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NEUES THEMA27.01.2024, 13:41 Uhr
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• 80. Jt. der Befreiung Leningrads jW heute:

Mord durch Aushungern

Vor 80 Jahren endete nach fast 900 Tagen die deutsche Blockade Leningrads. Dem Genozid fielen mehr als eine Million Menschen zum Opfer. Eine Entschädigung steht bis heute aus

Von Ulrich Schneider

Der 27. Januar ist nicht nur der internationale Gedenktag zur Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz im Jahre 1945 durch die Rote Armee, sondern in diesem Jahr auch der 80. Jahrestag der Befreiung der Stadt Leningrad. Am 27. Januar 1944 wurde die Blockade durchbrochen. Aber damit nicht genug der Parallelität. In den Jahren seiner Existenz als Konzentrations- und Vernichtungslager wurden in Auschwitz mindestens 1,1 Millionen Menschen, die hierher zur Vernichtung deportiert worden waren, ermordet. In Leningrad wurde in den knapp drei Jahren der Blockade ebenfalls mehr als eine Million Menschen ermordet, jedoch nicht durch die faschistische Vernichtungsmaschinerie, sondern durch Hunger, Mangelernährung und Kriegseinwirkung.

Verbrecherische Kriegführung

In den Welteroberungsplänen des deutschen Faschismus nahm der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 einen besonderen Platz ein. Es ging um die Rohstoffreserven der UdSSR, um die Weizenfelder und Agrarprodukte der ukrainischen Schwarzerderegion, um die Öl- und Gasvorkommen im Kaukasus, um Eisenerz und die indus­triellen Kapazitäten im Westen der Sowjetunion. Im »Fall Barbarossa« waren diese Ressourcen fest eingeplant, um einen Krieg gegen die UdSSR überhaupt führen zu können. Das nach Osten vorrückende Millionenheer sollte sich aus den Vorräten der örtlichen Bevölkerung versorgen und damit den dort lebenden Menschen, die als »slawische Untermenschen« betrachtet wurden, die Lebensgrundlage nehmen.

Zudem war der Feldzug ein ideologisch motivierter Vernichtungskrieg gegen den »jüdisch-bolschewistischen« Feind. In den »Richtlinien für das Verhalten der Truppe in Russland« vom 19. Mai 1941 heißt es: »Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jeden aktiven und passiven Widerstandes. (…) Gegenüber allen Angehörigen der Roten Armee – auch den Gefangenen – ist äußerste Zurückhaltung und schärfste Achtsamkeit geboten, da mit heimtückischer Kampfweise zu rechnen ist. Besonders die asiatischen Soldaten der Roten Armee sind undurchsichtig, unberechenbar, hinterhältig und gefühllos.«¹ Solche rassistischen Anweisungen kamen nicht aus dem Goebbels-Propagandaministerium, sondern von der deutschen Wehrmachtsführung.

Verbrecherisch war auch der von General Wilhelm Keitel unterzeichnete »Kommissarbefehl«. In der Roten Armee gab es eine Gruppe von Politoffizieren, »politische Kommissare«, die laut Anweisung der Wehrmachtsführung nicht als Kriegsgefangene behandelt werden sollten. Sie seien, so der Befehl, bereits an der Front zu töten. Wurden sie erst später entdeckt, verbrachte man sie zur Liquidierung in die Konzentrationslager. Allein im KZ Buchenwald ermordete die SS in der Exekutionsanlage im »Pferdestall« mehr als 8.000 sowjetische Häftlingen auf der Grundlage des »Kommissarbefehls«.²

Die deutsche Wehrmacht stützte sich bei ihrem Überfall auf die Sowjetunion auf ihre Verbündeten. Militärische Einheiten aus Ungarn, Rumänien, Italien, Bulgarien und selbst aus dem faschistischen Spanien (»Blaue Division«) waren an dem Überfall beteiligt. Legitimiert wurde dies mit dem Kampf gegen den Bolschewismus, den gemeinsamen Feind der Achsenmächte. Natürlich ging es auch um die Beute, von der sich alle beteiligten Staaten nach dem »Endsieg« ein Stück erhofften. So wollte beispielsweise die rumänische Regierung die moldawische Sowjetrepublik in ihr »Großrumänien« eingliedern. Gleichzeitig setzte der deutsche Faschismus in seinem Kampf gegen die Sowjetunion auch auf nationalistische Kollaborateure aus diesem Vielvölkerstaat, baltische Nationalisten, ukrainische Bandera-Einheiten und Milizen aus dem Kaukasus, die nicht nur hofften, einen eigenen Teil vom »Kuchen« zu erhalten, sondern sich auch als Freiwillige der SS-Einheiten in den antibolschewistischen Kampf einbinden ließen.

