt, 5 Menschen starben durch staatliche Gewalt (Stand 24.10.2019, 14.00 Uhr ). Auch liegen dem Institut Anzeigen wegen Entblößungen und sexualisierter Gewalt und deren Androhung gegenüber Frauen, wegen körperlicher und psychischer Gewalt, Folter und sexueller Belästigung seitens staatlicher Akteure vor.
Kriminalisierung der sozialen Proteste
Vor einer Woche rief Chiles Präsident Pinera den Notstand aus und verhängte in einigen Städten eine Ausgangssperre. Das Land sei im Krieg, so der Präsident.
Bei den Protesten geht es um weit mehr als die Erhöhung der Metro-Fahrkartenpreise. Es ist die Prekarisierung des Lebens in einem neokapitalistischen und neokolonialen System, das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte beschneidet und Rechte privatisiert. Doch was die konventionellen Medien zeigen, ist ein anderes Bild. Nichts ist zu sehen von Polizisten, die Supermärkte und Banken in Flammen aufgehen lassen. Keine Berichterstattung in traditionellen Medien über den Exzess von Staatsgewalt, der bereits zu Toten geführt hat. Stattdessen werden Schlangen vor Supermärkten gezeigt, Plünderungen und Nachbarn, die ihre Häuser verteidigen. Eine Informationsblockade, die den Einsatz von Gewalt auf staatlicher Seite legitimieren soll?
Doch was sind die Beobachtungen vor Ort? Was zeigen Menschen über soziale Netzwerke, was die unabhängige Presse?
In Temuco, Wallmapu, ein Territorium, das konstanter Militarisierung ausgesetzt ist und in dem staatliche Gewalt gegenüber den indigenen Mapuche-Gemeinden tagtäglich stattfindet, wird von einer deutlichen Zunahme der Gewalt berichtet. "Gestern Nacht, sehr spät, sind die Militärs in unser Viertel eingedrungen, um zu unterdrücken, und nahmen willkürlich Menschen mit, die ihnen über den Weg liefen”, informiert eine Mapuche-Aktivistin über die Situation in Temuko.
Die Kriminalisierung des sozialen Widerstandes ist eine Praxis, die in Wallmapu zum gängigen Repertoire staatlicher Gewalt gehört: die "Operacion Huracan"2, die Installation des Militärkommandos "Jungla" und im Zuge dessen die Ermordung des Mapuche-Aktivisten Camilo Catrillanca3, der politische Mord an der Mapuche-Aktivistin Macarena Valdes4.
Der UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte indigener Völker, James Anaya, bereiste Chile im Jahr 2009, um Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, und berichtete vom exzessiven Gebrauch von Schusswaffen und Tränengas sowie körperlicher Gewalt und Beleidigungen seitens der Polizei gegenüber Mapuche5. In der Region Araukarien wird seit Jahren das Antiterrorgesetz (Ley No. 18314) auf die Mapuche-Bevölkerung angewandt. So finden in diesem Zuge regelmäßig widerrechtliche Hausdurchsuchungen statt, Tränengasangriffe auf Mapuche-Schulen und die Verfolgung und Einschüchterung von Aktivisten durch die ständige Präsenz von militarisierten Spezialeinheiten. Und dennoch gehen die Menschen, Chilenen und Mapuche, in Wallmapu auf die Straßen, feministische Anwältinnen stellen sich in den Dienst der Zivilbevölkerung, das Regionale Menschenrechtsinstitut ist in den Polizeirevieren anwesend, denn nur ihre Anwälte dürfen die Inhaftierten sprechen.
"El fantasma de la dictadura volvio con todo"
LKW-Fahrer informierten am Dienstag, den 22.Oktober, dass große (trans)nationale Supermarktketten die gelieferte Ware nicht annehmen. Darunter Wallmart und das von dem in Kassel geborenen Horst Paulmann Kemna gegründete Unternehmen Cencosud. Dem Unternehmer wird eine Verbindung zu der Folterstätte Colonia Dignidad vorgeworfen, in der im Dienste der Pinochet-Diktatur Oppositionelle gefoltert und ermordet wurden und das ebenso ein Ort systematischer sexualisierter Gewalt an Kindern war. Zu Beginn der derzeit stattfindenden sozialen Proteste traf sich Präsident Pinera mit den Besitzern der großen Supermarktketten. Eine weitere politische Inszenierung, in diesem Fall von Lebensmittelknappheit, um die Bevölkerung zu spalten?
Weltweit finden Solidaritätskundgebungen mit den sozialen Bewegungen Chiles und den indigenen Völkern statt. Medien berichten auch in Deutschland, mal mehr mal weniger differenziert, über die Geschehnisse. "El fantasma de la dictadura volvio con todo", so der Wortlaut einer feministischen Aktivistin aus Temuko. Der Geist der Diktatur sei zurück - mit allem.
Ja, das macht Angst.
Die unverhältnismäßigen und gewaltvollen Maßnahmen von Staatsseite, die Einschränkungen von Grundfreiheiten, die Inszenierungen und Manipulation unabhängiger Berichterstattung sind entschieden abzulehnen und öffentlich zu verurteilen, auch von Akteuren in Deutschland. Die Menschen vor Ort bitten um die Verbreitung dessen, was sie erleben, denn auch die virtuelle Meinungsfreiheit sieht sich eingeschränkt: Videos, die von der Zivilbevölkerung in sozialen Medien verbreitet werden und das repressive Vorgehen staatlicher Akteure zeigen, verschwinden aus dem Netz.
Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger zu berichten, was Menschen vor Ort erleben, wie sie die Situation einschätzen. Sie fordern die internationale Berichterstattung auf, über das repressive und menschenrechtsverletzende Vorgehen des chilenischen Staates zu informieren, um die Informationssperre aufzubrechen und internationalen Druck auszuüben.
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•NEUER BEITRAG29.10.2019, 14:07 Uhr
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Chile, Oktober 2019
Und zur aktuellen politischen Situation in Chile heute ein Artikel von David Rojas-Kienzle, ebenfalls auf amerika21:
Chile: Mehrheit der Bevölkerung gegen Pinera, Aufruf zum Generalstreik
Soziale Bewegungen und Gewerkschaften fordern den Rücktritt des Präsidenten und eine verfassunggebende Versammlung
Santiago. Die Zustimmungswerte zur Regierungsführung des chilenischen Präsidenten sind auf ein historisch einmaliges Tief gefallen. Die Politik von Sebastian Pinera, der von einer Koalition von rechten bis faschistoiden Parteien wie der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) gestützt wird, wird laut einer Umfrage des Instituts CADEM von 78 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Studie abgelehnt. Lediglich 14 Prozent stimmen seiner Politik zu. So niedrige Werte hatte vor Pinera noch kein Präsident.
Die Umfrage wurde am 23. und 24. Oktober durchgeführt, mitten in der heftigsten politischen Auseinandersetzungen seit dem Ende der Militärdiktatur 1989 und kurz nachdem Pinera seine "Agenda Social" genannten Reformvorschläge präsentierte.
Die Proteste gegen die Erhöhung der Preise der U-Bahn-Tickets. die am 19. Oktober begannen, entwickelten sich rasch zu einem landesweiten Aufstand gegen die neoliberale Politik, die Chile spätestens seit den 1980er Jahren beherrscht. Pinera, einer der reichsten Männer des Landes, hatte gegen die Revolten und Demonstrationen das Militär in Stellung gebracht und den Ausnahmezustand mit Ausgangssperren verhängt. Bisher sind mindestens 19 Menschen bei den Protesten ums Leben gekommen, weitere 20 werden vermisst. Viele der Toten wurden von Polizei oder Militär erschossen, überfahren oder totgeprügelt. Am vergangenen Samstag waren allein in der Hauptstadt Santiago 1,2 Millionen Menschen auf der Straße.
Die Reformpläne des Präsidenten werden als nicht weitgehend genug angesehen. Neben anderer kleineren Maßnahmen hat die Regierung angekündigt, den Mindestlohn und die Mindestrente leicht zu erhöhen, allerdings auf ein Niveau, das mit den Lebenshaltungskosten in Chile bei weitem nicht mithält. Zu einer der Hauptforderungen der Proteste entwickelte sich die Forderung, Pinera solle zurücktreten und den Ausnahmezustand beenden. Letzteres ist nach einem Abflauen der Proteste zwar passiert, bisher hat der Präsident allerdings nur sein Ministerkabinett zum Rücktritt aufgefordert. Die Regierung hatte gehofft, dass sich mit der brutalen Repression einerseits und dem Reformpaket und dem Austausch von acht Ministern andererseits die Proteste beenden lassen.
Indes mobilisierten soziale Organisationen für den Wochenbeginn zu erneuten Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast La Mondeda. Und für den 30. Oktober haben über hundert Gewerkschaften und andere Organisationen zu einem Generalstreik aufgerufen. Dabei wird neben dem Rücktritt von Pinera auch eine verfassungsgebende Versammlung gefordert.
Diese Forderung erheben soziale und politische Organisationen seit Jahren. Die derzeit geltende Verfassung stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990). Der General legitimierte damit die neoliberale Umstrukturierung des Landes. Das Staatsvermögen wurde privatisiert und die staatlichen Leistungen extrem reduziert. Bis heute sind Wasser, Strom, das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert. Piñeras Amtsvorgängerin Michelle Bachelet setzte das Projekt "Neue Verfassung", das zu ihrem Regierungsprogarmm gehörte, nicht um. Zwar wurden bei landesweiten Bürgerversammlungen im Jahr 2015 Vorschläge für Reformen zusammengetragen und dann der Präsidentin übergeben, wesentliche Änderungen wurden jedoch nie vorgenommen.
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Chile: Mehrheit der Bevölkerung gegen Pinera, Aufruf zum Generalstreik
Soziale Bewegungen und Gewerkschaften fordern den Rücktritt des Präsidenten und eine verfassunggebende Versammlung
Santiago. Die Zustimmungswerte zur Regierungsführung des chilenischen Präsidenten sind auf ein historisch einmaliges Tief gefallen. Die Politik von Sebastian Pinera, der von einer Koalition von rechten bis faschistoiden Parteien wie der Unabhängigen Demokratischen Union (UDI) gestützt wird, wird laut einer Umfrage des Instituts CADEM von 78 Prozent der Befragten in einer repräsentativen Studie abgelehnt. Lediglich 14 Prozent stimmen seiner Politik zu. So niedrige Werte hatte vor Pinera noch kein Präsident.
Die Umfrage wurde am 23. und 24. Oktober durchgeführt, mitten in der heftigsten politischen Auseinandersetzungen seit dem Ende der Militärdiktatur 1989 und kurz nachdem Pinera seine "Agenda Social" genannten Reformvorschläge präsentierte.
Die Proteste gegen die Erhöhung der Preise der U-Bahn-Tickets. die am 19. Oktober begannen, entwickelten sich rasch zu einem landesweiten Aufstand gegen die neoliberale Politik, die Chile spätestens seit den 1980er Jahren beherrscht. Pinera, einer der reichsten Männer des Landes, hatte gegen die Revolten und Demonstrationen das Militär in Stellung gebracht und den Ausnahmezustand mit Ausgangssperren verhängt. Bisher sind mindestens 19 Menschen bei den Protesten ums Leben gekommen, weitere 20 werden vermisst. Viele der Toten wurden von Polizei oder Militär erschossen, überfahren oder totgeprügelt. Am vergangenen Samstag waren allein in der Hauptstadt Santiago 1,2 Millionen Menschen auf der Straße.
Die Reformpläne des Präsidenten werden als nicht weitgehend genug angesehen. Neben anderer kleineren Maßnahmen hat die Regierung angekündigt, den Mindestlohn und die Mindestrente leicht zu erhöhen, allerdings auf ein Niveau, das mit den Lebenshaltungskosten in Chile bei weitem nicht mithält. Zu einer der Hauptforderungen der Proteste entwickelte sich die Forderung, Pinera solle zurücktreten und den Ausnahmezustand beenden. Letzteres ist nach einem Abflauen der Proteste zwar passiert, bisher hat der Präsident allerdings nur sein Ministerkabinett zum Rücktritt aufgefordert. Die Regierung hatte gehofft, dass sich mit der brutalen Repression einerseits und dem Reformpaket und dem Austausch von acht Ministern andererseits die Proteste beenden lassen.
Indes mobilisierten soziale Organisationen für den Wochenbeginn zu erneuten Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast La Mondeda. Und für den 30. Oktober haben über hundert Gewerkschaften und andere Organisationen zu einem Generalstreik aufgerufen. Dabei wird neben dem Rücktritt von Pinera auch eine verfassungsgebende Versammlung gefordert.
Diese Forderung erheben soziale und politische Organisationen seit Jahren. Die derzeit geltende Verfassung stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973-1990). Der General legitimierte damit die neoliberale Umstrukturierung des Landes. Das Staatsvermögen wurde privatisiert und die staatlichen Leistungen extrem reduziert. Bis heute sind Wasser, Strom, das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert. Piñeras Amtsvorgängerin Michelle Bachelet setzte das Projekt "Neue Verfassung", das zu ihrem Regierungsprogarmm gehörte, nicht um. Zwar wurden bei landesweiten Bürgerversammlungen im Jahr 2015 Vorschläge für Reformen zusammengetragen und dann der Präsidentin übergeben, wesentliche Änderungen wurden jedoch nie vorgenommen.
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Chile, Oktober 2019
jW vorgestern:
Keine Ruhe für Piñera
Weiter Massenproteste gegen Regierung und Staatschef in Chile. Gewerkschaften rufen zu Streiks auf. Straßenschlacht im Zentrum Santiagos
Von André Scheer
In Chile gerät Staatschef Sebastián Piñera trotz einer Kabinettsumbildung und der Ankündigung sozialer Maßnahmen immer weiter unter Druck. Am Montag abend (Ortszeit) demonstrierten erneut Tausende Menschen im Zentrum der Hauptstadt Santiago. Schwerbewaffnete Einsatzkräfte verhinderten mit Tränengas und Stahlgeschossen, dass sich der Zug dem Präsidentenpalast La Moneda nähern konnte. Mehrere Geschäfte und eine U-Bahn-Station gingen in Flammen auf. Auch für den gestrigen Abend mobilisierten Oppositionsgruppen zu einer weiteren Großdemonstration und zur gewaltfreien Belagerung des Regierungssitzes.
Die Proteste hatten sich Mitte Oktober zunächst an einer Erhöhung der Fahrpreise bei der U-Bahn von Santiago entzündet, sich dann aber schnell auf das ganze Land ausgebreitet. Zum ersten Mal nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 setzte die Regierung Soldaten gegen die Demonstranten ein. Doch auch die Verhängung des Ausnahmezustandes und nächtliche Ausgangssperren konnten die Proteste nicht stoppen.
Am Dienstag legten die Bergleute der Escondida-Mine im Norden Chiles, die als größte Kupferförderanlage der Welt gilt, für 24 Stunden die Arbeit nieder. Wie die Gewerkschaft des Bergwerkes mitteilte, wollten die Kumpel damit gegen Rechtsverletzungen des Unternehmens und gegen die Unterdrückung des chilenischen Volkes protestieren. Die Mitglieder der »Gewerkschaft Nr. 1 der Arbeiter der Escondida-Mine« seien »Teil des Volkes, das genug hat und Veränderungen verlangt«.
