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•NEUES THEMA29.06.2023, 16:45 Uhr
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• DDR: 70 J. Junikrise
Anläßlich der des 70. Jahrestages der Junikrise der DDR brachte die jW auf ihrer Themenseite vom 17. bis zum 28. Juni einen Dreiteiler von Leo Schwarz, der hier gespiegelt sei:
Sozialismus als Sparprogramm
»Diktieren und Administrieren«: Arbeiterklasse und SED auf dem Weg zum »17. Juni«. Zur Junikrise 1953 in der DDR (Teil 1)
Von Leo Schwarz
Die politische Krise in der DDR im Frühjahr und Sommer 1953 – sehr verkürzt erinnert als »der 17. Juni« – gehört zu den wichtigsten und interessantesten Ereigniskomplexen in der vierzigjährigen Geschichte des ostdeutschen Staates. Der Begriff jener Ereignisse und ihrer Hintergründe ist indes mitnichten klar und eindeutig: Der Juni 1953 liefert Stoff für eine umfangreiche und noch immer lebhafte Legendenbildung, während wichtige Fragen unbeantwortet bleiben und viele Aspekte weiter im spekulativen Dunkel liegen. Da die marxistische Zeitgeschichtsforschung in der DDR bis 1989 – von ersten Ansätzen abgesehen – nicht zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen gelangen konnte und nach 1990 die antikommunistische Geschichtsschreibung nahezu unangefochten das Feld beherrschte, bleibt für eine kritische, materialistische Forschung weiter viel zu tun.
Politisierte Streikbewegung
In der DDR wurde 1953 zügig die jahrzehntelang (trotz mancher Variationen im Detail) verbindliche Perspektive durchgesetzt, die den »17. Juni« als »konterrevolutionären Putschversuch« in erster Linie auf die »Arbeit des Gegners« (die es gab und auf die einzugehen sein wird) zurückführte. Die dezidierte Suche nach »ökonomischen Ursachen, an denen der Gegner einhaken konnte«, wurde – um nur dies eine Beispiel anzuführen – dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bau/Holz, Franz Jahn, zum Verhängnis, der im Oktober 1953 wegen »Ökonomismus« und »Sozialdemokratismus« abgelöst wurde. Jahns »falsche Theorie«, lesen wir in einer Entschließung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft, führte »zu der falschen Einschätzung des 17. Juni als eines vornehmlich ökonomischen Streiks«, dem man »mit ökonomischen Verbesserungen den Boden entziehen müsste«.
Es bleibt ein Paradox: So entschlossen die SED in der Junikrise gerade mit »ökonomischen Verbesserungen« wieder politischen Boden unter den Füßen zu gewinnen versuchte, so nachdrücklich bekämpfte sie in der politischen Nachbereitung die Vorstellung, der Massenstreik habe ökonomische Ursachen gehabt bzw. sei eine Bewegung gewesen, die sich aus in erster Linie ökonomischen und sozialen Widersprüchen entwickelte (was ja mitnichten ausgeschlossen hätte, über die intensive und entschlossene »Arbeit des Gegners« zur Ausnutzung dieser Widersprüche in den Junitagen zu sprechen).
Ursächlich für diese Verzerrung der Perspektive dürfte ein wesentliches politisch-theoretisches Defizit der SED sein: Sie fand bis 1989 nie zu einer souveränen und schlüssigen Antwort auf die Frage, die etwa Stefan Heym 1953 in seiner vom FDGB herausgegebenen »Forschungsreise ins Herz der deutschen Arbeiterklasse« stellte: »Wie ist es mit dem Streik der Arbeiter in einem Staat, der ihr Staat ist, und in dem sie die Herren sind?« Da eine Antwort hierauf auch das empirisch ehrliche, aber politisch mit dem Selbstverständnis der SED nicht vermittelbare Eingeständnis mit sich gebracht hätte, dass viele Arbeiter im Juni 1953 in der DDR keineswegs einen »Arbeiterstaat« sahen, blieb der Umgang mit der Junikrise letztlich hilflos und unfruchtbar.