Die Wehrmacht erreichte bereits Ende August 1941 Leningrad, wo die sowjetischen Streitkräfte erbitterten Widerstand leisteten. Die Wehrmachtsführung entschied, die Stadt einzuschließen. Erobern konnten sie die Großstadt nicht. Am 8. September 1941 war der Blockadering geschlossen. Damit war Leningrad, wo damals rund drei Millionen Menschen lebten, im Süden durch deutsche Truppen von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Im Norden blockierten die Streitkräfte des mit Nazideutschland verbündeten Finnlands die Zuwege. Über den im Osten gelegenen Ladogasee konnten zeitweise und unter großen Gefahren Lebensmittel und andere Versorgungsgüter in die Stadt gebracht werden. Die Mengen reichten allerdings nicht annähernd aus, um die Bevölkerung zu ernähren, so dass auch Evakuierungen versucht wurden. Zudem begann die Wehrmacht nach der Schließung des Blockaderings, gezielt Lebensmittellager und andere Versorgungseinrichtungen zu bombardieren. So trat bereits nach wenigen Wochen ein dramatischer Mangel an Nahrung und an Energieträgern auf. Tödlicher Hunger griff um sich, die eisige Kälte kostete gleichfalls zahlreiche Menschenleben. Militärische Vorstöße der sowjetischen Streitkräfte mit dem Ziel, die Blockade zu durchbrechen, scheiterten in den folgenden Wochen mehrfach.


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NEUER BEITRAG27.01.2024, 13:44 Uhr
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Genozid durch Nichtstun

Die Blockade von Leningrad und das Aushungern der Bewohnerinnen und Bewohner war Teil der verbrecherischen Kriegführung der Nazis in Osteuropa, die mit dem Begriff »Vernichtungskrieg« treffend charakterisiert wird. In den 1990er Jahren konnte man dies in der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944« anschaulich nachvollziehen. Auch in der Geschichtswissenschaft wurde dies als Verbrechen anerkannt. So sprach der Jenaer Historiker Jörg Ganzenmüller 2004 im Zusammenhang mit der Blockade von einem »Genozid durch bloßes Nichtstun«.³

Der Hungertod war vom faschistischen Deutschland gewollt. Schon in den ersten Tagen des »Russland-Feldzuges« vermerkte Propagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch, Adolf Hitler habe die Absicht, Städte wie Moskau und Petersburg ausradieren zu lassen. Das sei notwendig. Wenn man Russland in seine einzelnen Bestandteile aufteilen wolle, dürfe es kein geistiges, politisches oder wirtschaftliches Zentrum mehr besitzen. Reichsmarschall Hermann Göring riet im September 1941, Leningrad gar nicht erst zu erobern – »aus wirtschaftlichen Überlegungen«: Die Nahrungsmittel der Sowjetunion sollten laut den Plänen der Nazis den Soldaten der Wehrmacht und nicht der sowjetischen Bevölkerung zugute kommen. »Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teiles dieser großstädtischen Bevölkerung besteht in diesem Existenzkrieg unsererseits nicht«, erklärte Hitler am 29. September 1941. Eine etwaige Kapitulation der Stadt müsse »abgeschlagen werden, da das Problem des Verbleibens und der Ernährung der Bevölkerung von uns nicht gelöst werden kann«.⁴ Diese Politik wurde nicht nur gegenüber der Stadt Leningrad umgesetzt, sondern zeigte sich anschließend auch in den Stammlagern (Stalag), wo die sowjetischen Kriegsgefangenen dem Hungertod preisgegeben wurden.