Der chilenische Gewerkschaftsbund CUT und zahlreiche weitere im Bündnis »Soziale Einheit« zusammengeschlossene Organisationen haben für den heutigen Mittwoch zu einem weiteren landesweiten Generalstreik aufgerufen. Schon in der vergangenen Woche hatten Millionen Beschäftigte für 48 Stunden die Arbeit niedergelegt. Es gehe nicht um »mehr oder weniger Minister, alte oder neue Gesichter«, heißt es im Streikaufruf. Die CUT-Vorsitzende Bárbara Figueroa forderte im Gespräch mit der linken Zeitschrift El Siglo die Oppositionsparteien auf, mit ihrer Mehrheit im Parlament alle Gesetzesvorhaben der Regierung zu blockieren.
Piñera, der nach Umfragen nur noch von 14 Prozent der Chilenen unterstützt wird, hatte am Montag acht neue Minister vereidigt. Abgelöst wurde unter anderem der bisherige Innenminister Andrés Chadwick, der für die brutale Unterdrückung der Proteste der vergangenen Tage verantwortlich gemacht wird. Chadwick, ein Cousin des Präsidenten und schon unter der Pinochet-Diktatur in wichtigen Regierungsämtern tätig, gab sich anschließend reumütig: »Wenn ich nicht alles richtig gemacht haben sollte, bitte ich um Entschuldigung.« Zum Nachfolger ernannte Piñera den bisherigen Generalsekretär des Präsidialamtes, Gonzalo Blumel Mac-Iver, der als enger Gefolgsmann des Staatschefs und Mitverfasser von dessen Regierungsprogramm gilt.
Die Protestbewegung fordert jedoch längst den Abtritt des Präsidenten selbst. Die Abgeordneten mehrerer Oppositionsfraktionen kündigten an, Verfassungsbeschwerde gegen Piñera einzubringen. Deren Annahme würde die Absetzung des Staatschefs bedeuten. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles, Guillermo Teillier, begründet die Klage mit den schweren Menschenrechtsverletzungen unter dem vom Präsidenten verhängten Ausnahmezustand: »Es gibt Tote, Fälle von Folter, Verletzte, in Mitleidenschaft gezogene Kinder!«
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Keine Ruhe für Piñera
Weiter Massenproteste gegen Regierung und Staatschef in Chile. Gewerkschaften rufen zu Streiks auf. Straßenschlacht im Zentrum Santiagos
Von André Scheer
In Chile gerät Staatschef Sebastián Piñera trotz einer Kabinettsumbildung und der Ankündigung sozialer Maßnahmen immer weiter unter Druck. Am Montag abend (Ortszeit) demonstrierten erneut Tausende Menschen im Zentrum der Hauptstadt Santiago. Schwerbewaffnete Einsatzkräfte verhinderten mit Tränengas und Stahlgeschossen, dass sich der Zug dem Präsidentenpalast La Moneda nähern konnte. Mehrere Geschäfte und eine U-Bahn-Station gingen in Flammen auf. Auch für den gestrigen Abend mobilisierten Oppositionsgruppen zu einer weiteren Großdemonstration und zur gewaltfreien Belagerung des Regierungssitzes.
Die Proteste hatten sich Mitte Oktober zunächst an einer Erhöhung der Fahrpreise bei der U-Bahn von Santiago entzündet, sich dann aber schnell auf das ganze Land ausgebreitet. Zum ersten Mal nach dem Ende der Pinochet-Diktatur 1990 setzte die Regierung Soldaten gegen die Demonstranten ein. Doch auch die Verhängung des Ausnahmezustandes und nächtliche Ausgangssperren konnten die Proteste nicht stoppen.
Am Dienstag legten die Bergleute der Escondida-Mine im Norden Chiles, die als größte Kupferförderanlage der Welt gilt, für 24 Stunden die Arbeit nieder. Wie die Gewerkschaft des Bergwerkes mitteilte, wollten die Kumpel damit gegen Rechtsverletzungen des Unternehmens und gegen die Unterdrückung des chilenischen Volkes protestieren. Die Mitglieder der »Gewerkschaft Nr. 1 der Arbeiter der Escondida-Mine« seien »Teil des Volkes, das genug hat und Veränderungen verlangt«.
Der chilenische Gewerkschaftsbund CUT und zahlreiche weitere im Bündnis »Soziale Einheit« zusammengeschlossene Organisationen haben für den heutigen Mittwoch zu einem weiteren landesweiten Generalstreik aufgerufen. Schon in der vergangenen Woche hatten Millionen Beschäftigte für 48 Stunden die Arbeit niedergelegt. Es gehe nicht um »mehr oder weniger Minister, alte oder neue Gesichter«, heißt es im Streikaufruf. Die CUT-Vorsitzende Bárbara Figueroa forderte im Gespräch mit der linken Zeitschrift El Siglo die Oppositionsparteien auf, mit ihrer Mehrheit im Parlament alle Gesetzesvorhaben der Regierung zu blockieren.
Piñera, der nach Umfragen nur noch von 14 Prozent der Chilenen unterstützt wird, hatte am Montag acht neue Minister vereidigt. Abgelöst wurde unter anderem der bisherige Innenminister Andrés Chadwick, der für die brutale Unterdrückung der Proteste der vergangenen Tage verantwortlich gemacht wird. Chadwick, ein Cousin des Präsidenten und schon unter der Pinochet-Diktatur in wichtigen Regierungsämtern tätig, gab sich anschließend reumütig: »Wenn ich nicht alles richtig gemacht haben sollte, bitte ich um Entschuldigung.« Zum Nachfolger ernannte Piñera den bisherigen Generalsekretär des Präsidialamtes, Gonzalo Blumel Mac-Iver, der als enger Gefolgsmann des Staatschefs und Mitverfasser von dessen Regierungsprogramm gilt.
Die Protestbewegung fordert jedoch längst den Abtritt des Präsidenten selbst. Die Abgeordneten mehrerer Oppositionsfraktionen kündigten an, Verfassungsbeschwerde gegen Piñera einzubringen. Deren Annahme würde die Absetzung des Staatschefs bedeuten. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chiles, Guillermo Teillier, begründet die Klage mit den schweren Menschenrechtsverletzungen unter dem vom Präsidenten verhängten Ausnahmezustand: »Es gibt Tote, Fälle von Folter, Verletzte, in Mitleidenschaft gezogene Kinder!«
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Chile, Oktober 2019
Granma gestern:
Chilenisches Volk erneut gegen Neoliberalismus auf den Straßen
Mehr als 70 Gewerkschaften und Bürgerorganisationen fordern zum Generalstreik auf, während Präsident Sebastián Piñera die Absage der Gipfeltreffen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum und des Klimawandels ankündigte
Autor: Elson Concepción Pérez | Mail ...jetzt anmelden!
oktober 31, 2019 10:10:40
Die soziale Situation in Chile ist weiterhin angespannt, davon zeugen die Mobilisierungen der Bevölkerung und der Aufruf von mehr als 70 Gewerkschafts- und Bürgerorganisationen zum Generalstreik.
Unterdessen bekräftigte die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Bárbara Figueroa, dass „ein neuer sozialer Pakt nur möglich sein wird, wenn die Regierung der Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung nachkommt, die eine neue Vereinbarung ausarbeitet, in der die Menschenrechte und die sozialen Rechte garantiert werden.“
Was den Austausch einiger Minister anbelangt, sagte die Arbeiterführerin, dass „es nicht ausreicht, den Ton oder Personen zu wechseln. Hier ist es erforderlich, dass der Präsident die Demut hat, die Agenda für arbeitspolitische und politische Fragen im Allgemeinen zu ändern.“ Außerdem sei die „Annahme der Herausforderung einer neuen Verfassung als eines der wirksamen Mechanismen zur Bewältigung des allgemeinen sozialen Konflikts im Land“ erforderlich.
Währenddessen entschied sich Präsident Sebastián Piñera, der weder mit den Änderungen in seiner Exekutive noch mit anderen Versprechungen überzeugen konnte, welche die grundlegenden Probleme der chilenischen Gesellschaft ungelöst lassen, zwei wichtige für November und Dezember in seinem Land anberaumte internationale Veranstaltungen abzusagen.
Eine davon ist das jährliche Treffen des Forums für wirtschaftliche Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum, das für den 16. und 17. November in Santiago vorgesehen war.
Diesbezüglich bekundete die Regierung der Vereinigten Staaten ihre Überraschung über die Absage, die sie aus der Presse und nicht auf offiziellem Weg erfahren hatte.
Ebenso cancelte der chilenische Präsident die vom 2. bis 13. Dezember anberaumte xxv. Konferenz der Vereinten Nationen zum Klimawandel, was als „völliges Versagen der Regierung“ gilt, die „tatenlos dasteht in einer der heikelsten Fragen nicht nur für Chile, sondern für die gesamte Menschheit“, wie die Expertin Pilar Monagas von der Universität von Chile erklärte.
Monagas fügte hinzu, die Aussetzung des Klimagipfels sei „ein zusätzliches Element und eine weitere Rechtfertigung dafür, auf die Straße zu gehen, denn dadurch wird der Konflikt weiter verschlimmert. Schließlich gehören zu den sozialen Ungerechtigkeiten hier auch die Umwelt- und Klimaprobleme, und genau das wird gefordert. Damit wird eine Veranstaltung ausgesetzt, an der im Übrigen sehr viele Menschen beteiligt waren, und dem wurde keinerlei Beachtung geschenkt.“
Die politische Gruppierung Soziale Konvergenz bezeichnete diese Annullierungen als „einen starken Schlag für die chilenische Außenpolitik“. „Wenn die Regierung glaubt, dass die Suspendierung des Cop25 die sozialen Unruhen besänftigen wird, irrt sie sich“, erklärte sie.
Was ist in 13 Tagen Protest passiert?
18. Oktober: In der Hauptstadt bricht mit Zusammenstößen, Bränden und Angriffen auf die U-Bahn das Chaos aus. Piñera erlässt den Ausnahmezustand.
19. Oktober: Andere Großstädte wie Valparaíso und Viña del Mar schließen sich den Protesten an: Tausende Soldaten werden auf den Straßen stationiert und in der Hauptstadt wird eine Ausgangssperre verhängt.
20. Oktober: Der Ausnahmezustand erstreckt sich auf neun der 16 Regionen des Landes und für die Nacht wird eine Ausgangssperre verhängt.
21. Oktober: Wiederaufnahme der Demonstrationen unter dem Ruf „weg mit dem Militär“. Der Unterricht ist in fast jeder Schule und Universität der Hauptstadt unterbrochen.
22. Oktober: Die Unzufriedenheit bleibt bestehen.
23. Oktober: Die wichtigsten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen des Landes rufen zu einem Generalstreik auf.
24. Oktober: Die Streiks und Demonstrationen werden fortgesetzt. Piñera kündigt einen Plan zur Beendigung der Ausgangssperre und des Ausnahmezustands an.
25. Oktober: In Santiago versammeln sich 1,2 Millionen Menschen zu einer historischen Demonstration, der größten in den letzten 30 Jahren.
26. Oktober: Die Unzufriedenheit wächst an.
27. Oktober: Piñera kündigt die Aufhebung des Ausnahmezustands an, der über Chile herrschte. In Valparaíso wird eine massive Demonstration durchgeführt, die im Kongress endete, wo Unruhen verzeichnet wurden.
28. und 29. Oktober: Sebastián Piñera nimmt Änderungen an seinem Kabinett vor. Die Welle der Repression gegen das chilenische Volk setzte sich fort, welches eine Änderung der politischen Strukturen der Nation fordert und sich auf den Generalstreik vom 30. Oktober vorbereitet.
Quelle: Telesur
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Chilenisches Volk erneut gegen Neoliberalismus auf den Straßen
Mehr als 70 Gewerkschaften und Bürgerorganisationen fordern zum Generalstreik auf, während Präsident Sebastián Piñera die Absage der Gipfeltreffen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum und des Klimawandels ankündigte
Autor: Elson Concepción Pérez | Mail ...jetzt anmelden!
oktober 31, 2019 10:10:40
Die soziale Situation in Chile ist weiterhin angespannt, davon zeugen die Mobilisierungen der Bevölkerung und der Aufruf von mehr als 70 Gewerkschafts- und Bürgerorganisationen zum Generalstreik.
Unterdessen bekräftigte die Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes CUT, Bárbara Figueroa, dass „ein neuer sozialer Pakt nur möglich sein wird, wenn die Regierung der Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung nachkommt, die eine neue Vereinbarung ausarbeitet, in der die Menschenrechte und die sozialen Rechte garantiert werden.“
Was den Austausch einiger Minister anbelangt, sagte die Arbeiterführerin, dass „es nicht ausreicht, den Ton oder Personen zu wechseln. Hier ist es erforderlich, dass der Präsident die Demut hat, die Agenda für arbeitspolitische und politische Fragen im Allgemeinen zu ändern.“ Außerdem sei die „Annahme der Herausforderung einer neuen Verfassung als eines der wirksamen Mechanismen zur Bewältigung des allgemeinen sozialen Konflikts im Land“ erforderlich.
Währenddessen entschied sich Präsident Sebastián Piñera, der weder mit den Änderungen in seiner Exekutive noch mit anderen Versprechungen überzeugen konnte, welche die grundlegenden Probleme der chilenischen Gesellschaft ungelöst lassen, zwei wichtige für November und Dezember in seinem Land anberaumte internationale Veranstaltungen abzusagen.
Eine davon ist das jährliche Treffen des Forums für wirtschaftliche Zusammenarbeit im asiatisch-pazifischen Raum, das für den 16. und 17. November in Santiago vorgesehen war.
Diesbezüglich bekundete die Regierung der Vereinigten Staaten ihre Überraschung über die Absage, die sie aus der Presse und nicht auf offiziellem Weg erfahren hatte.
Ebenso cancelte der chilenische Präsident die vom 2. bis 13. Dezember anberaumte xxv. Konferenz der Vereinten Nationen zum Klimawandel, was als „völliges Versagen der Regierung“ gilt, die „tatenlos dasteht in einer der heikelsten Fragen nicht nur für Chile, sondern für die gesamte Menschheit“, wie die Expertin Pilar Monagas von der Universität von Chile erklärte.
Monagas fügte hinzu, die Aussetzung des Klimagipfels sei „ein zusätzliches Element und eine weitere Rechtfertigung dafür, auf die Straße zu gehen, denn dadurch wird der Konflikt weiter verschlimmert. Schließlich gehören zu den sozialen Ungerechtigkeiten hier auch die Umwelt- und Klimaprobleme, und genau das wird gefordert. Damit wird eine Veranstaltung ausgesetzt, an der im Übrigen sehr viele Menschen beteiligt waren, und dem wurde keinerlei Beachtung geschenkt.“
Die politische Gruppierung Soziale Konvergenz bezeichnete diese Annullierungen als „einen starken Schlag für die chilenische Außenpolitik“. „Wenn die Regierung glaubt, dass die Suspendierung des Cop25 die sozialen Unruhen besänftigen wird, irrt sie sich“, erklärte sie.
Was ist in 13 Tagen Protest passiert?
18. Oktober: In der Hauptstadt bricht mit Zusammenstößen, Bränden und Angriffen auf die U-Bahn das Chaos aus. Piñera erlässt den Ausnahmezustand.
19. Oktober: Andere Großstädte wie Valparaíso und Viña del Mar schließen sich den Protesten an: Tausende Soldaten werden auf den Straßen stationiert und in der Hauptstadt wird eine Ausgangssperre verhängt.
