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•NEUES THEMA11.07.2015, 19:25 Uhr
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• Massaker von Oradour für immer ungesühnt
Das bürgerliche Deutschland, wie man es kennt, wenn es um die Nichtaufarbeitung der eigenen Verbrechen geht. Auch wenn man solches bereits gewohnt ist, trotzdem einfach beschämend.
Oradour für immer ungesühnt
Kölner Justiz verhindert Gerichtsverfahren und Aufarbeitung des Massakers
Von Florence Hervé, jW 11.07.2015
Schweigen über Oradour. In den hiesigen Medien war der Beschluss zur Nichteröffnung des Hauptverfahrens wegen der Beteiligung eines 90jährigen Kölners am Massaker im französischen Oradour-sur-Glane im Juni 1944 kaum eine Meldung wert. Damals wurde das Dorf von der SS-Panzerdivision Das Reich in Schutt und Asche gelegt – 642 Menschen wurden erschossen, verbrannt, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft hatte nach monatelangen Ermittlungen Klage gegen einen einstigen Angehörigen der SS-Division Klage erhoben, wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an 25 Männern und Beihilfe zum Mord an Hunderten Frauen und Kindern. Das Landgericht Köln lehnte im vergangenen Dezember die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Die Staatsanwaltschaft Dortmund und mehrere Nebenkläger – darunter Angehörige der Opfer – legten eine sofortige Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Köln entschied am 12. Juni, dass es keinen Oradour-Prozess geben soll. Wegen Mangels an Beweisen – eine »konkrete Beteiligung an einzelnen Tötungsdelikten bzw. Beihilfehandlungen (könne) nicht nachgewiesen werden«. Das Massaker sei ein individueller Racheakt eines Bataillonschefs des SS-Regiments »Der Führer« gewesen, um die Bevölkerung abzuschrecken. Von der Systematik des menschenverachtenden und vernichtenden NS-Regimes, der Logik des Eroberungs- und Vernichtungskrieges, und der Fememorde war nicht die Rede.
Ignoriert wird, dass solche Massaker an Zivilisten sozusagen zum Alltag der Nazis gehörten, ob in Distomo, Lidice, Babi Jar, Tulle oder Marzabotto. Der Rechtsanwalt und Historiker Serge Klarsfeld, einer der Nebenklagevertreter in diesem Oradour-Verfahren, schreibt in seinen Memoiren: Er habe den Auftritt des Angeklagten Werner Christukat über seine angebliche Unschuld im Fernsehen zunächst als überzeugend wahrgenommen. Als er aber erfuhr, dass sich Christukat schon 1943 bei der Waffen SS in der Ukraine befand, war für ihn klar: Die Behauptung der Unschuld sei eine Lüge. Daraufhin beantragte er seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt in der Pariser Rechtsanwaltskammer, die er altersbedingt zurückgegeben hatte. Er wurde Nebenklagevertreter für einen Angehörigen der in der Kirche verbrannten Denise Bardet. Die junge Lehrerin, die zusammen mit ihrer Schulklasse am 10. Juni 1944 ermordet worden war, hatte in ihrem postum erschienenen Tagebuch geschrieben: »Man darf die Nazibarbarei mit Deutschland nicht gleichsetzen« und auf das andere Deutschland des Exils verwiesen.
Die Enttäuschung über das Urteil ist groß unter Opferangehörigen und Antifaschisten. Robert Hébras, einer der letzten Überlebenden, der an seinem 90. Geburtstag am 29. Juni 2015 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse – offenbar als Wiedergutmachung – erhielt, sagt: »Ich bin zutiefst enttäuscht, aber ich bin nicht überrascht.« Im letzten Jahr hatte er bereits desillusioniert festgestellt: »Offensichtlich will keiner der Soldaten in Oradour etwas gesehen oder hinter dem Maschinengewehr gestanden haben. Aber woher kommen dann die 642 Toten?« Die Historikerin Bernadette Malinvaud, Präsidentin des Vereins »Oradour, Wachsamkeit und Versöhnung« zeigt sich schockiert: »Ich bin entrüstet«. Die Nazijägerin Beate Klarsfeld ist ebenfalls enttäuscht, auch wenn sie positiv findet, dass Deutschland endlich solche Prozesse führen will. Bei der Begründung der Kölner Richterin zum Beschluss des OLG habe sie den Eindruck, diese habe befürchtet, Anklage zu erheben in einem Prozess, der womöglich zu einem Freispruch geführt hätte.
Der Fall Oradour soll damit juristisch ad acta gelegt werden. Die Hauptverantwortlichen des Massakers sind tot, sie wurden von der Justiz in der BRD verschont. Lediglich ein SS-Angehöriger musste sich für das Verbrechen verantworten. Heinz Barth wurde zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt - 1983 in der DDR. Gegen einen der letzten SS-Leute wird nun kein Prozess stattfinden. Damit ist die Chance vertan, das bis heute ungesühnte Massaker juristisch in Deutschland überhaupt aufzuarbeiten und den wenigen überlebenden Opfern nach 70 Jahren etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Es ist an der Zeit, dass eine politische und historische Auseinandersetzung über Oradour in Deutschland stattfindet, dass Historiker die Interpretation der Verbrechen in Oradour nicht den Rechtsextremen überlassen und dass das Massaker endlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wird.
Florence Hervé ist mit Martin Graf (Fotografien) Herausgeberin des Buchs: »Oradour – Geschichte eines Massakers /Histoire d’un massacre«, PapyRossa Verlag Köln 2014, 18 €
Oradour-Fotoausstellung vom 1. bis 13. September im Rathaus von Hannover (Bürgersaal), Vernissage mit Martin Graf am 1. 9., Lesung mit Florence Hervé am 10.9.