In einem Interview mit der Moskauer Deutschen Zeitung beschreibt Ganzenmüller anschaulich die Lebenswirklichkeit in diesen Jahren: »Die Lebensmittelvorräte der Stadt waren bald nach Beginn der Belagerung aufgezehrt. Die Rationen mussten immer weiter gesenkt werden, bis sie im November 1941 ihren Tiefststand erreichten: Ein Leningrader Arbeiter erhielt pro Tag 250 Gramm Brot, seinen Familienangehörigen stand sogar nur die Hälfte zu. Doch selbst diese Hungerration existierte lediglich auf dem Papier. Vielfach konnten die Menschen ihre Lebensmittelkarten nicht eintauschen, weil die Geschäfte leer waren. Und das Stückchen Brot, das sie unter Umständen bekamen, verdiente kaum seinen Namen. Es bestand zum großen Teil aus Zellulose oder Sägemehl und hatte nur einen geringen Nährwert. Auf den Straßen sah man abgemagerte Menschen mit eingefallenen Gesichtern, links und rechts auf den Bürgersteigen lagen die Leichen derjenigen, die mitten auf der Straße zusammengebrochen waren. Den Menschen fehlte sogar die Kraft, ihren nächsten Verwandten ein anständiges Begräbnis zu bereiten. Auf einfachen Schlitten zogen sie die Verstorbenen mit letzter Energie zu zentralen Sammelstellen, an denen die Toten in anonymen Massengräbern verscharrt wurden. Noch heute zeugen Tagebücher und Erinnerungen, aber auch Fotos und Filmaufnahmen von diesen schaurigen Szenen.«⁵

Dennoch haben die Menschen in Leningrad knapp drei Jahre heroisch gekämpft und damit für alle Welt sichtbar den Nimbus der »unbesiegbaren« Wehrmacht zerstört. Denn unter dem feindlichen Beschuss hörten die Leningrader nicht auf, für die Front zu arbeiten. Die Männer gingen zum Landsturm. Ihre Arbeitsplätze in den Betrieben, wo man Waffen und Munition herstellte, wurden von den Frauen besetzt. Und die ganze Bevölkerung, selbst Rentner und Jugendliche, beteiligte sich an der Errichtung und dem Ausbau von Panzersperren, um einen militärischen Vorstoß der faschistischen Truppen zu verhindern.

Zu den großartigen Beiträgen des moralischen Widerstandes zählt die »Siebte Symphonie« von Dmitri Schostakowitsch, die sogenannte Leningrader Symphonie, die der Komponist in der belagerten Stadt begann und die nicht nur in Leningrad, sondern international als Symbol des Überlebenswillens der Einwohner der Stadt wahrgenommen wurde.

Über den Ladogasee konnte die Stadt zumindest teilweise aus dem Hinterland versorgt und umgekehrt rund eine Million Menschen evakuiert werden. Im Januar 1943 gelang es der Roten Armee zeitweilig, einen kleinen Korridor am südlichen Ufer des Ladogasees freizukämpfen. So hatte der Belagerungsring eine Lücke.

Die Erinnerung ist lebendig

Die Heldentaten der Einwohner und der Roten Armee, die im Winter die Versorgung der Menschen über die zugefrorene Ostsee organisierte und im Januar 1944 schließlich den Blockadering sprengen konnte, sind unvergessen. Zu Recht wurden der Stadt und ihren Einwohnern bereits am 1. Mai 1945 der Ehrentitel »Heldenstadt« zuerkannt. Diesen Titel trägt sie auch heute noch, auch wenn sie nun wieder St. Petersburg heißt.

Die Erinnerung an diese 900 Tage ist bis heute in der Stadt sehr präsent. Als Besucher stößt man an vielen Stellen auf Denkmäler und Gedenkstätten. Die zentrale Gedenkstätte für die Opfer der Leningrader Blockade ist das »Denkmal der Verteidiger Leningrads« mit seinen eindrucksvollen Figurengruppen des militärischen und zivilen Widerstandes. Neuer, aber gleichermaßen beeindruckend, ist das Denkmal »Defekter Ring« auf dem »Lebensweg« am Ladogasee. Aber auch an vielen historischen Gebäuden wird man mit der Erinnerung an dieses Verbrechen konfrontiert. Kein Museum, in dem nicht darauf hingewiesen wird, dass die wichtigsten Kunstschätze evakuiert werden mussten. In Puschkin findet man im rekonstruierten Bernsteinzimmer den ausführlichen Hinweis auf das bis heute ungeklärte Schicksal dieses Kunstwerks, nachdem der Ort von deutschen Truppen besetzt worden war.