20. Oktober: Der Ausnahmezustand erstreckt sich auf neun der 16 Regionen des Landes und für die Nacht wird eine Ausgangssperre verhängt.
21. Oktober: Wiederaufnahme der Demonstrationen unter dem Ruf „weg mit dem Militär“. Der Unterricht ist in fast jeder Schule und Universität der Hauptstadt unterbrochen.
22. Oktober: Die Unzufriedenheit bleibt bestehen.
23. Oktober: Die wichtigsten Gewerkschaften und sozialen Bewegungen des Landes rufen zu einem Generalstreik auf.
24. Oktober: Die Streiks und Demonstrationen werden fortgesetzt. Piñera kündigt einen Plan zur Beendigung der Ausgangssperre und des Ausnahmezustands an.
25. Oktober: In Santiago versammeln sich 1,2 Millionen Menschen zu einer historischen Demonstration, der größten in den letzten 30 Jahren.
26. Oktober: Die Unzufriedenheit wächst an.
27. Oktober: Piñera kündigt die Aufhebung des Ausnahmezustands an, der über Chile herrschte. In Valparaíso wird eine massive Demonstration durchgeführt, die im Kongress endete, wo Unruhen verzeichnet wurden.
28. und 29. Oktober: Sebastián Piñera nimmt Änderungen an seinem Kabinett vor. Die Welle der Repression gegen das chilenische Volk setzte sich fort, welches eine Änderung der politischen Strukturen der Nation fordert und sich auf den Generalstreik vom 30. Oktober vorbereitet.
Quelle: Telesur
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Chile, Oktober 2019
jW morgen:
Piñera spielt auf Zeit
Chiles Präsident geht nicht auf Forderungen der Protestbewegung ein
Von Frederic Schnatterer
Trotz langem Wochenende halten die Proteste in Chile an. Am Donnerstag (Ortszeit) demonstrierten erneut Tausende in den größeren Städten des Landes gegen die Regierung von Sebastián Piñera. In der Hauptstadt Santiago de Chile erreichten die Protestierenden erstmals den Regierungspalast La Moneda, ohne von der Polizei angegriffen zu werden. In der Hafenstadt Valparaíso, wo sich das Parlament des Landes befindet, kam es hingegen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Einsatzkräften.
Einige Stunden zuvor hatte der Staatschef die Oppositionsparteien zu Gesprächen eingeladen. Auch wenn es dabei vordergründig um die Steuerreform ging – Thema waren vor allem die Forderungen der Protestbewegung nach sozialen Reformen und einer neuen Konstitution. Die aktuelle Verfassung des Landes stammt noch aus der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Obwohl Piñera am Mittwoch erklärt hatte, er schließe »keine Option, keine strukturelle Option« aus, bot er einen Tag später nur kleine Zugeständnisse an, was bei den anwesenden Oppositionspolitikern auf Ablehnung stieß. So erklärte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Álvaro Elizalde: »Das ist ganz klar unzureichend. Die Regierung erkennt nicht das Ausmaß dessen, was gerade passiert.«
Die Kommunistische Partei hatte die Einladung des Innenministers mit der Begründung abgelehnt, es reiche nicht aus, nur mit den Oppositionsparteien zu sprechen. In einem Statement erklärte sie, die Regierung müsse statt dessen den Dialog mit den »wichtigsten sozialen Bewegungen des Landes«, suchen. Es gehe um eine neue »Agenda für soziale Gerechtigkeit«, worunter laut der KP unter anderem eine neue, demokratisch ausgearbeitete Verfassung, höhere Gehälter und Renten und eine Steuer für Superreiche fallen.
Seit zwei Wochen gehen in Chile Hunderttausende auf die Straße. Was mit Protesten gegen Preiserhöhungen der U-Bahn begonnen hatte, weitete sich schnell zu einer Massenbewegung gegen Staatschef Piñera und die neoliberale Ausrichtung des Landes aus. Trotz der raschen Verhängung des Ausnahmezustands, nächtlichen Ausgangssperren, Militär auf den Straßen sowie kleineren Zugeständnissen bekommt die Regierung die Proteste bislang nicht unter Kontrolle.
Am Donnerstag trafen sich das chilenische Menschenrechtsinstitut (INDH) und die Sondermission der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, um von den Einsatzkräften begangene Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Mittlerweile hat das INDH Kenntnis von 4.271 festgenommenen und 1.305 verletzten Protestierenden. In 167 Fällen seien juristische Untersuchungen angestrengt worden, u. a. wegen Mord, sexualisierter Gewalt und Folter.
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Piñera spielt auf Zeit
Chiles Präsident geht nicht auf Forderungen der Protestbewegung ein
Von Frederic Schnatterer
Trotz langem Wochenende halten die Proteste in Chile an. Am Donnerstag (Ortszeit) demonstrierten erneut Tausende in den größeren Städten des Landes gegen die Regierung von Sebastián Piñera. In der Hauptstadt Santiago de Chile erreichten die Protestierenden erstmals den Regierungspalast La Moneda, ohne von der Polizei angegriffen zu werden. In der Hafenstadt Valparaíso, wo sich das Parlament des Landes befindet, kam es hingegen zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Einsatzkräften.
Einige Stunden zuvor hatte der Staatschef die Oppositionsparteien zu Gesprächen eingeladen. Auch wenn es dabei vordergründig um die Steuerreform ging – Thema waren vor allem die Forderungen der Protestbewegung nach sozialen Reformen und einer neuen Konstitution. Die aktuelle Verfassung des Landes stammt noch aus der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Obwohl Piñera am Mittwoch erklärt hatte, er schließe »keine Option, keine strukturelle Option« aus, bot er einen Tag später nur kleine Zugeständnisse an, was bei den anwesenden Oppositionspolitikern auf Ablehnung stieß. So erklärte der Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Álvaro Elizalde: »Das ist ganz klar unzureichend. Die Regierung erkennt nicht das Ausmaß dessen, was gerade passiert.«
Die Kommunistische Partei hatte die Einladung des Innenministers mit der Begründung abgelehnt, es reiche nicht aus, nur mit den Oppositionsparteien zu sprechen. In einem Statement erklärte sie, die Regierung müsse statt dessen den Dialog mit den »wichtigsten sozialen Bewegungen des Landes«, suchen. Es gehe um eine neue »Agenda für soziale Gerechtigkeit«, worunter laut der KP unter anderem eine neue, demokratisch ausgearbeitete Verfassung, höhere Gehälter und Renten und eine Steuer für Superreiche fallen.
Seit zwei Wochen gehen in Chile Hunderttausende auf die Straße. Was mit Protesten gegen Preiserhöhungen der U-Bahn begonnen hatte, weitete sich schnell zu einer Massenbewegung gegen Staatschef Piñera und die neoliberale Ausrichtung des Landes aus. Trotz der raschen Verhängung des Ausnahmezustands, nächtlichen Ausgangssperren, Militär auf den Straßen sowie kleineren Zugeständnissen bekommt die Regierung die Proteste bislang nicht unter Kontrolle.
Am Donnerstag trafen sich das chilenische Menschenrechtsinstitut (INDH) und die Sondermission der UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet, um von den Einsatzkräften begangene Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Mittlerweile hat das INDH Kenntnis von 4.271 festgenommenen und 1.305 verletzten Protestierenden. In 167 Fällen seien juristische Untersuchungen angestrengt worden, u. a. wegen Mord, sexualisierter Gewalt und Folter.
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•NEUER BEITRAG05.02.2020, 00:07 Uhr
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Chile, Oktober 2019
So geit't - amerika21 gestern:
Diese Zahlen belegen die stille Revolution in Chile
Umfrage zeigt massiven Niedergang der politisch-institutionellen Ordnung. Präsident Piñera nur noch bei sechs Prozent Zustimmung
Von Harald Neuber
amerika21
Santiago de Chile. Die Unterstützung für die Regierung des chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera ist nach monatelangen Protesten auf ein Minimum von sechs Prozent gesunken. Ein schlechteres Ergebnis hat in der Geschichte der chilenischen Republik noch kein Präsident erreicht. Das geht aus einer unlängst veröffentlichten Umfrage der chilenischen Denkfabrik Centro de Estudios Políticos (CEP) hervor. Im Vergleich mit den Werten vom Mai vergangenen Jahres bedeutet das für Piñera einen Einbruch um 43 Prozentpunkte. Die Ablehnung der amtierenden rechtskonservativen Regierung ist auf 82 Prozent hochgeschnellt.
Mitte Oktober vergangenen Jahres war es in Chile zu spontanen Demonstrationen gegen die vierte U-Bahn-Preiserhöhung innerhalb weniger Monate gekommen. Die Proteste entwickelten sich rasch zu einem Flächenbrand. Inzwischen gehen Chileninnen und Chilenen fast täglich gegen die soziale Ungleichheit und für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf die Straße. Das derzeitige Grundgesetz des südamerikanischen Landes stammt noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-1990).
Die Umfrage des CEP zeigt weit über die Bilder von Zusammenstößen zwischen Demonstranten und bewaffneten staatlichen Kräften hinaus die Tragweite der politischen und sozialen Krise in Chile. So geben die 1.469 Befragten in über 100 Gemeinden des Landes als vorrangige Probleme das Rentensystem, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie das Gehaltsgefüge an. Der Komplex "Kriminalität/Überfälle/Diebstähle" ist in der Wahrnehmung von 51 Prozent im Mai vergangenen Jahres auf 26 Prozent abgerutscht.
Auch auf den hinteren Rängen zeigt sich ein Umdenken in der Bevölkerung. So sahen im Mai vergangenen Jahren nur neun Prozent der Chileninnen und Chilenen in der sozialen Ungleichheit ein Problem, im Dezember waren es 18 Prozent. Die Lage der Menschenrechte sahen zuletzt acht Prozent als Problem an, im Mai zuvor waren es nur vier Prozent.
Die eigene wirtschaftliche Prognose sehen mehr Befragte negativ. Ende 2018 dachten 43 Prozent, es gehe ihnen im einem Jahr besser; im vergangenen Dezember schlossen sich nur noch 30 Prozent diesem Urteil an. 13 Prozent gehen indes von einer Verschlechterung der eigenen Lage binnen zwölf Monaten aus. Ähnlich sieht es bei der Bewertung der Lage des Landes insgesamt aus.
Gaben im Mai 2017 noch 26 Prozent der Chileninnen und Chilenen an, das bürgerlich-demokratische System funktioniere schlecht bis sehr schlecht, schlossen sich im vergangenen Dezember 47 Prozent der Befragten diesem Urteil an.
Zugleich hatten 2017 noch knapp 40 Prozent der Menschen in dem südamerikanischen Land Vertrauen in Armee und Polizei, Nach den massiven Angriffen auf Demonstranten Ende des Jahres sank diese ohnehin geringe Quote auf 17 bis 25 Prozent. Auch Medien, Kirchen und staatliche Institutionen verloren massiv an Vertrauen.
55 Prozent der Chileninnen und Chilenen unterstützen jedoch die andauernden Demonstrationen, nur elf Prozent lehnen sie ab. Lediglich zehn Prozent derjenigen, die anfangs die Proteste unterstützten, sehen die Demonstrationen inzwischen kritisch. In 57 Prozent der Familien sorgt die Haltung zu den Protesten für Diskussionen. 67 Prozent der Menschen sprechen sich für eine neue Verfassung aus.
Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sind seit Ausbruch der Proteste mehr als 20 Zivilisten getötet worden, mehr als Tausend Menschen wurden verhaftet. Das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) hat zahlreiche Fälle von Folter und sexuellem Missbrauch in der Haft nachgewiesen.
Die massive Gewalt gegen Demonstranten hat erheblich zum Verfall der Umfragewerte der Piñera-Regierung beigetragen. Nach einem Bericht des INDH haben 372 Teilnehmer der Proteste bei Schusswaffeneinsätzen der Polizei Traumata oder Augenverletzungen erlitten, 33 weitere verlorenen ihr Augenlicht teilweise oder komplett. Gesundheitsminister Jaime Mañalich sprach dennoch von Einzelfällen; "Es wurden einige wenige Verletzungen beobachtet, die aber wegen ihrer Folgen, die mit Schlägen mit stumpfen Gegenständen verbunden sind, Relevanz besitzen."
Rodrigo Bustos, juristischer Leiter des INDH, wies darauf hin, dass 405 Personen mit Augenverletzungen innerhalb von 90 Tagen nicht als Einzelfälle bezeichnet werden können. Bustos stimmt mit der Ärztekammer darin überein, dass die Enthemmung beim Vorgehen der Carabineros die Hauptursache für die schweren Verletzungen ist. "Das ist äußerst ernst: Wir haben gesehen, wie die Polizei in vielen Fällen direkt auf Demonstranten geschossen hat", so Bustos.
Anders als Frankreich, das die Polizeikooperation mit Chile angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen eingestellt hat, schickt die Bundesregierung nach wie vor Polizeiausbilder in das südamerikanische Land. Nach Ansicht (Seite 17357) von Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, "werden Polizistinnen und Polizisten, also Sicherheitskräfte, dabei unterstützt, ihren humanitären Verpflichtungen nachzukommen".
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Wer das in Diagrammen braucht, findet sie da.
Diese Zahlen belegen die stille Revolution in Chile
Umfrage zeigt massiven Niedergang der politisch-institutionellen Ordnung. Präsident Piñera nur noch bei sechs Prozent Zustimmung
Von Harald Neuber
amerika21
Santiago de Chile. Die Unterstützung für die Regierung des chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera ist nach monatelangen Protesten auf ein Minimum von sechs Prozent gesunken. Ein schlechteres Ergebnis hat in der Geschichte der chilenischen Republik noch kein Präsident erreicht. Das geht aus einer unlängst veröffentlichten Umfrage der chilenischen Denkfabrik Centro de Estudios Políticos (CEP) hervor. Im Vergleich mit den Werten vom Mai vergangenen Jahres bedeutet das für Piñera einen Einbruch um 43 Prozentpunkte. Die Ablehnung der amtierenden rechtskonservativen Regierung ist auf 82 Prozent hochgeschnellt.
Mitte Oktober vergangenen Jahres war es in Chile zu spontanen Demonstrationen gegen die vierte U-Bahn-Preiserhöhung innerhalb weniger Monate gekommen. Die Proteste entwickelten sich rasch zu einem Flächenbrand. Inzwischen gehen Chileninnen und Chilenen fast täglich gegen die soziale Ungleichheit und für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung auf die Straße. Das derzeitige Grundgesetz des südamerikanischen Landes stammt noch aus der Zeit der Pinochet-Diktatur (1973-1990).
Die Umfrage des CEP zeigt weit über die Bilder von Zusammenstößen zwischen Demonstranten und bewaffneten staatlichen Kräften hinaus die Tragweite der politischen und sozialen Krise in Chile. So geben die 1.469 Befragten in über 100 Gemeinden des Landes als vorrangige Probleme das Rentensystem, das Gesundheits- und Bildungswesen sowie das Gehaltsgefüge an. Der Komplex "Kriminalität/Überfälle/Diebstähle" ist in der Wahrnehmung von 51 Prozent im Mai vergangenen Jahres auf 26 Prozent abgerutscht.
Auch auf den hinteren Rängen zeigt sich ein Umdenken in der Bevölkerung. So sahen im Mai vergangenen Jahren nur neun Prozent der Chileninnen und Chilenen in der sozialen Ungleichheit ein Problem, im Dezember waren es 18 Prozent. Die Lage der Menschenrechte sahen zuletzt acht Prozent als Problem an, im Mai zuvor waren es nur vier Prozent.