Oradour für immer ungesühnt
Kölner Justiz verhindert Gerichtsverfahren und Aufarbeitung des Massakers
Von Florence Hervé, jW 11.07.2015
Schweigen über Oradour. In den hiesigen Medien war der Beschluss zur Nichteröffnung des Hauptverfahrens wegen der Beteiligung eines 90jährigen Kölners am Massaker im französischen Oradour-sur-Glane im Juni 1944 kaum eine Meldung wert. Damals wurde das Dorf von der SS-Panzerdivision Das Reich in Schutt und Asche gelegt – 642 Menschen wurden erschossen, verbrannt, in der Mehrzahl Frauen und Kinder. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft hatte nach monatelangen Ermittlungen Klage gegen einen einstigen Angehörigen der SS-Division Klage erhoben, wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an 25 Männern und Beihilfe zum Mord an Hunderten Frauen und Kindern. Das Landgericht Köln lehnte im vergangenen Dezember die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Die Staatsanwaltschaft Dortmund und mehrere Nebenkläger – darunter Angehörige der Opfer – legten eine sofortige Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Köln entschied am 12. Juni, dass es keinen Oradour-Prozess geben soll. Wegen Mangels an Beweisen – eine »konkrete Beteiligung an einzelnen Tötungsdelikten bzw. Beihilfehandlungen (könne) nicht nachgewiesen werden«. Das Massaker sei ein individueller Racheakt eines Bataillonschefs des SS-Regiments »Der Führer« gewesen, um die Bevölkerung abzuschrecken. Von der Systematik des menschenverachtenden und vernichtenden NS-Regimes, der Logik des Eroberungs- und Vernichtungskrieges, und der Fememorde war nicht die Rede.
Ignoriert wird, dass solche Massaker an Zivilisten sozusagen zum Alltag der Nazis gehörten, ob in Distomo, Lidice, Babi Jar, Tulle oder Marzabotto. Der Rechtsanwalt und Historiker Serge Klarsfeld, einer der Nebenklagevertreter in diesem Oradour-Verfahren, schreibt in seinen Memoiren: Er habe den Auftritt des Angeklagten Werner Christukat über seine angebliche Unschuld im Fernsehen zunächst als überzeugend wahrgenommen. Als er aber erfuhr, dass sich Christukat schon 1943 bei der Waffen SS in der Ukraine befand, war für ihn klar: Die Behauptung der Unschuld sei eine Lüge. Daraufhin beantragte er seine Wiederzulassung als Rechtsanwalt in der Pariser Rechtsanwaltskammer, die er altersbedingt zurückgegeben hatte. Er wurde Nebenklagevertreter für einen Angehörigen der in der Kirche verbrannten Denise Bardet. Die junge Lehrerin, die zusammen mit ihrer Schulklasse am 10. Juni 1944 ermordet worden war, hatte in ihrem postum erschienenen Tagebuch geschrieben: »Man darf die Nazibarbarei mit Deutschland nicht gleichsetzen« und auf das andere Deutschland des Exils verwiesen.
Die Enttäuschung über das Urteil ist groß unter Opferangehörigen und Antifaschisten. Robert Hébras, einer der letzten Überlebenden, der an seinem 90. Geburtstag am 29. Juni 2015 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse – offenbar als Wiedergutmachung – erhielt, sagt: »Ich bin zutiefst enttäuscht, aber ich bin nicht überrascht.« Im letzten Jahr hatte er bereits desillusioniert festgestellt: »Offensichtlich will keiner der Soldaten in Oradour etwas gesehen oder hinter dem Maschinengewehr gestanden haben. Aber woher kommen dann die 642 Toten?« Die Historikerin Bernadette Malinvaud, Präsidentin des Vereins »Oradour, Wachsamkeit und Versöhnung« zeigt sich schockiert: »Ich bin entrüstet«. Die Nazijägerin Beate Klarsfeld ist ebenfalls enttäuscht, auch wenn sie positiv findet, dass Deutschland endlich solche Prozesse führen will. Bei der Begründung der Kölner Richterin zum Beschluss des OLG habe sie den Eindruck, diese habe befürchtet, Anklage zu erheben in einem Prozess, der womöglich zu einem Freispruch geführt hätte.
Der Fall Oradour soll damit juristisch ad acta gelegt werden. Die Hauptverantwortlichen des Massakers sind tot, sie wurden von der Justiz in der BRD verschont. Lediglich ein SS-Angehöriger musste sich für das Verbrechen verantworten. Heinz Barth wurde zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe verurteilt - 1983 in der DDR. Gegen einen der letzten SS-Leute wird nun kein Prozess stattfinden. Damit ist die Chance vertan, das bis heute ungesühnte Massaker juristisch in Deutschland überhaupt aufzuarbeiten und den wenigen überlebenden Opfern nach 70 Jahren etwas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Es ist an der Zeit, dass eine politische und historische Auseinandersetzung über Oradour in Deutschland stattfindet, dass Historiker die Interpretation der Verbrechen in Oradour nicht den Rechtsextremen überlassen und dass das Massaker endlich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft wird.
Florence Hervé ist mit Martin Graf (Fotografien) Herausgeberin des Buchs: »Oradour – Geschichte eines Massakers /Histoire d’un massacre«, PapyRossa Verlag Köln 2014, 18 €
Oradour-Fotoausstellung vom 1. bis 13. September im Rathaus von Hannover (Bürgersaal), Vernissage mit Martin Graf am 1. 9., Lesung mit Florence Hervé am 10.9.
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