Eindrucksvoll ist auch das kleine Staatliche Museum der Verteidigung und Belagerung von Leningrad, wo Exponate zur Leningrader Blockade gesammelt und präsentiert werden. Zeichnungen und Gemälde mit einer von Hunger geplagten Stadt, die heldenhaften Versuche, Nahrungsmittel über den gefrorenen Ladogasee, die sogenannte Straße des Lebens, zu bekommen, sind hier zu sehen. »Die außergewöhnliche Durchhaltekraft der Überlebenden macht zugleich den Stolz als auch das Leiden von Leningrad aus«, heißt es in der Selbstdarstellung des Museums. Auf der Homepage »Russia Beyond« finden sich 15 eindrucksvolle Gemälde zur Blockade.⁶ In all diesen Formen wird bis heute für Besucher, aber auch für junge Menschen in Russland die Erinnerung wachgehalten.

Aber nicht nur in St. Petersburg und der Russischen Föderation, auch international ist die Erinnerung an das Leiden und den Widerstand der Leningrader lebendig. So fand am 20. Juni 2022 in den USA, im New Yorker Holocaust Memorial Park in Brooklyn, New York, eine Zeremonie am neuen Denkmal für die Opfer der Blockade und die Verteidiger von Leningrad statt. Der Vertreter des Holocaust Memorial Committee, Barry Lituchy, erklärte: »Heute enthüllen wir ein neues Denkmal und heißen es in unserem Park willkommen. Es ist ein Denkmal zu Ehren der Opfer der Belagerung und für die heldenhaften Verteidiger der Stadt, deren heldenhafter Widerstand 900 Tage lang, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, die Stadt und seine noch dort verbliebenen 200.000 jüdischen Einwohnern vor dem Holocaust bewahrte. Die Belagerung von Leningrad ist hierzulande nur selten in vollem Umfang gewürdigt worden. In Russland weiß fast jeder darüber Bescheid. Aber hier verstehen nur wenige Menschen, was für ein wichtiges Kapitel in der Geschichte des Holocaust dieses Ereignis wirklich war. Und deshalb hat es lange gedauert, bis dieses Denkmal errichtet wurde. Auch wenn die Inschrift besagt, dass der heldenhafte Widerstand der Leningrader Bevölkerung und der Soldaten die Stadt vor dem Holocaust bewahrt hat, und das stimmt, so hatte die Belagerung von Leningrad doch den Tod von einer Million Menschen zur Folge. In der Tat müssen wir anerkennen, dass die Belagerung von Leningrad ein vorsätzlicher Völkermord war, der von Hitler organisiert wurde, um Juden und Russen gleichermaßen zu vernichten, und allein in diesem Sinne verdient sie es, auch als ein Kapitel des Holocausts betrachtet zu werden.«

Und Lituchy begründete die Aktualität der Erinnerung, die auch international gilt: »Heute müssen wir einen Krieg gegen das Vergessen, gegen die Apathie und gegen die wachsende und sehr reale Gefahr eines Wiederauflebens von Antisemitismus, Rassismus und Faschismus durch diejenigen führen, die die Vergangenheit auslöschen wollen. Deshalb ist es wichtig, dass wir an diesem Tag auch der 600.000 Juden gedenken, die in der Roten Armee gekämpft haben, und der 160.000 Juden, die im Kampf gefallen sind, dass wir an die Zehntausenden Juden erinnern, die bei der Verteidigung Leningrads kämpften und starben. Wir müssen ihr Andenken ehren, denn ohne diese Verteidiger wären einige, ja viele von uns heute nicht hier. Sie starben, damit wir leben können. Und das dürfen wir niemals vergessen! Wenn Sie also die Gelegenheit haben, das neue Denkmal zu besichtigen, denken Sie an diese Dinge. Denken Sie daran, dass es nun an uns, an unserer Generation ist, unserer Märtyrer, unserer Opfer, unserer Verwandten und unserer Familien zu gedenken, jetzt, da die Generation der Überlebenden ausstirbt. Wir haben die Aufgabe, diese Traditionen weiterzutragen und die Lehren aus dem Holocaust zu ziehen, damit sie nicht vergessen oder entstellt werden. Die Überlebenden haben uns gelehrt, dass es ihr Ziel war, dass wir als ihre Nachkommen uns an sie erinnern und ihre Geschichte erzählen, um die Welt daran zu erinnern, was unserem Volk angetan wurde, und um die Lehren aus dem Holocaust zu vermitteln, zu denen auch die Geschichte der Belagerung von Leningrad gehört.«⁷