Die eigene wirtschaftliche Prognose sehen mehr Befragte negativ. Ende 2018 dachten 43 Prozent, es gehe ihnen im einem Jahr besser; im vergangenen Dezember schlossen sich nur noch 30 Prozent diesem Urteil an. 13 Prozent gehen indes von einer Verschlechterung der eigenen Lage binnen zwölf Monaten aus. Ähnlich sieht es bei der Bewertung der Lage des Landes insgesamt aus.
Gaben im Mai 2017 noch 26 Prozent der Chileninnen und Chilenen an, das bürgerlich-demokratische System funktioniere schlecht bis sehr schlecht, schlossen sich im vergangenen Dezember 47 Prozent der Befragten diesem Urteil an.
Zugleich hatten 2017 noch knapp 40 Prozent der Menschen in dem südamerikanischen Land Vertrauen in Armee und Polizei, Nach den massiven Angriffen auf Demonstranten Ende des Jahres sank diese ohnehin geringe Quote auf 17 bis 25 Prozent. Auch Medien, Kirchen und staatliche Institutionen verloren massiv an Vertrauen.
55 Prozent der Chileninnen und Chilenen unterstützen jedoch die andauernden Demonstrationen, nur elf Prozent lehnen sie ab. Lediglich zehn Prozent derjenigen, die anfangs die Proteste unterstützten, sehen die Demonstrationen inzwischen kritisch. In 57 Prozent der Familien sorgt die Haltung zu den Protesten für Diskussionen. 67 Prozent der Menschen sprechen sich für eine neue Verfassung aus.
Bei Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften sind seit Ausbruch der Proteste mehr als 20 Zivilisten getötet worden, mehr als Tausend Menschen wurden verhaftet. Das Nationale Institut für Menschenrechte (INDH) hat zahlreiche Fälle von Folter und sexuellem Missbrauch in der Haft nachgewiesen.
Die massive Gewalt gegen Demonstranten hat erheblich zum Verfall der Umfragewerte der Piñera-Regierung beigetragen. Nach einem Bericht des INDH haben 372 Teilnehmer der Proteste bei Schusswaffeneinsätzen der Polizei Traumata oder Augenverletzungen erlitten, 33 weitere verlorenen ihr Augenlicht teilweise oder komplett. Gesundheitsminister Jaime Mañalich sprach dennoch von Einzelfällen; "Es wurden einige wenige Verletzungen beobachtet, die aber wegen ihrer Folgen, die mit Schlägen mit stumpfen Gegenständen verbunden sind, Relevanz besitzen."
Rodrigo Bustos, juristischer Leiter des INDH, wies darauf hin, dass 405 Personen mit Augenverletzungen innerhalb von 90 Tagen nicht als Einzelfälle bezeichnet werden können. Bustos stimmt mit der Ärztekammer darin überein, dass die Enthemmung beim Vorgehen der Carabineros die Hauptursache für die schweren Verletzungen ist. "Das ist äußerst ernst: Wir haben gesehen, wie die Polizei in vielen Fällen direkt auf Demonstranten geschossen hat", so Bustos.
Anders als Frankreich, das die Polizeikooperation mit Chile angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen eingestellt hat, schickt die Bundesregierung nach wie vor Polizeiausbilder in das südamerikanische Land. Nach Ansicht (Seite 17357) von Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt, "werden Polizistinnen und Polizisten, also Sicherheitskräfte, dabei unterstützt, ihren humanitären Verpflichtungen nachzukommen".
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•NEUER BEITRAG05.05.2020, 14:04 Uhr
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Chile, Oktober 2019
Die Übersetzung eines langen Artikels von Pablo Abufom Silva, der eine Zwischenbilanz des Aufstands mit Stand vor der Corona-Krise zieht, brachte amerika21 am 24. April:
Die sechs Monate, die Chile verändert haben
Zwischenbilanz des Aufstands gegen die Prekarisierung des Lebens
Von Pablo Abufom Silva
Übersetzung: Miou Sascha Hilgenböcker
amerika21
Zwischen Oktober 2019 und April 2020 ereignete sich ein Umbruch auf dem Terrain und in der Dynamik des chilenischen Klassenkampfes. Seit dem 18. Oktober haben wir beobachtet, wie sich die Gesamtheit der sozialen und politischen Kräfte fast vollständig entfaltet hat, um Mehrheiten für ihre jeweiligen Projekte zu schaffen und zu erstreiten.
Angefangen bei der Verteidigung der Verfassung von 1980 über den Staatsterrorismus der rechten Regierung bis hin zur gemäßigten Verteidigung der Errungenschaften des "chilenischen Modells" durch das ehemalige Mitte-links-Bündnis Concertación; von der möglichen Wiedererlangung der politischen Initiative der breiten Bevölkerung durch den neuen feministischen Generalstreik, zu dem das feministische Bündnis Coordinadora Feminista 8M aufgerufen hatte, bis hin zur Möglichkeit einer Popularen Verfassunggebenden Versammlung (Asamblea Popular Constituyente, APC), initiiert durch die Koordination der Territorialen Versammlungen (Coordinadora de Asambleas Territoriales, CAT) und andere soziale Organisationen, eine Initiative, die den verfassungsgebenden Prozess vorbereiten und überschreiten kann, den jene Parteien entworfen haben, die das "Abkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung" mit der Regierung unterzeichnet haben; vom Aufstand der am stärksten prekarisierten Sektoren des Landes bis hin zu neuen Formen direkter Demokratie in den Stadtteilen. Seitdem hat sich Chile für immer verändert.
Das Jahr 2020 wird durch eine Konjunktur geprägt sein, die konstituierend ist für ein Volk, dem es noch an Stärke und Projekt fehlt, und konstitutionell für die Parteien, die sich jener Ordnung verschrieben haben, die uns in diese Krise geführt hat. Letzteren geht es darum, die Stabilität des Regimes mit einer neuen Version der alten Verfassung zu garantieren, während sich für die Bevölkerung die Möglichkeit eröffnet, endlich ein Gegengewicht und eine gesellschaftliche Alternative zu artikulieren, die die Grundlagen für eine Offensive schafft gegen das politisch-gesellschaftliche Regime, das seit 1973 in Chile herrscht.
Ich möchte im vorliegenden Text eine Bilanz aus dieser kritischen Übergangszeit ziehen.
Der wahre Notstand sind unsere Lebensbedingungen
Zu Beginn des Monats November 2019, als wir uns auf einem Platz im Zentrum von Santiago versammelt hatten, wo seit einigen Wochen die "Selbsteinberufene Versammlung" (Asamblea Autoconvocada) des Stadtteils ihre Arbeit aufgenommen hatte, erhob mein Nachbar Miguel enthusiastisch seine linke Faust und rief gemeinsam mit mehr als hundert Personen: "Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden!" Mein Nachbar ist ein Veteran des Kampfes gegen die Diktatur und wir waren seit einigen Wochen damit beschäftigt, unser Viertel im Kontext der Welle massiver Proteste zu organisieren, die das Land seit dem 18. Oktober 2019 erschütterten. Der sogenannte soziale Ausbruch (estallido social) hatte in jener Woche in den U-Bahn-Stationen von Santiago, der Metro, begonnen.
Hunderte Schüler der Sekundarstufe protestierten gegen die Fahrpreiserhöhung um 30 Pesos pro Ticket und organisierten eine Kampagne des Massenboykotts, dessen zentrale Taktik darin bestand, mit dem Ruf "Ausweichen, nicht bezahlen, eine andere Form des Protests!" (¡evadir, no pagar, otra forma de luchar!) über die Drehkreuze zu springen. Mit dieser Geste kristallisierten sie eine ganze Bandbreite an Forderungen und Aktionen, die sich innerhalb weniger Stunden durch Kundgebungen in ganz Chile äußerten. Diese reichten von spontanen Massendemonstrationen in den urbanen Zentren bis hin zu Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, die ausgesandt wurden, um die "öffentliche Ordnung" zu kontrollieren, vor allem in Metro-Stationen, Banken, Apotheken und Supermärkten, die mit ideologischer Präzision zu Zielscheiben von Plünderungen und Brandanschlägen wurden.
Das Überspringen des Drehkreuzes war gleichzeitig Ausdruck einer Forderung (kostenloser öffentlicher Nahverkehr) und der Aufruf zu einer Taktik (direkte Aktion). Diese einfache, aber wirkungsmächtige Art und Weise, sich inmitten einer gesellschaftlichen Krise zu bewegen, wurde in den folgenden Monaten zur allgegenwärtigen Antwort der Völker Chiles.
Ländliche Gemeinschaften, die von Großgrundbesitzern beschlagnahmte Flussbette befreiten. Ganze Stadtviertel, die Versammlungen einberiefen, um die Verteidigung gegen die Repression und die Versorgung angesichts der Preiserhöhungen zu organisieren und Diskussionen über die notwendigen Veränderungen für ein würdiges Leben zu führen. Millionen Frauen in allen Regionen forderten den öffentlichen Raum für sich ein, um die patriarchale Gewalt anzuprangern, deren stärkster Ausdruck ein Staat ist, der sowohl durch seine Politik als auch durch seine repressiven Vertreter Gewalt ausübt. Auf diese Weise verdrängten sie tatsächlich die polizeilich-militärische Besetzung, die die Regierung als Antwort auf die Krise aufgezwungen hatte.
Der 18. Oktober zeigte, dass sich in Chile neue populare Subjektivitäten schmiedeten, die auf eine rebellische Explosion gewartet hatten, um sich öffentlich auszudrücken.
Die Losungen des kollektiven Gedächtnis sind in dieser Hinsicht von großer Bedeutung. "Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre", ist die erste, die auf den Charakter der Krise hinwies, weit über die Fahrpreiserhöhung hinausging und in 30 Jahren neoliberaler demokratischer Regierung begründet ist (nach 17 Jahren zivil-militärischer Diktatur).
"Chile ist erwacht" zeugte von einem vollständigen subjektiven Wandel. Es ist nicht so, dass wir in Chile nicht gewusst hätten, wie schlecht die Lebensbedingungen waren. Diesem schlechten Leben wurde nur plötzlich nicht mehr mit Resignation und Hoffnungslosigkeit begegnet. "Chile ist erwacht" will sagen, dass sich die Völker Chiles neu zusammengefunden haben, mit der Hoffnung, dass sich die Dinge ändern können.
Schließlich taucht wieder eine Parole auf, die die Feministinnen bereits während der Diktatur verbreiteten: "NO+" (Nicht mehr). Das ist der konzentrierte Ausdruck des "Wir haben genug von der Diktatur", der sich auf die neuen Formen der Diktatur des Kapitals erstreckt. Gegen die patriarchale Gewalt und die unwürdigen Renten gerichtet, gegen die Privatisierung des Wassers und die Verletzungen der Menschenrechte, gegen all die Formen der Unterdrückung, denen ein Ende gesetzt werden soll. Und damit nicht genug, die Feministinnen sagen: "NO+ porque SOMOS+" (Nicht mehr, denn wir sind mehr).
Dies ist das erste Kennzeichen der "sozialen Explosion" vom Oktober in Chile: Es handelt sich um einen Massenprotest gegen die Lebensbedingungen, dessen zündender Funke die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr war, der jedoch auf eine unterdrückte soziale Kraft übersprang, die das sozialpolitische Regime in seiner Gesamtheit angefochten hat. Es ist eine plurinationale, generationenübergreifende Bewegung, mehrheitlich aus Arbeiterinnen und Arbeitern zusammengesetzt, die durch die Krise verarmt sind. Es ist ein Aufstand gegen die Prekarisierung des Lebens.
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Die sechs Monate, die Chile verändert haben
Zwischenbilanz des Aufstands gegen die Prekarisierung des Lebens
Von Pablo Abufom Silva
Übersetzung: Miou Sascha Hilgenböcker
amerika21
Zwischen Oktober 2019 und April 2020 ereignete sich ein Umbruch auf dem Terrain und in der Dynamik des chilenischen Klassenkampfes. Seit dem 18. Oktober haben wir beobachtet, wie sich die Gesamtheit der sozialen und politischen Kräfte fast vollständig entfaltet hat, um Mehrheiten für ihre jeweiligen Projekte zu schaffen und zu erstreiten.
Angefangen bei der Verteidigung der Verfassung von 1980 über den Staatsterrorismus der rechten Regierung bis hin zur gemäßigten Verteidigung der Errungenschaften des "chilenischen Modells" durch das ehemalige Mitte-links-Bündnis Concertación; von der möglichen Wiedererlangung der politischen Initiative der breiten Bevölkerung durch den neuen feministischen Generalstreik, zu dem das feministische Bündnis Coordinadora Feminista 8M aufgerufen hatte, bis hin zur Möglichkeit einer Popularen Verfassunggebenden Versammlung (Asamblea Popular Constituyente, APC), initiiert durch die Koordination der Territorialen Versammlungen (Coordinadora de Asambleas Territoriales, CAT) und andere soziale Organisationen, eine Initiative, die den verfassungsgebenden Prozess vorbereiten und überschreiten kann, den jene Parteien entworfen haben, die das "Abkommen für den sozialen Frieden und die neue Verfassung" mit der Regierung unterzeichnet haben; vom Aufstand der am stärksten prekarisierten Sektoren des Landes bis hin zu neuen Formen direkter Demokratie in den Stadtteilen. Seitdem hat sich Chile für immer verändert.
Das Jahr 2020 wird durch eine Konjunktur geprägt sein, die konstituierend ist für ein Volk, dem es noch an Stärke und Projekt fehlt, und konstitutionell für die Parteien, die sich jener Ordnung verschrieben haben, die uns in diese Krise geführt hat. Letzteren geht es darum, die Stabilität des Regimes mit einer neuen Version der alten Verfassung zu garantieren, während sich für die Bevölkerung die Möglichkeit eröffnet, endlich ein Gegengewicht und eine gesellschaftliche Alternative zu artikulieren, die die Grundlagen für eine Offensive schafft gegen das politisch-gesellschaftliche Regime, das seit 1973 in Chile herrscht.
Ich möchte im vorliegenden Text eine Bilanz aus dieser kritischen Übergangszeit ziehen.
Der wahre Notstand sind unsere Lebensbedingungen
Zu Beginn des Monats November 2019, als wir uns auf einem Platz im Zentrum von Santiago versammelt hatten, wo seit einigen Wochen die "Selbsteinberufene Versammlung" (Asamblea Autoconvocada) des Stadtteils ihre Arbeit aufgenommen hatte, erhob mein Nachbar Miguel enthusiastisch seine linke Faust und rief gemeinsam mit mehr als hundert Personen: "Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden!" Mein Nachbar ist ein Veteran des Kampfes gegen die Diktatur und wir waren seit einigen Wochen damit beschäftigt, unser Viertel im Kontext der Welle massiver Proteste zu organisieren, die das Land seit dem 18. Oktober 2019 erschütterten. Der sogenannte soziale Ausbruch (estallido social) hatte in jener Woche in den U-Bahn-Stationen von Santiago, der Metro, begonnen.