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NEUER BEITRAG27.01.2024, 13:47 Uhr
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Entschädigung gefordert

Ein ganz eigenes – und in jeder Hinsicht skandalöses – Kapitel ist der Umgang mit den Opfern der faschistischen Vernichtungspolitik und ihren Angehörigen durch die Bundesrepublik Deutschland. Seit Jahrzehnten lehnt die Bundesregierung die Zahlung individueller Entschädigungen an nichtjüdische Bürger der Sowjetunion bzw. des heutigen Russlands ab. Schon im Zusammenhang mit der Debatte um die Zwangsarbeiterentschädigung gab es bei diesem Thema die größten Widerstände nicht allein der Unternehmen, die von der Zwangsarbeit profitiert hatten, sondern auch seitens der Bundesregierung. Auch die Interessenverbände, die in den USA entsprechende Klagen eingereicht hatten, kümmerten sich nur eingeschränkt um die sowjetischen Opfer des faschistischen Vernichtungskrieges.

Noch im Jahre 2017 erklärte die Bundesregierung: »Schädigungen, die (…) aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, fallen unter das allgemeine Völkerrecht und werden nicht durch individuellen Schadenersatz, sondern durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt.« Zudem habe die Sowjetunion »in erheblichem Umfang Reparationen vereinnahmt und im August 1953 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet«, hieß es weiter. Einem »Staat, der Reparationen empfangen hat«, obliege es selbst, »die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen«. Die Bundesregierung behauptete daher, »unter dem Blickwinkel von rechtlichen Entschädigungsleistungen« sei »das Thema im deutsch-russischen Verhältnis (…) abgeschlossen«.⁸

Von einer solchen Blockadehaltung ließ sich die Jewish Claims Conference nicht beeindrucken. Immer wieder mahnte sie die fehlende Hilfe für jüdische Opfer der faschistischen Verfolgung im Vernichtungskrieg an. Im Ergebnis konnten jüdische Überlebende 2008 eine Einmalzahlung in Höhe von 2.556 Euro erhalten. Im Jahr 2021, 80 Jahre nach Beginn der Blockade, gelang es der Claims Conference zudem, von der Bundesrepublik die Zusage für ein Rentenprogramm für etwa 6.500 jüdische Opfer der Nazis aus der Sowjetunion zu erhalten, von dem prinzipiell auch jüdische Überlebende der Leningrader Blockade profitieren können. Dabei handelt es sich um Zahlungen von 375 Euro pro Monat.

Die russische Botschaft in Berlin begrüßte diese Hilfen, beklagte aber, dass die Bundesregierung damit de facto eine Hierarchisierung der überlebenden Opfer der Leningrader Blockade vornehme. So würden personenbezogene Leistungen an jüdische Blockadeüberlebende ausgezahlt, nichtjüdische Überlebende gingen aber bis heute leer aus. Vor dem 80. Jahrestag der Überwindung der Blockade haben sich nun die letzten Überlebenden zu Wort gemeldet. In einem offenen Brief an die Bundesregierung heißt es: »Mittlerweile sind wir weniger als sechzigtausend, alles Menschen verschiedener Nationalitäten, die die Greuel der belagerten Stadt überlebten.« Die Überlebenden verurteilten entschieden die Weigerung Berlins, die – ohnehin magere – Entschädigung »auf alle heute noch lebenden Blockadeopfer ohne Ansehen ihrer ethnischen Zugehörigkeit auszuweiten«. Schließlich hätten die deutschen Hungermordpläne »keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität« vorgesehen. In der Erklärung heißt es: »Wir appellieren an die deutsche Bundesregierung, die einzig richtige Entscheidung nicht hinauszuzögern und die humanitären Auszahlungen auf ausnahmslos alle Blockadeüberlebenden auszuweiten, die es immer weniger gibt.«⁹

Die russische Botschaft ergänzt diesen Appell: Es sei eine Forderung der Gerechtigkeit, »die Auszahlungen auf die Blockadeopfer aller Nationalitäten auszuweiten. Denn vor dem Tod, dem Hunger und der Kälte waren alle Nationalitäten gleich. Alle haben gleichermaßen versucht, zu überleben, unterstützten sich gegenseitig, gaben einander Wärme und teilen miteinander die letzte Brotration und Tasse heißes Wasser.«

Doch bis heute seien alle dahingehenden Bemühungen der russischen Seite »fruchtlos« geblieben. Die Bundesregierung habe sich einzig bereit erklärt, als »humanitäre Geste« einen finanziellen Beitrag für ein St. Petersburger Krankenhaus für Kriegsveteranen und zur Einrichtung eines deutsch-russischen Begegnungszentrums zu leisten. Laut Aussagen der Botschaft kommen beide Projekte jedoch nur mühsam voran und sind weit davon entfernt, realisiert zu sein. Angesichts der Sanktionspolitik im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg werden wohl selbst diese Leistungen voraussichtlich auf den St.-Nimmerleins-Tag verschoben. In dem Zusammenhang betont die Botschaft, dass es ihr keineswegs ums Geld gehe. Denn für ein menschenwürdiges Leben der Veteranen und Blockadeopfer sorge der russische Staat selbst. Es gehe vielmehr – so wörtlich – um »Gerechtigkeit, Gewissen sowie um die Aufrichtigkeit der deutschen Politiker, die von der Verantwortung für die grausamen Verbrechen des Naziregimes auf dem Gebiet der UdSSR, einschließlich der Leningrader Blockade, sprechen«.

Und hier erkennt nicht nur die russische Seite bezüglich der sowjetischen Opfer erhebliche Defizite. Auch die noch heute lebenden Opfer der Nazis in Griechenland und Italien und deren Angehörige können davon ein Lied singen. Denn auch hier weigert sich die Bundesregierung, Entschädigungen zu zahlen.

Anmerkungen

1 Bundesarchiv, BArch RH 3/203

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3 Jörg Ganzenmüller: Ein stiller Völkermord, zeit.de, 15.1.2004

4 Zit. n. ebd.

5 mdz-moskau.eu/leningrad-groesste-stadtkatastrophe-im-zweiten-
-weltkrieg

6 de.rbth.com/geschichte/85308-leningrader-belagerung-gemaelde-


7 FIR-Bulletin Nr. 66, Dezember 2022, S. 7

8 Zit. n. Link ...jetzt anmelden!

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NEUER BEITRAG27.01.2024, 13:55 Uhr
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80. Jt. der Befreiung Leningrads Ebd.:

»Die schlimmen Zeiten sind nicht vergessen«

Blockadekind, Schafhirt und Spitzentechniker. Ein Gespräch mit Leonid Berezin

Von Arnold Schölzel

Leonid Berezin wurde 1929 in Sibirien geboren, kam aber als Kleinkind nach Leningrad. Er überlebte die Blockade der Stadt und arbeitete dort Jahrzehnte im Zentralen Forschungsinstitut für Schiffsinstrumente an Waffentypen, über die der Westen nicht verfügte. Seit 1992 lebt er in Berlin

Sie haben die Leningrader Blockade überlebt. Wie viele Überlebende gibt es in Berlin?

Allein hier sind wir 40 bis 45 Menschen, in der Bundesrepublik etwa 300. Wir haben uns in der Vereinigung »Lebendige Erinnerung« zusammengeschlossen und arbeiten mit dem »Club Dialog« im Wedding und der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« zusammen. Bis zur Pandemie feierten wir den Jahrestag der Befreiung Leningrads stets im Haus der Russischen Kultur, aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Einige wenige fliegen auch in diesem Jahr auf Einladung des Gouverneurs von St. Petersburg dorthin, um den 80. Jahrestag der Befreiung Leningrads zu feiern. Überlebende der Blockade leben überall auf der Welt.

Wie begehen Sie im »Club Dialog« den Jahrestag?