Hunderte Schüler der Sekundarstufe protestierten gegen die Fahrpreiserhöhung um 30 Pesos pro Ticket und organisierten eine Kampagne des Massenboykotts, dessen zentrale Taktik darin bestand, mit dem Ruf "Ausweichen, nicht bezahlen, eine andere Form des Protests!" (¡evadir, no pagar, otra forma de luchar!) über die Drehkreuze zu springen. Mit dieser Geste kristallisierten sie eine ganze Bandbreite an Forderungen und Aktionen, die sich innerhalb weniger Stunden durch Kundgebungen in ganz Chile äußerten. Diese reichten von spontanen Massendemonstrationen in den urbanen Zentren bis hin zu Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften, die ausgesandt wurden, um die "öffentliche Ordnung" zu kontrollieren, vor allem in Metro-Stationen, Banken, Apotheken und Supermärkten, die mit ideologischer Präzision zu Zielscheiben von Plünderungen und Brandanschlägen wurden.
Das Überspringen des Drehkreuzes war gleichzeitig Ausdruck einer Forderung (kostenloser öffentlicher Nahverkehr) und der Aufruf zu einer Taktik (direkte Aktion). Diese einfache, aber wirkungsmächtige Art und Weise, sich inmitten einer gesellschaftlichen Krise zu bewegen, wurde in den folgenden Monaten zur allgegenwärtigen Antwort der Völker Chiles.
Ländliche Gemeinschaften, die von Großgrundbesitzern beschlagnahmte Flussbette befreiten. Ganze Stadtviertel, die Versammlungen einberiefen, um die Verteidigung gegen die Repression und die Versorgung angesichts der Preiserhöhungen zu organisieren und Diskussionen über die notwendigen Veränderungen für ein würdiges Leben zu führen. Millionen Frauen in allen Regionen forderten den öffentlichen Raum für sich ein, um die patriarchale Gewalt anzuprangern, deren stärkster Ausdruck ein Staat ist, der sowohl durch seine Politik als auch durch seine repressiven Vertreter Gewalt ausübt. Auf diese Weise verdrängten sie tatsächlich die polizeilich-militärische Besetzung, die die Regierung als Antwort auf die Krise aufgezwungen hatte.
Der 18. Oktober zeigte, dass sich in Chile neue populare Subjektivitäten schmiedeten, die auf eine rebellische Explosion gewartet hatten, um sich öffentlich auszudrücken.
Die Losungen des kollektiven Gedächtnis sind in dieser Hinsicht von großer Bedeutung. "Es sind nicht 30 Pesos, es sind 30 Jahre", ist die erste, die auf den Charakter der Krise hinwies, weit über die Fahrpreiserhöhung hinausging und in 30 Jahren neoliberaler demokratischer Regierung begründet ist (nach 17 Jahren zivil-militärischer Diktatur).
"Chile ist erwacht" zeugte von einem vollständigen subjektiven Wandel. Es ist nicht so, dass wir in Chile nicht gewusst hätten, wie schlecht die Lebensbedingungen waren. Diesem schlechten Leben wurde nur plötzlich nicht mehr mit Resignation und Hoffnungslosigkeit begegnet. "Chile ist erwacht" will sagen, dass sich die Völker Chiles neu zusammengefunden haben, mit der Hoffnung, dass sich die Dinge ändern können.
Schließlich taucht wieder eine Parole auf, die die Feministinnen bereits während der Diktatur verbreiteten: "NO+" (Nicht mehr). Das ist der konzentrierte Ausdruck des "Wir haben genug von der Diktatur", der sich auf die neuen Formen der Diktatur des Kapitals erstreckt. Gegen die patriarchale Gewalt und die unwürdigen Renten gerichtet, gegen die Privatisierung des Wassers und die Verletzungen der Menschenrechte, gegen all die Formen der Unterdrückung, denen ein Ende gesetzt werden soll. Und damit nicht genug, die Feministinnen sagen: "NO+ porque SOMOS+" (Nicht mehr, denn wir sind mehr).
Dies ist das erste Kennzeichen der "sozialen Explosion" vom Oktober in Chile: Es handelt sich um einen Massenprotest gegen die Lebensbedingungen, dessen zündender Funke die Fahrpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr war, der jedoch auf eine unterdrückte soziale Kraft übersprang, die das sozialpolitische Regime in seiner Gesamtheit angefochten hat. Es ist eine plurinationale, generationenübergreifende Bewegung, mehrheitlich aus Arbeiterinnen und Arbeitern zusammengesetzt, die durch die Krise verarmt sind. Es ist ein Aufstand gegen die Prekarisierung des Lebens.
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Der repressive Moment der autoritären Wende der liberalen Demokratie in Chile
Die Antwort des Staates war brutal. Die Regierung des rechten Unternehmers Sebastián Piñera brauchtete nur ein paar Stunden, um einen Notstand auszurufen, der die Militärs autorisierte, die Straßen zu besetzten, um die öffentlichen Ordnung zu kontrollieren.
"Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind, der vor nichts und niemandem Respekt hat", sagte Piñera in der Nacht des 20. Oktobers. Er zielte darauf ab, den sozialen Protest zu kriminalisieren, und berief sich auf eine vermeintlich nach mehr polizeilicher Sicherheit im städtischen Raum sehnende Wählerschaft.
Diese Erklärungen hatten einen doppelten Effekt. Auf der einen Seite ermutigten sie die Sicherheitskräfte dazu, auf brutalste Weise die Massen zu unterdrücken, die nicht aufhörten zu demonstrieren, trotz und gegen die Ausgangssperre und die Militärpräsenz in den Straßen; auf der anderen Seite bestärkten sie eine Bevölkerung, die beschlossen hatte, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen. Der Nettoeffekt dieses erhöhten Einsatzes seitens der Regierung bestand darin, dass sie einer fortschreitenden Schwächung ihres Kontrollvermögens der Ereignisse und Umstände ausgesetzt war. Die militärische Karte in der ersten Nacht des Aufstandes auszuspielen, war ihr erster großer Fehler.
Die Überzeugung, mit der die popularen Sektoren die Repression beantworteten, hatte einen hohen Preis. Mit grenzenloser Grausamkeit begannen die Polizeikräfte, ihre Angriffe mit Schusswaffen auf die Körper und Gesichter der Demonstrierenden zu richten. In der Folge erlitten bis zum heutigen Tag um die 500 Personen Augenverletzungen, bis hin zur vollständigen Erblindung. Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen im Verlust des Augenlichts besteht.
Dazu kommt eine systematische Verletzung der Menschenrechte durch illegale Festnahmen, Folterungen, Verstümmelungen, Ermordungen, Vergewaltigungen und andere Formen politisch-sexueller Gewalt, verübt von Vertretern des Staates gegen Jungen, Mädchen, Jugendliche und Erwachsene in ganz Chile.1 Eine weitere repressive Taktik des Staates bestand in der Anwendung von „vorbeugenden Maßnahmen“ wie Hausarrest oder Präventivhaft für Tausende von Menschen, die während des Aufstands festgenommen wurden. Folglich lässt sich mit Sicherheit erneut sagen, dass es in Chile politische Gefangene gibt.
Die zweite allgemeine Charakteristik der gegenwärtigen Krise besteht darin, dass sie den Kompromiss der Parteien, die Chile seit 1990 mit dem neoliberalen Regime regiert haben, für die Generationen der Post-Diktatur vollständig offengelegt hat. Konfrontiert mit einer sozialen Krise, die durch besagten Kompromiss verursacht wurde und angesichts der Bedrohung der Stabilität der kapitalistischen Normalität Chiles, war die erste und hauptsächliche Antwort die massive Entfesselung der staatlichen Gewalt. Doch die Militärpräsenz auf den Straßen war mit einer Jugend konfrontiert, die keine Angst hatte.
Zudem ist deutlich geworden, was sich bereits seit einigen Jahren abgezeichnet hat: Die liberalen Demokratien befinden sich inmitten einer autoritären Wende, die dazu führt, dass sie angesichts der wachsenden Schwierigkeit, den Zusammenhalt der Gesellschaft in Krisenzeiten zu steuern, mittels Dekreten und administrativen Wegen regieren und zunehmend den Staatsterrorismus als Mittel der Bewältigung sozialer und politischer Konflikte nutzen. Durch die Ausrufung des Notstandes und die nachfolgenden Gesetzesinitiativen zur öffentlichen Kontrolle nutzte die rechte Regierung Chiles lediglich die Gelegenheit, diesen Prozess zu beschleunigen und ihm institutionelle Legitimität zu verschaffen.
Kontinuitäten und Brüche
Auf den verschiedenen Seiten, die sich in der Hitze des Aufstandes herausgebildet hatten, sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch in den Parteien der Regierung und der Opposition gab es das weit verbreitete Gefühl, dass sich während jenes heißen Oktobers etwas Grundlegendes verändert hatte. Dabei handelte es sich jedoch nicht um das Auftauchen von etwas Neuem, sondern um die Enthüllung von etwas bereits Allgegenwärtigem. Es ging darum, dass eine tiefgreifende soziale Krise des chilenischen Lebensmodells eine schwere politische Krise auf der gesamten institutionellen Ebene zum Ausbruch brachte. Es handelte sich um einen Moment, in dem es nur dann möglich war, die Kontinuitäten zwischen der Zeit vor und nach Oktober zu entdecken, wenn man große Aufmerksamkeit auf die Brüche legte.
Forderungen: Von sozialen Rechten bis zur verfassunggebenden Versammlung
Während der allmählichen Wiederherstellung der Organisationen der Arbeiterklasse in der Zeit nach der Diktatur entstand ein Bündel an sozialen Forderungen, die den Widersprüchen des "chilenischen Modells" Rechnung trugen: Schluss mit der Profitorientierung im Bildungssystem, ein neues Rentensystem auf Grundlage des solidarischen Umlageverfahrens anstatt des erzwungenen individuellen Sparens, würdiger sozialer Wohnraum, politische und territoriale Autonomie für die indigenen Völker, legale Abtreibung, ein Arbeitsgesetzbuch, welches Streikrecht und Tarifverhandlungen garantiert, ein einheitliches, öffentlich finanziertes Gesundheitssystem und andere. Es war möglich, in all diesen Forderungen einen roten Faden ausfindig zu machen, der schließlich als "soziale Rechte" bezeichnet wurde, jene Aspekte der Reproduktion des Lebens einer jeden Person, die abgesichert sein sollten, vom chilenischen Staat jedoch nicht garantiert werden.
Diese über Jahrzehnte hinweg von verschiedenen sozialen Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften formulierten Forderungen bestimmten in den ersten Tagen des Oktoberaufstands schnell die öffentliche Meinung. Der Forderungskatalog entwickelte sich jedoch sprunghaft weiter. Die starke Fokussierung auf die Renten und die Gesundheit, zentrale Dimensionen der Krise der sozialen Reproduktion in Chile, machte einer Losung Platz, die es ermöglichte, die Frage der sozialen Rechte in einer einzigen politischen Forderung zu umfassen: verfassunggebende Versammlung.
chile_augenlicht.jpg
Gezielte Schüsse in die Gesichter der Protestierdenen: Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen der Verlust des Augenlichts ist
Gezielte Schüsse in die Gesichter der Protestierdenen: Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen der Verlust des Augenlichts ist
Quelle: frentefotografico
In programmatischen Begriffen finden wir darin den größten Sprung im politischen Bewusstsein der arbeitenden Klasse in Chile als Resultat des Aufstands vom Oktober. Die Gefahren einer Verkürzung der Bestrebungen auf einen von Experten durchgeführten konstitutionellen Wandel sind sehr präsent, aber die verfassunggebende Versammlung erscheint heute als eine progressive Forderung, insofern sie die Quelle des Problems in einer strukturellen und umfassenden Dimension identifiziert, die deutlich mehr erfordert als nur Anpassungen der öffentlichen Politik oder spezifische Gesetze.
Die einzige, mit diesem politischen Forderungsrahmen vergleichbare Ausarbeitung ist das Programm, das in den letzten zwei Jahren von der feministischen Bewegung entwickelt wurde. Aus dem ersten Plurinationalen Treffen der kämpfenden Frauen (Dezember 2018, 1.500 Teilnehmende) ging eine erste Annäherung an das Streikprogramm hervor, das im Feministischen Generalstreik des 8. März 2019 gipfelte.
Das Ziel besteht darin, die Gesamtheit der Forderungen der Bevölkerung nicht zersplittert, sondern gebündelt auszudrücken, wobei der Feminismus als roter Faden der übergreifenden Forderungen erscheint und somit als globales emanzipatorisches Projekt, nicht nur als Unterpunkt im Forderungskatalog oder als eine bloße separate Gruppierung innerhalb der arbeitenden Klasse.2
In diesem Jahr hat sich die Teilnahme an dem Plurinationalen Treffen verdoppelt und gemeinsam mit einem Kampfplan für 2020 wurden 16 programmatische Schwerpunkte ausgearbeitet, die von nicht-sexistischer Bildung und dem Recht auf Stadt bis hin zu Antirassismus und sozialer Sicherheit reichen.3
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Der repressive Moment der autoritären Wende der liberalen Demokratie in Chile
Die Antwort des Staates war brutal. Die Regierung des rechten Unternehmers Sebastián Piñera brauchtete nur ein paar Stunden, um einen Notstand auszurufen, der die Militärs autorisierte, die Straßen zu besetzten, um die öffentlichen Ordnung zu kontrollieren.
"Wir befinden uns im Krieg gegen einen mächtigen Feind, der vor nichts und niemandem Respekt hat", sagte Piñera in der Nacht des 20. Oktobers. Er zielte darauf ab, den sozialen Protest zu kriminalisieren, und berief sich auf eine vermeintlich nach mehr polizeilicher Sicherheit im städtischen Raum sehnende Wählerschaft.
Diese Erklärungen hatten einen doppelten Effekt. Auf der einen Seite ermutigten sie die Sicherheitskräfte dazu, auf brutalste Weise die Massen zu unterdrücken, die nicht aufhörten zu demonstrieren, trotz und gegen die Ausgangssperre und die Militärpräsenz in den Straßen; auf der anderen Seite bestärkten sie eine Bevölkerung, die beschlossen hatte, sich nicht mehr einschüchtern zu lassen. Der Nettoeffekt dieses erhöhten Einsatzes seitens der Regierung bestand darin, dass sie einer fortschreitenden Schwächung ihres Kontrollvermögens der Ereignisse und Umstände ausgesetzt war. Die militärische Karte in der ersten Nacht des Aufstandes auszuspielen, war ihr erster großer Fehler.
Die Überzeugung, mit der die popularen Sektoren die Repression beantworteten, hatte einen hohen Preis. Mit grenzenloser Grausamkeit begannen die Polizeikräfte, ihre Angriffe mit Schusswaffen auf die Körper und Gesichter der Demonstrierenden zu richten. In der Folge erlitten bis zum heutigen Tag um die 500 Personen Augenverletzungen, bis hin zur vollständigen Erblindung. Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen im Verlust des Augenlichts besteht.
Dazu kommt eine systematische Verletzung der Menschenrechte durch illegale Festnahmen, Folterungen, Verstümmelungen, Ermordungen, Vergewaltigungen und andere Formen politisch-sexueller Gewalt, verübt von Vertretern des Staates gegen Jungen, Mädchen, Jugendliche und Erwachsene in ganz Chile.1 Eine weitere repressive Taktik des Staates bestand in der Anwendung von „vorbeugenden Maßnahmen“ wie Hausarrest oder Präventivhaft für Tausende von Menschen, die während des Aufstands festgenommen wurden. Folglich lässt sich mit Sicherheit erneut sagen, dass es in Chile politische Gefangene gibt.