Wir hören dort ein Fragment der »Leningrader Sinfonie« von Dmitri Schostakowitsch, die er zu Beginn der Blockade komponiert hat und die am 9. August 1942 in Leningrad aufgeführt wurde. Wir gedenken vor allem der Toten. Niemand weiß, wie viele es letztlich waren. Die Schätzungen reichen von 600.000 bis 1,2 Millionen Menschen. Sie starben durch Hunger, Kälte, Bomben und viele andere Ursachen. Heute wissen hier allerdings viele junge Menschen kaum noch, dass St. Petersburg und Leningrad dieselbe Stadt sind.

Sie waren am 22. Juni 1941 zwölf Jahre alt. Wie haben Sie den Kriegsbeginn erlebt?

Ich war an jenem Tag in einem Pionierferienlager, gut 20 Kilometer von Leningrad entfernt. Es war für Kinder von Mitarbeitern der großen Leningrader Textilfabrik »Rotes Banner«. Dort arbeitete mein Großvater, denn ich lebte bei meinen Großeltern. Meine Eltern waren unterwegs auf Großbaustellen des sozialistischen Aufbaus, vor allem in den großen Kraftwerken am Wolchow und am Swir. Bis 1936 war ich im Sommer manchmal zwei Monate bei ihnen, dann ging es zurück zu Opa und Oma. 1936 sollte ich auf einmal bei den Eltern bleiben und zur Schule gehen, das war in Staraja Russa. Als ich einen Monat lang die Schule geschwänzt hatte, durfte ich zurück. Ich hatte vier Klassen absolviert, als der Krieg kam.

Was passierte im Ferienlager?

Es herrschte Chaos. Nach einigen Tagen kamen viele Mütter und holten unter Klagen und Weinen ihre Kinder ab, zurück blieben ungefähr zehn bis 15 Kinder, darunter ich. Zu mir kam niemand, und ich war sehr unglücklich. Die Lagerleiter erklärten uns nichts, wir hatten nur Zeitungen. Irgendwann entschloss ich mich, allein nach Leningrad zu fahren. Wir waren ja nicht weit weg, aber für mich als Kind war das eine lange Reise. Zum Glück holte mich mein Opa am Bahnhof ab, meine Oma war leider im Januar 1941 gestorben.

Meine Mutter sah ich erst nach zehn Jahren 1946 wieder. Sie lebte damals in Wologda, nördlich von Moskau. Von den Behörden hatte sie die Mitteilung erhalten, dass mein Vater bei der Verteidigung Leningrads drei Tage vor dem Ende der Blockade, am 24. Januar 1944, getötet worden war. Er hatte in Jelisawetino, etwa 70 Kilometer südwestlich der Stadt, eine Artilleriestellung kommandiert. Sie erhielt einen Volltreffer, alle fünf Soldaten waren tot. Meine Mutter bekam eine sehr kleine staatliche Unterstützung und arbeitete als Grundschullehrerin. Aber es reichte nicht, um meine drei jüngeren Geschwister zu ernähren. Sie lebten in einem Kinderheim.

Der Winter 1941/42 war mit bis zu minus 40 Grad extrem kalt. Wie haben Sie und Ihre Familie überlebt?

Uns halfen vor allem eine Cousine und ein Onkel, der beim Militär war: Sie teilten ihre Lebensmittelrationen mit uns. Aber es war schwer: Im November kam der Befehl, alle Holzzäune und Holzhäuser für Heizung zur Verfügung zu stellen. Wir mussten das Haus, in dem wir wohnten, aufgeben, und zogen alle zusammen in ein Zimmer. Zum Glück waren einige wegen ihrer militärischen Verpflichtungen nur selten da. Das Zimmer war Teil einer Gemeinschaftswohnung, einer Kommunalka, und wurde von einer Granate getroffen, die zwar nicht explodierte, aber es in der Kälte unbewohnbar machte. Wir zogen ein Haus weiter – es gab bereits viele leerstehende Wohnungen. Ich wurde im Februar 1942 zusammen mit meiner Tante und deren Kindern in ein sibirisches Dorf evakuiert, 120 Kilometer südlich der Gebietshauptstadt Tscheljabinsk in der Nähe der kasachischen Grenze. Dort arbeiteten alle in einer Molkerei und ich von Mai bis Ende September als Schafhirte. 1944 hatte ich die Verantwortung für 533 Schafe. Im Kolchos sagten sie, ich müsse das übernehmen, weil ich ein belesener Mensch sei – ich war ständig mit einem Buch unterwegs.