Die zweite allgemeine Charakteristik der gegenwärtigen Krise besteht darin, dass sie den Kompromiss der Parteien, die Chile seit 1990 mit dem neoliberalen Regime regiert haben, für die Generationen der Post-Diktatur vollständig offengelegt hat. Konfrontiert mit einer sozialen Krise, die durch besagten Kompromiss verursacht wurde und angesichts der Bedrohung der Stabilität der kapitalistischen Normalität Chiles, war die erste und hauptsächliche Antwort die massive Entfesselung der staatlichen Gewalt. Doch die Militärpräsenz auf den Straßen war mit einer Jugend konfrontiert, die keine Angst hatte.
Zudem ist deutlich geworden, was sich bereits seit einigen Jahren abgezeichnet hat: Die liberalen Demokratien befinden sich inmitten einer autoritären Wende, die dazu führt, dass sie angesichts der wachsenden Schwierigkeit, den Zusammenhalt der Gesellschaft in Krisenzeiten zu steuern, mittels Dekreten und administrativen Wegen regieren und zunehmend den Staatsterrorismus als Mittel der Bewältigung sozialer und politischer Konflikte nutzen. Durch die Ausrufung des Notstandes und die nachfolgenden Gesetzesinitiativen zur öffentlichen Kontrolle nutzte die rechte Regierung Chiles lediglich die Gelegenheit, diesen Prozess zu beschleunigen und ihm institutionelle Legitimität zu verschaffen.
Kontinuitäten und Brüche
Auf den verschiedenen Seiten, die sich in der Hitze des Aufstandes herausgebildet hatten, sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch in den Parteien der Regierung und der Opposition gab es das weit verbreitete Gefühl, dass sich während jenes heißen Oktobers etwas Grundlegendes verändert hatte. Dabei handelte es sich jedoch nicht um das Auftauchen von etwas Neuem, sondern um die Enthüllung von etwas bereits Allgegenwärtigem. Es ging darum, dass eine tiefgreifende soziale Krise des chilenischen Lebensmodells eine schwere politische Krise auf der gesamten institutionellen Ebene zum Ausbruch brachte. Es handelte sich um einen Moment, in dem es nur dann möglich war, die Kontinuitäten zwischen der Zeit vor und nach Oktober zu entdecken, wenn man große Aufmerksamkeit auf die Brüche legte.
Forderungen: Von sozialen Rechten bis zur verfassunggebenden Versammlung
Während der allmählichen Wiederherstellung der Organisationen der Arbeiterklasse in der Zeit nach der Diktatur entstand ein Bündel an sozialen Forderungen, die den Widersprüchen des "chilenischen Modells" Rechnung trugen: Schluss mit der Profitorientierung im Bildungssystem, ein neues Rentensystem auf Grundlage des solidarischen Umlageverfahrens anstatt des erzwungenen individuellen Sparens, würdiger sozialer Wohnraum, politische und territoriale Autonomie für die indigenen Völker, legale Abtreibung, ein Arbeitsgesetzbuch, welches Streikrecht und Tarifverhandlungen garantiert, ein einheitliches, öffentlich finanziertes Gesundheitssystem und andere. Es war möglich, in all diesen Forderungen einen roten Faden ausfindig zu machen, der schließlich als "soziale Rechte" bezeichnet wurde, jene Aspekte der Reproduktion des Lebens einer jeden Person, die abgesichert sein sollten, vom chilenischen Staat jedoch nicht garantiert werden.
Diese über Jahrzehnte hinweg von verschiedenen sozialen Bewegungen, Parteien und Gewerkschaften formulierten Forderungen bestimmten in den ersten Tagen des Oktoberaufstands schnell die öffentliche Meinung. Der Forderungskatalog entwickelte sich jedoch sprunghaft weiter. Die starke Fokussierung auf die Renten und die Gesundheit, zentrale Dimensionen der Krise der sozialen Reproduktion in Chile, machte einer Losung Platz, die es ermöglichte, die Frage der sozialen Rechte in einer einzigen politischen Forderung zu umfassen: verfassunggebende Versammlung.
chile_augenlicht.jpg
Gezielte Schüsse in die Gesichter der Protestierdenen: Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen der Verlust des Augenlichts ist
Gezielte Schüsse in die Gesichter der Protestierdenen: Als wollte der Staat sagen, dass der Preis für das Erwachen der Verlust des Augenlichts ist
Quelle: frentefotografico
In programmatischen Begriffen finden wir darin den größten Sprung im politischen Bewusstsein der arbeitenden Klasse in Chile als Resultat des Aufstands vom Oktober. Die Gefahren einer Verkürzung der Bestrebungen auf einen von Experten durchgeführten konstitutionellen Wandel sind sehr präsent, aber die verfassunggebende Versammlung erscheint heute als eine progressive Forderung, insofern sie die Quelle des Problems in einer strukturellen und umfassenden Dimension identifiziert, die deutlich mehr erfordert als nur Anpassungen der öffentlichen Politik oder spezifische Gesetze.
Die einzige, mit diesem politischen Forderungsrahmen vergleichbare Ausarbeitung ist das Programm, das in den letzten zwei Jahren von der feministischen Bewegung entwickelt wurde. Aus dem ersten Plurinationalen Treffen der kämpfenden Frauen (Dezember 2018, 1.500 Teilnehmende) ging eine erste Annäherung an das Streikprogramm hervor, das im Feministischen Generalstreik des 8. März 2019 gipfelte.
Das Ziel besteht darin, die Gesamtheit der Forderungen der Bevölkerung nicht zersplittert, sondern gebündelt auszudrücken, wobei der Feminismus als roter Faden der übergreifenden Forderungen erscheint und somit als globales emanzipatorisches Projekt, nicht nur als Unterpunkt im Forderungskatalog oder als eine bloße separate Gruppierung innerhalb der arbeitenden Klasse.2
In diesem Jahr hat sich die Teilnahme an dem Plurinationalen Treffen verdoppelt und gemeinsam mit einem Kampfplan für 2020 wurden 16 programmatische Schwerpunkte ausgearbeitet, die von nicht-sexistischer Bildung und dem Recht auf Stadt bis hin zu Antirassismus und sozialer Sicherheit reichen.3
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•NEUER BEITRAG05.05.2020, 14:12 Uhr
EDIT: FPeregrin
05.05.2020, 14:15 Uhr
05.05.2020, 14:15 Uhr
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FPeregrin | |
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Akteure: Die neue plurinationale arbeitende Klasse
Das gesellschaftliche Feuer, das sich in Chile seit Oktober 2019 unaufhaltsam ausbreitet, hat die neuen Subjektivitäten der arbeitenden Klasse in Chile sichtbar gemacht. Dieser Aufstand hat einen stark generationenübergreifenden, plurinationalen und feministischen Charakter, denn er ist Ausdruck der Widerstände einer hochgradig prekarisierten und fragmentierten Klasse. Ihre Diversität in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft und Nationalität kreuzt sich mit der städtischen Aufspaltung und der Vielfalt ideologischer Ausdrucksformen, die ihren Platz auf der Landkarte der popularen Sektoren gefunden haben.
Neben dieser vielschichtigen Klassenzusammensetzung hat der Aufstand eine starke interne Differenzierung erfahren, die es erlaubte, seine Reichweite zu vergrößern. Rund um die massenhaften Mobilisierungen bildete sich ein Ring der Selbstverteidigung, der "primera línea" (erste Reihe) getauft wurde. Diese Verteidigungslinie gegen die Repression hat in allen urbanen Zentren eine enorme materielle Existenz erreicht ‒ und eine symbolische, fast mythologische Existenz in der Vorstellungswelt des Aufstands.
Zusammengesetzt aus einer Vielfalt von Individuen, von marginalisierten Jugendlichen bis hin zu Büroarbeiterinnen, repräsentiert die "primera línea" die wichtigste politisch-militärische Innovation dieses Aufstands und es ist vorstellbar, dass es kein Zurück mehr gibt.
Zusätzlich zu den Massendemonstrationen und den Dynamiken der Selbstverteidigung entstanden in den ersten Tagen des Aufstands Formen der territorialen Selbstorganisation. Sie bezeichneten sich als Versammlungen und Räte und organisierten sich, um sich der Repression zu widersetzen, die Demonstrationen zu organisieren und die Umrisse dieses neuen Chiles zu diskutieren, das wir im Rhythmus unserer Kochtöpfe, Schreie und Barrikaden entstehen sahen.4
Einer der wesentlichen Züge dieser territorialen Instanzen besteht darin, dass sie in gemeinschaftlichen Räumen der kollektiven Arbeit und Beratung eine Vielfalt sozialer und politischer Ausdrucksformen zusammenbringen; und sie beanspruchen für sich das Kriterium der "Selbsteinberufung" (autoconvocadas) als Zeichen des Protestes gegen die Instrumentalisierung durch die traditionellen politischen Parteien der Linken, denen mit tiefem Misstrauen begegnet wird. Viele der Teilnehmenden, wie mein Nachbar Miguel, sind ehemalige Mitglieder linker Parteien. Auch wenn die historische Rolle der Parteien anerkannt wird, so fühlen sie sich heute dazu berufen, ausgehend von den Territorien eine politische Kraft aufzubauen, die sich nicht durch Verhandlungen mit denen von Oben belastet sehen, sondern ihre gesamte selbstorganisierte Macht im Protest, in der Versammlung und der Selbstverwaltung der Stadtviertel entfalten kann.
Die Gefahr der lokalen Begrenztheit ist in jeder Initiative vorhanden, die in einem bestimmten Gebiet verwurzelt ist. Doch im Falle der Versammlungen wurden sie durch die Umstände im Land angestoßen, sich nahezu von Beginn des Aufstandes an zu verbinden. In Santiago begann sich ab Ende Oktober die CAT-Initiative zu organisieren, mit dem Ziel, die Verschiedenheit der organisatorischen Erfahrungen zusammenzubringen, die in der Metropolregion entstanden waren. Heute beteiligen sich mehr als 50 Versammlungen an der CAT und am 18. Januar berief sie ein Treffen ein, bei dem 1.000 Personen zusammenkamen, um einen Kampfplan für das Jahr 2020 zu diskutieren. Gegenwärtig entsteht eine landesweite Koordination, um ein "Nationales Treffen der Versammlungen" zu organisieren.
Taktiken: Das Auftauchen der demokratischen Gewalt
Am zweiten Tag des "Ausbruchs", während wir uns über die Taktiken des Aufstands unterhielten, sagte eine Nachbarin zu mir: "Gut, das Volk nimmt den Kampf an der Stelle wieder auf, wo es ihn beim letzten Mal aufgehört hat". Die Schönheit und Kraft dieses Bildes sollte von einem Blick auf die Sprünge begleitet werden, die wir in dieser Revolte sehen. Eine Lebensform inmitten eines Transformationsprozesses beinhaltet eine veränderte Form des Kampfes.
In den vergangenen Monaten haben wir das erneute Auftauchen einer besonderen Form der massenhaften politischen Gewalt in Chile erlebt: die demokratische Gewalt. Es handelt sich um eine praktische und symbolische Bestätigung der Gewalt mit politischen Zielen, die sich rund um den Bruch mit der kapitalistischen Normalität und einer Periode der Destabilisierung organisiert; sie garantiert in sich selbst keine neue soziale Ordnung, aber ermöglicht es, diese aufzuzeigen.
Es handelt sich um eine demokratische Gewalt gegen den Staatsterrorismus, was sich mit jeder Barrikade bewahrheitete, die die Ausgangssperre herausforderte, mit jeder Besetzung des öffentlichen Raums, der es gelang, die Militärs aus den Straßen zu treiben (nach fast zehn Tagen des Ausnahmezustands), mit jeder spontanen Demonstration, die Nachbarinnen und Nachbarn desselben Viertels vereinte, um die politische Debatte mit anderen Mittel fortzusetzen.
Wenn man sich nicht von den Katastrophenberichten der traditionellen Presse und der Vertreter der Ordnungskräfte beeinflussen lässt, kann man den demokratischen Charakter der Formen des Aufstandes erkennen: Er ist kollektiv und nicht individuell, er verteilt Aufgaben ohne Hierarchien, er besitzt absolute Klarheit über seine Ziele und greift das Volk nicht an.
Schließlich ist es eine demokratische Gewalt, weil sie die "primera linea" in einem Prozess bildet, der sein Programm nur durch eine von der Bevölkerung ausgehende und revolutionäre Demokratie in Chile erreichen kann. Von der Bevölkerung ausgehend, weil die Massen mit ihren vielfältigen organisatorischen Ausdrucksweisen die Protagonisten sein müssen; und revolutionär, weil der Prozess eine radikale Transformation der bestehenden Institutionen braucht, um den Interessen der neuen plurinationalen arbeitenden Klasse Chiles Raum zu geben. Nur auf diese Weise ist das "Minimalprogramm" des Aufstandes umsetzbar: Wahrheit und Strafverfolgung der Politiker und Kriminellen, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, grundlegende Veränderungen in den Bereichen Gesundheit, Lohn, Renten, Bildung, Abtreibung und andere soziale Rechte sowie eine freie und souveräne verfassunggebende Versammlung, ohne Bindungen an den Kongress oder die Regierung.
Die vollendetste Form dieser demokratischen Gewalt hatte ihren Vorläufer während des Feministischen Generalstreiks, zu dem die Feministische Koordination 8M am 8. März 2019 aufgerufen hatte. Dieser Tag repräsentierte die Rückkehr der Generalstreik-Taktik ins politische Leben in einer nie dagewesenen Weise: Ausgerufen von Arbeiterinnen, Angestellten in Lohn- und in prekären Verhältnissen und unbezahlten Arbeiterinnen öffnete er den Weg für eine starke Politisierung sehr vieler aus der arbeitenden Klasse rund um eine Taktik, von der angenommen worden war, dass sie auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter beschränkt sei.
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Akteure: Die neue plurinationale arbeitende Klasse
Das gesellschaftliche Feuer, das sich in Chile seit Oktober 2019 unaufhaltsam ausbreitet, hat die neuen Subjektivitäten der arbeitenden Klasse in Chile sichtbar gemacht. Dieser Aufstand hat einen stark generationenübergreifenden, plurinationalen und feministischen Charakter, denn er ist Ausdruck der Widerstände einer hochgradig prekarisierten und fragmentierten Klasse. Ihre Diversität in Bezug auf Geschlecht, ethnische Herkunft und Nationalität kreuzt sich mit der städtischen Aufspaltung und der Vielfalt ideologischer Ausdrucksformen, die ihren Platz auf der Landkarte der popularen Sektoren gefunden haben.
Neben dieser vielschichtigen Klassenzusammensetzung hat der Aufstand eine starke interne Differenzierung erfahren, die es erlaubte, seine Reichweite zu vergrößern. Rund um die massenhaften Mobilisierungen bildete sich ein Ring der Selbstverteidigung, der "primera línea" (erste Reihe) getauft wurde. Diese Verteidigungslinie gegen die Repression hat in allen urbanen Zentren eine enorme materielle Existenz erreicht ‒ und eine symbolische, fast mythologische Existenz in der Vorstellungswelt des Aufstands.
Zusammengesetzt aus einer Vielfalt von Individuen, von marginalisierten Jugendlichen bis hin zu Büroarbeiterinnen, repräsentiert die "primera línea" die wichtigste politisch-militärische Innovation dieses Aufstands und es ist vorstellbar, dass es kein Zurück mehr gibt.
Zusätzlich zu den Massendemonstrationen und den Dynamiken der Selbstverteidigung entstanden in den ersten Tagen des Aufstands Formen der territorialen Selbstorganisation. Sie bezeichneten sich als Versammlungen und Räte und organisierten sich, um sich der Repression zu widersetzen, die Demonstrationen zu organisieren und die Umrisse dieses neuen Chiles zu diskutieren, das wir im Rhythmus unserer Kochtöpfe, Schreie und Barrikaden entstehen sahen.4
Einer der wesentlichen Züge dieser territorialen Instanzen besteht darin, dass sie in gemeinschaftlichen Räumen der kollektiven Arbeit und Beratung eine Vielfalt sozialer und politischer Ausdrucksformen zusammenbringen; und sie beanspruchen für sich das Kriterium der "Selbsteinberufung" (autoconvocadas) als Zeichen des Protestes gegen die Instrumentalisierung durch die traditionellen politischen Parteien der Linken, denen mit tiefem Misstrauen begegnet wird. Viele der Teilnehmenden, wie mein Nachbar Miguel, sind ehemalige Mitglieder linker Parteien. Auch wenn die historische Rolle der Parteien anerkannt wird, so fühlen sie sich heute dazu berufen, ausgehend von den Territorien eine politische Kraft aufzubauen, die sich nicht durch Verhandlungen mit denen von Oben belastet sehen, sondern ihre gesamte selbstorganisierte Macht im Protest, in der Versammlung und der Selbstverwaltung der Stadtviertel entfalten kann.
Die Gefahr der lokalen Begrenztheit ist in jeder Initiative vorhanden, die in einem bestimmten Gebiet verwurzelt ist. Doch im Falle der Versammlungen wurden sie durch die Umstände im Land angestoßen, sich nahezu von Beginn des Aufstandes an zu verbinden. In Santiago begann sich ab Ende Oktober die CAT-Initiative zu organisieren, mit dem Ziel, die Verschiedenheit der organisatorischen Erfahrungen zusammenzubringen, die in der Metropolregion entstanden waren. Heute beteiligen sich mehr als 50 Versammlungen an der CAT und am 18. Januar berief sie ein Treffen ein, bei dem 1.000 Personen zusammenkamen, um einen Kampfplan für das Jahr 2020 zu diskutieren. Gegenwärtig entsteht eine landesweite Koordination, um ein "Nationales Treffen der Versammlungen" zu organisieren.
Taktiken: Das Auftauchen der demokratischen Gewalt
Am zweiten Tag des "Ausbruchs", während wir uns über die Taktiken des Aufstands unterhielten, sagte eine Nachbarin zu mir: "Gut, das Volk nimmt den Kampf an der Stelle wieder auf, wo es ihn beim letzten Mal aufgehört hat". Die Schönheit und Kraft dieses Bildes sollte von einem Blick auf die Sprünge begleitet werden, die wir in dieser Revolte sehen. Eine Lebensform inmitten eines Transformationsprozesses beinhaltet eine veränderte Form des Kampfes.
In den vergangenen Monaten haben wir das erneute Auftauchen einer besonderen Form der massenhaften politischen Gewalt in Chile erlebt: die demokratische Gewalt. Es handelt sich um eine praktische und symbolische Bestätigung der Gewalt mit politischen Zielen, die sich rund um den Bruch mit der kapitalistischen Normalität und einer Periode der Destabilisierung organisiert; sie garantiert in sich selbst keine neue soziale Ordnung, aber ermöglicht es, diese aufzuzeigen.
Es handelt sich um eine demokratische Gewalt gegen den Staatsterrorismus, was sich mit jeder Barrikade bewahrheitete, die die Ausgangssperre herausforderte, mit jeder Besetzung des öffentlichen Raums, der es gelang, die Militärs aus den Straßen zu treiben (nach fast zehn Tagen des Ausnahmezustands), mit jeder spontanen Demonstration, die Nachbarinnen und Nachbarn desselben Viertels vereinte, um die politische Debatte mit anderen Mittel fortzusetzen.
Wenn man sich nicht von den Katastrophenberichten der traditionellen Presse und der Vertreter der Ordnungskräfte beeinflussen lässt, kann man den demokratischen Charakter der Formen des Aufstandes erkennen: Er ist kollektiv und nicht individuell, er verteilt Aufgaben ohne Hierarchien, er besitzt absolute Klarheit über seine Ziele und greift das Volk nicht an.
Schließlich ist es eine demokratische Gewalt, weil sie die "primera linea" in einem Prozess bildet, der sein Programm nur durch eine von der Bevölkerung ausgehende und revolutionäre Demokratie in Chile erreichen kann. Von der Bevölkerung ausgehend, weil die Massen mit ihren vielfältigen organisatorischen Ausdrucksweisen die Protagonisten sein müssen; und revolutionär, weil der Prozess eine radikale Transformation der bestehenden Institutionen braucht, um den Interessen der neuen plurinationalen arbeitenden Klasse Chiles Raum zu geben. Nur auf diese Weise ist das "Minimalprogramm" des Aufstandes umsetzbar: Wahrheit und Strafverfolgung der Politiker und Kriminellen, die für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, grundlegende Veränderungen in den Bereichen Gesundheit, Lohn, Renten, Bildung, Abtreibung und andere soziale Rechte sowie eine freie und souveräne verfassunggebende Versammlung, ohne Bindungen an den Kongress oder die Regierung.
Die vollendetste Form dieser demokratischen Gewalt hatte ihren Vorläufer während des Feministischen Generalstreiks, zu dem die Feministische Koordination 8M am 8. März 2019 aufgerufen hatte. Dieser Tag repräsentierte die Rückkehr der Generalstreik-Taktik ins politische Leben in einer nie dagewesenen Weise: Ausgerufen von Arbeiterinnen, Angestellten in Lohn- und in prekären Verhältnissen und unbezahlten Arbeiterinnen öffnete er den Weg für eine starke Politisierung sehr vieler aus der arbeitenden Klasse rund um eine Taktik, von der angenommen worden war, dass sie auf gewerkschaftlich organisierte Arbeiter beschränkt sei.
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•NEUER BEITRAG05.05.2020, 14:16 Uhr
EDIT: FPeregrin
05.05.2020, 14:17 Uhr
05.05.2020, 14:17 Uhr
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Strategische Hypothesen: Der neue soziale Pakt versus die Vertiefung der politischen Krise
Am 12. November 2019 kehrte der Generalstreik erneut in den Mittelpunkt zurück, als es eine explosive Kombination aus wirkungsvollen Behinderungen im öffentlichen und privaten Sektor mit Straßensperren, Demonstrationen und Barrikaden in ganz Chile gab.5 Der 12N ermöglichte es, Stellung zu beziehen. Die Regierung und ihre Parteien, die den möglichen Überraschungseffekt der militärischen Karte sehr früh verspielt hatten, sahen sich gezwungen, mit den Oppositionsparteien zu verhandeln.
Innerhalb von 48 Stunden schlugen sie vor, eine "Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung" voranzubringen, die es erlauben würde, gleichzeitig die politischen Kräfte des Establishments mit der Dringlichkeit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in Einklang zu bringen und die Ausbreitung der sozialen und politischen Krise auf den Bereich der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu reduzieren.
Am frühen Morgen des 15. Novembers wurde diese Vereinbarung im Rahmen einer Live-Übertragung, die einer Realityshow würdig war, unterzeichnet. Sie repräsentierte den Kurswechsel, der die politische Initiative zurück an die Regierung und an eine neue, erweiterte "Partei der Ordnung" gab, die aus der rechten Regierungskoalition Chile Vamos, den alten Parteien der Concertación und einem Teil der neuen Progressiven der Frente Amplio bestand.6
Die Entscheidung der Kommunistischen Partei (gemeinsam mit dem linksgerichteten Flügel der Frente Amplio, der schnell entschied, die Koalition zu verlassen), besagte Vereinbarung nicht zu unterzeichnen, ließ den Versuch scheitern, die Konjunktur über die politisch-institutionelle Flanke zu beenden. Die Gewerkschaftsführungen und Anführer zahlreicher sozialer Bewegungen, ebenso wie der Zusammenschluss der lokalen Versammlungen, wiesen die "Vereinbarung für den Frieden" zurück, weil sie die demokratische Gewalt kriminalisierte, zu der sich die Vorsitzenden aktiv bekannten; gleichzeitig reduzierte sie die Chancen für eine souveräne verfassunggebende Versammlung auf einen Prozess, der als "Verfassungskonvent" (Convención Constitucional) bezeichnet wurde – maßgeschneidert für das Regime (die Freihandelsabkommen stehen nicht zur Diskussion) und für die Parteien (mit einem Quorum von zwei Dritteln und einem repräsentativen Wahlsystem, das Frauen, indigene Gemeinschaften und parteilose, unabhängige Kandidaten ausschließt).
Es besteht kein Zweifel, dass die Möglichkeit, eine neue Verfassung zu erarbeiten, das direkte Resultat des Aufstandes ist. Die Regierung hatte dies kurz zuvor noch explizit abgelehnt. Seit jenem Tag dreht sich die politische Auseinandersetzung im Land zunehmend um den konstitutionellen Kurs, den die Regierungsvereinbarung festlegt. Doch auf lange Sicht hat sie dazu geführt, hinsichtlich der Charakters und der Entwicklungsmöglichkeiten der Krise die Fronten zu klären.
Für die Regierungs- und ihre Co-Abgeordneten in der Concertación und das, was von der Frente Amplio übrig geblieben ist, ist diese Krise eine Chance für einen "neuen sozialen Pakt". Dieser Pakt hat sehr klare Merkmale: Die grundlegenden Aspekte der kapitalistischen Normalität in Chile sollen erhalten bleiben (von der präsidialen Autorität und der Macht des Kongresses bis hin zur Vorherrschaft des Marktes über die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen sowie die private Kontrolle über Land und Wasser als Rohstoffquellen); und die Mechanismen der sozialen Kontrolle sollen aktualisiert werden, um für Auseinandersetzungen mit zukünftigen Krisen besser gerüstet zu sein (dies beinhaltet eine Reihe repressiver Gesetze mit erhöhten Haftstrafen für Plünderungen, Barrikaden und Konfrontationen mit Ordnungskräften sowie die Möglichkeit des Militäreinsatzes in den Straßen, ohne dass dafür ein Ausnahmezustand ausgerufen werden muss).
Indem sie die sogenannte Politik der Vereinbarungen des demokratischen Übergangs der 1990er Jahre neu auflegen wollen, fährt diese neue erweiterte Partei der Ordnung in einem äußerst instabilen globalen Szenario eine konservative Strategie, die kläglich scheitern könnte angesichts der gegen das Establishment gerichteten rechten Sektoren in einer Zeit der akuteren Krise.7
Für die Linke und die in sozialen Bewegungen und Versammlungen organisierte Bevölkerung ist diese Konjunktur eine Chance gewesen, um mit einer Strategie zur Vertiefung der politischen Krise weiterzukommen; sie leitet einen Prozess der programmatischen Klärung und der Organisierung einer sozialen und politischen Kraft ein, eine Gegenoffensive, um das neoliberale politische und soziale Regime zu Fall zu bringen. Dieser breite und heterogene sozialpolitische Sektor hat richtig erkannt, dass die grundlegende Anfechtung der Lebensbedingungen in Chile das Potential hat, eine vorteilhafte Wechselwirkung für die neue plurinationale arbeitende Klasse zu schaffen. Aus diesem Grund hat sich eine Haltung ständiger Mobilisierung in den Straßen und Vierteln und eine konfrontative Position hinsichtlich des Weges für eine neue Verfassung durchgesetzt.
Diese Strategie der Vertiefung der politischen Krise entspricht dem langwierigen Charakter der Konjunktur. Dieser Wesenszug wurde deutlich, als es nicht einmal durch die "Vereinbarung für den Frieden" gelang, die auch einen Monat nach dem 18. Oktober nach wie vor massenhaften Demonstrationen zu beschwichtigen. Trotz der langen Vorgeschichte der Organisierung vor dem Aufstand und des explosiven Auftauchens neuer Bereiche der Selbstorganisation der Bevölkerung hat uns der Oktober mit einer geringen politischen Kapazität erwischt; das heißt, ohne eine substantielle Alternative und ohne das notwendige Organisationsniveau, damit der Sturz des Regimes durch die Errichtung einer neuen sozialen Ordnung ersetzt wird, die den Interessen der Bevölkerung entspricht.
Folglich bedarf es mittelfristig einer Strategie der Akkumulation der Kräfte. Hierbei hat sich jede Intervention daran zu orientieren, die Fähigkeit der sozialen und politischen Kräfte der plurinationalen arbeitenden Klasse zu steigern, um einen Bruch mit dem Regime zu vollziehen. Es ist denkbar, dass dieser Bruch nur in einem Szenario einer größeren sozialen Krise möglich sein wird, wenn die Integrationsmechanismen über die Sozialausgaben durch eine Verschärfung der aktuellen Wirtschaftskrise beträchtlich eingeschränkt würden. In diesem Szenario könnte nur eine Konfrontation mit Enteignungscharakter einen für das Volk günstigen Ausgang ermöglichen, da auf der anderen Seite der Druck zur Steigerung der Prekarisierung des Lebens unserer Völker stehen würde, mit der daraus folgenden Repression.
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Strategische Hypothesen: Der neue soziale Pakt versus die Vertiefung der politischen Krise
Am 12. November 2019 kehrte der Generalstreik erneut in den Mittelpunkt zurück, als es eine explosive Kombination aus wirkungsvollen Behinderungen im öffentlichen und privaten Sektor mit Straßensperren, Demonstrationen und Barrikaden in ganz Chile gab.5 Der 12N ermöglichte es, Stellung zu beziehen. Die Regierung und ihre Parteien, die den möglichen Überraschungseffekt der militärischen Karte sehr früh verspielt hatten, sahen sich gezwungen, mit den Oppositionsparteien zu verhandeln.
Innerhalb von 48 Stunden schlugen sie vor, eine "Vereinbarung für den sozialen Frieden und die neue Verfassung" voranzubringen, die es erlauben würde, gleichzeitig die politischen Kräfte des Establishments mit der Dringlichkeit der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung in Einklang zu bringen und die Ausbreitung der sozialen und politischen Krise auf den Bereich der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu reduzieren.
Am frühen Morgen des 15. Novembers wurde diese Vereinbarung im Rahmen einer Live-Übertragung, die einer Realityshow würdig war, unterzeichnet. Sie repräsentierte den Kurswechsel, der die politische Initiative zurück an die Regierung und an eine neue, erweiterte "Partei der Ordnung" gab, die aus der rechten Regierungskoalition Chile Vamos, den alten Parteien der Concertación und einem Teil der neuen Progressiven der Frente Amplio bestand.6
Die Entscheidung der Kommunistischen Partei (gemeinsam mit dem linksgerichteten Flügel der Frente Amplio, der schnell entschied, die Koalition zu verlassen), besagte Vereinbarung nicht zu unterzeichnen, ließ den Versuch scheitern, die Konjunktur über die politisch-institutionelle Flanke zu beenden. Die Gewerkschaftsführungen und Anführer zahlreicher sozialer Bewegungen, ebenso wie der Zusammenschluss der lokalen Versammlungen, wiesen die "Vereinbarung für den Frieden" zurück, weil sie die demokratische Gewalt kriminalisierte, zu der sich die Vorsitzenden aktiv bekannten; gleichzeitig reduzierte sie die Chancen für eine souveräne verfassunggebende Versammlung auf einen Prozess, der als "Verfassungskonvent" (Convención Constitucional) bezeichnet wurde – maßgeschneidert für das Regime (die Freihandelsabkommen stehen nicht zur Diskussion) und für die Parteien (mit einem Quorum von zwei Dritteln und einem repräsentativen Wahlsystem, das Frauen, indigene Gemeinschaften und parteilose, unabhängige Kandidaten ausschließt).