Die Blockade beendete Ihre Schulbildung?

Es gab in Leningrad nur wenige Schulen, die weiterarbeiten konnten – vor allem für Jüngere. Ende 1944 hörte ich eines Tages in unserem Dorfrundfunk, der täglich zweimal jeweils 30 Minuten sendete, einen Aufruf: Moskauer und Leningrader Bildungseinrichtungen fordern dazu auf, sich im Januar und Februar 1945 für die ersten Kurse einzuschreiben. Wir erhielten eine Genehmigung, nach Leningrad zu fahren, und kamen im Februar 1945 dort an. In der Marineschule, für die ich mich beworben hatte, gab es aber eine böse Überraschung: Bei der Musterung stellte der Augenarzt bei mir Astigmatismus fest, eine Hornhautverkrümmung. Das war’s.

Unserer Regierung war aber klar, dass nach dem Krieg Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende Kinder und Jugendliche ihre unterbrochene Bildung und Ausbildung fortsetzen wollten. Ich wurde schließlich von einer Fachschule, die Funktechniker ausbildete, angenommen. Der Unterricht und die Ausbildung dort waren allerdings hart, sehr hart, ein halbes Jahr militärischer Ausbildung gehörte dazu. Dort erhielt ich 1949 mein erstes Abschlusszeugnis.

Sie machten weiter?

Ich wollte zur Hochschule. Das hieß: Arbeit und zugleich Studium. Das allein war schon anstrengend, aber hinzu kamen die schlimmen Wohnverhältnisse. 1952 heiratete ich meine Frau, stand aber noch bis 1955 auf der Liste der Wohnungssuchenden. Plötzlich erhielten wir ein Zimmer in einer Kommunalka. Zu den Schwierigkeiten gehörte auch: Menschen jüdischer Herkunft waren in den 50er Jahren bestimmte Arbeitsbereiche, gerade in der Nachrichtentechnik und der Militärtechnik insgesamt, verschlossen. Auf mich kam aber irgendwann ein Freund zu und forderte mich auf, in seinem Forschungsinstitut anzufangen. Es stellte sich heraus, dass es um Funktechnik zur Steuerung und Abwehr von Raketen ging, also ein Gebiet, das strenger Geheimhaltung unterlag, auf dem aber Tausende Menschen arbeiteten.

Vom Blockadekind und Schafhirten zum Spitzenwissenschaftler?

In den 60er Jahren begann ich eine Aspirantur, das war in der Sowjetunion ein Weg zur Promotion, wurde Dozent und schließlich Professor, erhielt viele Auszeichnungen. Nach meinem 60. Geburtstag und der Pensionierung wollten meine Frau und ich unserem Sohn nach Berlin folgen, ich nicht so sehr, aber meine Frau hatte hier eine ihr nahestehende Cousine, die in der DDR Generaldirektorin der Nachrichtenagentur ADN gewesen war. 1993 konnten wir ausreisen. Übrigens habe ich auch hier vor einem Jahr für meine ehrenamtliche Tätigkeit einen Orden erhalten, das Bundesverdienstkreuz. Das ist unter uns ehemaligen Sowjetbürgern selten.

Wie empfinden Sie den Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und der Blockade Leningrads in der Bundesrepublik?

Das ist nicht einfach. Ich habe dazu nicht wissenschaftlich gearbeitet und kann nur meine persönliche Meinung sagen: Die Leute in Deutschland wissen zumeist nichts davon und verstehen auch nichts. Jetzt herrscht dieser Krieg in der Ukraine, und ich höre, dass die Ukraine ihn gewinnen muss. Ich vermeide, darüber zu sprechen, denn die Menschen, die diesen Krieg führen, haben die schlimmen Ereignisse und Zeiten von damals vergessen. Wir Überlebende hören junge Leute sagen: »Die Krim gehört uns.« Ich finde das alles nicht richtig. Ich bin gegen Krieg, alle Menschen sollten in Frieden leben können, sollten Arbeit und Erholung haben. In unserem »Club Dialog« erzählen Zeitzeugen wie ich zu den Jahrestagen des Zweiten Weltkrieges davon. Wir arbeiten weiter, denn niemand ist vergessen und nichts ist vergessen.


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