Es besteht kein Zweifel, dass die Möglichkeit, eine neue Verfassung zu erarbeiten, das direkte Resultat des Aufstandes ist. Die Regierung hatte dies kurz zuvor noch explizit abgelehnt. Seit jenem Tag dreht sich die politische Auseinandersetzung im Land zunehmend um den konstitutionellen Kurs, den die Regierungsvereinbarung festlegt. Doch auf lange Sicht hat sie dazu geführt, hinsichtlich der Charakters und der Entwicklungsmöglichkeiten der Krise die Fronten zu klären.
Für die Regierungs- und ihre Co-Abgeordneten in der Concertación und das, was von der Frente Amplio übrig geblieben ist, ist diese Krise eine Chance für einen "neuen sozialen Pakt". Dieser Pakt hat sehr klare Merkmale: Die grundlegenden Aspekte der kapitalistischen Normalität in Chile sollen erhalten bleiben (von der präsidialen Autorität und der Macht des Kongresses bis hin zur Vorherrschaft des Marktes über die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen sowie die private Kontrolle über Land und Wasser als Rohstoffquellen); und die Mechanismen der sozialen Kontrolle sollen aktualisiert werden, um für Auseinandersetzungen mit zukünftigen Krisen besser gerüstet zu sein (dies beinhaltet eine Reihe repressiver Gesetze mit erhöhten Haftstrafen für Plünderungen, Barrikaden und Konfrontationen mit Ordnungskräften sowie die Möglichkeit des Militäreinsatzes in den Straßen, ohne dass dafür ein Ausnahmezustand ausgerufen werden muss).
Indem sie die sogenannte Politik der Vereinbarungen des demokratischen Übergangs der 1990er Jahre neu auflegen wollen, fährt diese neue erweiterte Partei der Ordnung in einem äußerst instabilen globalen Szenario eine konservative Strategie, die kläglich scheitern könnte angesichts der gegen das Establishment gerichteten rechten Sektoren in einer Zeit der akuteren Krise.7
Für die Linke und die in sozialen Bewegungen und Versammlungen organisierte Bevölkerung ist diese Konjunktur eine Chance gewesen, um mit einer Strategie zur Vertiefung der politischen Krise weiterzukommen; sie leitet einen Prozess der programmatischen Klärung und der Organisierung einer sozialen und politischen Kraft ein, eine Gegenoffensive, um das neoliberale politische und soziale Regime zu Fall zu bringen. Dieser breite und heterogene sozialpolitische Sektor hat richtig erkannt, dass die grundlegende Anfechtung der Lebensbedingungen in Chile das Potential hat, eine vorteilhafte Wechselwirkung für die neue plurinationale arbeitende Klasse zu schaffen. Aus diesem Grund hat sich eine Haltung ständiger Mobilisierung in den Straßen und Vierteln und eine konfrontative Position hinsichtlich des Weges für eine neue Verfassung durchgesetzt.
Diese Strategie der Vertiefung der politischen Krise entspricht dem langwierigen Charakter der Konjunktur. Dieser Wesenszug wurde deutlich, als es nicht einmal durch die "Vereinbarung für den Frieden" gelang, die auch einen Monat nach dem 18. Oktober nach wie vor massenhaften Demonstrationen zu beschwichtigen. Trotz der langen Vorgeschichte der Organisierung vor dem Aufstand und des explosiven Auftauchens neuer Bereiche der Selbstorganisation der Bevölkerung hat uns der Oktober mit einer geringen politischen Kapazität erwischt; das heißt, ohne eine substantielle Alternative und ohne das notwendige Organisationsniveau, damit der Sturz des Regimes durch die Errichtung einer neuen sozialen Ordnung ersetzt wird, die den Interessen der Bevölkerung entspricht.
Folglich bedarf es mittelfristig einer Strategie der Akkumulation der Kräfte. Hierbei hat sich jede Intervention daran zu orientieren, die Fähigkeit der sozialen und politischen Kräfte der plurinationalen arbeitenden Klasse zu steigern, um einen Bruch mit dem Regime zu vollziehen. Es ist denkbar, dass dieser Bruch nur in einem Szenario einer größeren sozialen Krise möglich sein wird, wenn die Integrationsmechanismen über die Sozialausgaben durch eine Verschärfung der aktuellen Wirtschaftskrise beträchtlich eingeschränkt würden. In diesem Szenario könnte nur eine Konfrontation mit Enteignungscharakter einen für das Volk günstigen Ausgang ermöglichen, da auf der anderen Seite der Druck zur Steigerung der Prekarisierung des Lebens unserer Völker stehen würde, mit der daraus folgenden Repression.
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•NEUER BEITRAG05.05.2020, 14:18 Uhr
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FPeregrin | |
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Die Probleme des gegenwärtigen Moments
Ich möchte diese Reflexion über den chilenischen Oktober mit einem Blick auf einige Probleme schließen, mit denen die gesellschaftlichen Kräfte in Chile konfrontiert sind.
Die Sackgasse der "Vereinbarung für den Frieden" und der Weg hin zur verfassunggebenden Versammlung
Obwohl die Revolte in subjektiver Hinsicht einen Fortschritt darstellt, sind ihre objektiven Errungenschaften sehr viel bescheidener. Millionen auf den Straßen und ein Generalstreik weisen auf eine sehr schlagkräftige Neuzusammensetzung und "Wiederbewaffnung" hin; doch bislang besteht das Nettoergebnis der Konjunktur in einer sozialen Agenda, deren wesentlicher Erfolg eine Rentenreform ist. Mit breiten parlamentarischen Mehrheiten wurden indes repressive Gesetze und ein für das Regime maßgeschneiderter Kurs für eine Verfassungsreform beschlossen.
Die Regierung hat darauf gesetzt, die "soziale Agenda" und die "politische Agenda" voneinander zu trennen, wobei Erstere auf die Rückkehr zur Normalität und Letztere auf die Verfassungsänderung reduziert wird. Die Kräfte der Linken stehen heute davor, diese Trennung auf ihre eigene Art zu wiederholen, wenn sie es nicht schaffen, den Kampf gegen die Straflosigkeit, grundlegende soziale Forderungen und die Auseinandersetzung um den Verfassungsprozess miteinander zu verbinden. Dies ist das Minimalprogramm der aktuellen Situation.
Es sind stürmische Wochen für die Organisationen gewesen, die sich mobilisiert haben oder die seit Oktober neu entstanden sind. Die Dringlichkeit, gegenüber dem konstitutionellen Kurs der "Vereinbarung für den Frieden" und besonders zur Volksbefragung am 26. April8 Stellung zu beziehen, war überall spürbar. Die zentralen Bedrohungen des gegenwärtigen Moments zeichnen sich ab : Dass uns die Notwendigkeit der Positionierung dazu bringt, uns zu spalten, und uns zugleich das Fehlen einer Position an den Rand drängt.
Daher kann nur eine Taktik angemessen auf diese Situation reagieren, die die Mobilisierung der Bevölkerung (in Form von Straßenprotest als auch in Form lokaler verfassunggebender Organisation) rund um dieses Minimalprogramm zum Ausdruck bringt. Diese Taktik erfordert die größtmögliche Einheit hinsichtlich der gemeinsamen Punkte und den ausdrücklichen Willen der taktischen Koexistenz zwischen gesellschaftlichen und politischen Kräften, die dasselbe Programm teilen (und den gleichen Hauptgegner: die Rechte an der Regierung).
Der Vorschlag, der bislang die größte Zustimmung sowohl bei denen findet, die am konstitutionellen Kurs teilnehmen, als auch bei denen, die eine Teilnahme ablehnen, ist der einer Popularen Verfassunggebenden Versammlung (Asamblea Popular Constituyente, APC), die eigenständig von Versammlungen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen werden und einen feministischen und plurinationalen Charakter haben soll.
Wenn diese Versammlung vor dem Verfassungskonvent stattfindet, der im Rahmen der Regierungsvereinbarung geplant ist, würde sie für die Verfassungsdebatte als eine Instanz der Einheit dienen und eine verfassunggebende populare Kraft vorbereiten, die eine "innere" und "äußere" Wirkung auf den offiziellen Verfassungsprozess hätte.
Wenn sie auch nur in der Lage wäre, verfassungsgebende Mandate aufzustellen, die als programmatische Schützengräben dienen könnten, von denen aus die popularen Organisationen ihre Position in einer nationalen Verfassungsdebatte verteidigen könnten (unabhängig davon, ob sie am Verfassungskonvent der "Vereinbarung für den Frieden" teilnehmen oder nicht), dann hätte sie ihr Minimalziel erreicht.
Es ist aber auch möglich, dass sie zu neuen Bündnissen und zum Entstehen politischer Kräfte führt, denen es gelingt, den Kampfgeist und das Programm der Revolte für eine neue Etappe zu verkörpern.
Jede Beteiligung am Referendum muss ab sofort der Notwendigkeit untergeordnet werden, diese Ausübung programmatischer Souveränität zu realisieren. Die notwendige taktische Schlussfolgerung ist, dass, wenn kein wirksamer Prozess der Verfassungsänderung eingeleitet wird, man sich eine Populare Verfassunggebende Versammlung nicht einmal vorstellen kann.
Aus diesem Grund ist das günstigste Szenario für die Einberufung einer APC eine hohe Wahlbeteiligung beim Plebiszit, ein mehrheitlicher Sieg über die "Vereinbarung für den Frieden" mit über 70 Prozent und eine ähnliche Abstimmung für den Verfassungskonvent. Ein Sieg der Option "Ablehnung" (eines Verfassungsreform) würde einen Erfolg für die Rechte bedeuten (die das größte Interesse daran hat, dass kein konstitutioneller Wandel stattfindet) und eine niedrige Beteiligung bei der "Zustimmung" würde wahrscheinlich bedeuten, dass die traditionellen Mitte-links-Kräfte eine Hauptrolle übernehmen, da es das Votum ihres härtesten Kerns darstellen würde.
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Die Probleme des gegenwärtigen Moments
Ich möchte diese Reflexion über den chilenischen Oktober mit einem Blick auf einige Probleme schließen, mit denen die gesellschaftlichen Kräfte in Chile konfrontiert sind.
Die Sackgasse der "Vereinbarung für den Frieden" und der Weg hin zur verfassunggebenden Versammlung
Obwohl die Revolte in subjektiver Hinsicht einen Fortschritt darstellt, sind ihre objektiven Errungenschaften sehr viel bescheidener. Millionen auf den Straßen und ein Generalstreik weisen auf eine sehr schlagkräftige Neuzusammensetzung und "Wiederbewaffnung" hin; doch bislang besteht das Nettoergebnis der Konjunktur in einer sozialen Agenda, deren wesentlicher Erfolg eine Rentenreform ist. Mit breiten parlamentarischen Mehrheiten wurden indes repressive Gesetze und ein für das Regime maßgeschneiderter Kurs für eine Verfassungsreform beschlossen.
Die Regierung hat darauf gesetzt, die "soziale Agenda" und die "politische Agenda" voneinander zu trennen, wobei Erstere auf die Rückkehr zur Normalität und Letztere auf die Verfassungsänderung reduziert wird. Die Kräfte der Linken stehen heute davor, diese Trennung auf ihre eigene Art zu wiederholen, wenn sie es nicht schaffen, den Kampf gegen die Straflosigkeit, grundlegende soziale Forderungen und die Auseinandersetzung um den Verfassungsprozess miteinander zu verbinden. Dies ist das Minimalprogramm der aktuellen Situation.
Es sind stürmische Wochen für die Organisationen gewesen, die sich mobilisiert haben oder die seit Oktober neu entstanden sind. Die Dringlichkeit, gegenüber dem konstitutionellen Kurs der "Vereinbarung für den Frieden" und besonders zur Volksbefragung am 26. April8 Stellung zu beziehen, war überall spürbar. Die zentralen Bedrohungen des gegenwärtigen Moments zeichnen sich ab : Dass uns die Notwendigkeit der Positionierung dazu bringt, uns zu spalten, und uns zugleich das Fehlen einer Position an den Rand drängt.
Daher kann nur eine Taktik angemessen auf diese Situation reagieren, die die Mobilisierung der Bevölkerung (in Form von Straßenprotest als auch in Form lokaler verfassunggebender Organisation) rund um dieses Minimalprogramm zum Ausdruck bringt. Diese Taktik erfordert die größtmögliche Einheit hinsichtlich der gemeinsamen Punkte und den ausdrücklichen Willen der taktischen Koexistenz zwischen gesellschaftlichen und politischen Kräften, die dasselbe Programm teilen (und den gleichen Hauptgegner: die Rechte an der Regierung).
Der Vorschlag, der bislang die größte Zustimmung sowohl bei denen findet, die am konstitutionellen Kurs teilnehmen, als auch bei denen, die eine Teilnahme ablehnen, ist der einer Popularen Verfassunggebenden Versammlung (Asamblea Popular Constituyente, APC), die eigenständig von Versammlungen, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften einberufen werden und einen feministischen und plurinationalen Charakter haben soll.
Wenn diese Versammlung vor dem Verfassungskonvent stattfindet, der im Rahmen der Regierungsvereinbarung geplant ist, würde sie für die Verfassungsdebatte als eine Instanz der Einheit dienen und eine verfassunggebende populare Kraft vorbereiten, die eine "innere" und "äußere" Wirkung auf den offiziellen Verfassungsprozess hätte.
Wenn sie auch nur in der Lage wäre, verfassungsgebende Mandate aufzustellen, die als programmatische Schützengräben dienen könnten, von denen aus die popularen Organisationen ihre Position in einer nationalen Verfassungsdebatte verteidigen könnten (unabhängig davon, ob sie am Verfassungskonvent der "Vereinbarung für den Frieden" teilnehmen oder nicht), dann hätte sie ihr Minimalziel erreicht.
Es ist aber auch möglich, dass sie zu neuen Bündnissen und zum Entstehen politischer Kräfte führt, denen es gelingt, den Kampfgeist und das Programm der Revolte für eine neue Etappe zu verkörpern.
Jede Beteiligung am Referendum muss ab sofort der Notwendigkeit untergeordnet werden, diese Ausübung programmatischer Souveränität zu realisieren. Die notwendige taktische Schlussfolgerung ist, dass, wenn kein wirksamer Prozess der Verfassungsänderung eingeleitet wird, man sich eine Populare Verfassunggebende Versammlung nicht einmal vorstellen kann.
Aus diesem Grund ist das günstigste Szenario für die Einberufung einer APC eine hohe Wahlbeteiligung beim Plebiszit, ein mehrheitlicher Sieg über die "Vereinbarung für den Frieden" mit über 70 Prozent und eine ähnliche Abstimmung für den Verfassungskonvent. Ein Sieg der Option "Ablehnung" (eines Verfassungsreform) würde einen Erfolg für die Rechte bedeuten (die das größte Interesse daran hat, dass kein konstitutioneller Wandel stattfindet) und eine niedrige Beteiligung bei der "Zustimmung" würde wahrscheinlich bedeuten, dass die traditionellen Mitte-links-Kräfte eine Hauptrolle übernehmen, da es das Votum ihres härtesten Kerns darstellen würde.
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