In gewisser Weise leistete die SED mit der entschlossenen Politisierung der Streikbewegung unabsichtlich der Erzählung der Gegenseite Vorschub, die ihre Freude über diesen »Arbeiteraufstand« stets offen bekannte – vorneweg konservative und sozialdemokratische Historiker, die Arbeiteraufstände gemeinhin gar nicht mögen. In der Bundesrepublik wurde die Streikbewegung konsequent – natürlich affirmativ – politisiert und zu einer Aufstandserzählung ausgebaut. Aus dem »Arbeiteraufstand« wurde wegen veränderter geschichtspolitischer Bedürfnisse nach 1990 unter der Hand ein »Volksaufstand«, während Vorstöße aus dem Milieu der antikommunistischen DDR-Dissidenten, den 17. Juni zur »vergessenen« oder »gescheiterten« »Revolution« zu stilisieren, überwiegend nicht aufgegriffen wurden. In all diesen Erzählungen steckt noch erheblich mehr Dichtung als in der These vom »konterrevolutionären Putschversuch«.
Da Widerspruch kaum zu vernehmen ist, wird sich bei den anstehenden Festveranstaltungen niemand daran stören – hier geht es ja ohnehin nicht um Fakten, sondern um geschichtspolitische Betreuung. Eine Reihe von Wortmeldungen im Vorfeld des 70. Jahrestages der Juniereignisse hat gezeigt, dass Akteure der bundesrepublikanischen Geschichtspolitik mit neuer Entschlossenheit versuchen, die Geschichte an den Mann zu bringen, wonach im Juni 1953 ein »Volksaufstand« gegen die »SED-Diktatur« losgebrochen sei. Ein besonders auffälliger Mangel dieser Erzählung ist ihr Desinteresse gegenüber der Vorgeschichte der Juniereignisse, der wir uns hier nachfolgend zuwenden wollen, bevor wir uns in einem zweiten Teil mit einzelnen Aspekten der Junitage und sodann in einem dritten Teil mit den Auseinandersetzungen in der SED im Sommer 1953 beschäftigen.
Ehrliche Begeisterung
Die engere Vorgeschichte der Junikrise begann mit der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Mit dem dort, begleitet von vielen Zeichen ehrlicher Begeisterung, beschlossenen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR rückte die SED faktisch von der bis dahin zentralen Orientierung auf das Ziel eines einheitlichen deutschen Staates unter »antifaschistisch-demokratischen« Vorzeichen ab, hielt aber – was für konstante Verwirrung und Unsicherheit auch bei führenden SED-Funktionären sorgte – weiter an der Losung der »Einheit Deutschlands« fest. Bis Juli 1952 hatte gegolten, dass der Sozialismus und die Errichtung der »Macht der Arbeiterklasse« erst auf die Tagesordnung gesetzt werden würden, wenn die Einheit wiederhergestellt sei.
Mit der 2. Parteikonferenz schwenkte die SED auf einen scharfen Klassenkampfkurs und den sozialistischen Aufbau in der DDR um, was, von welcher Seite man es auch betrachtete, die »Einheit« nicht eben wahrscheinlicher machte. Der in sich widersprüchliche Ansatz ergab sich aus dem Umstand, dass sich Moskau weiter alle deutschlandpolitischen Optionen offenhielt und »zweigleisig« fuhr: Die sowjetische Parteiführung, in der es, wie sich 1953 zeigte, weiterhin Akteure gab, die die DDR als diplomatische Verhandlungsmasse betrachteten, gab der SED, in der führende Genossen auf die Einleitung des sozialistischen Aufbaus gedrängt hatten, nur unter dieser Bedingung den Weg dafür frei.
Dass sie überhaupt dazu bereit war, hat mit dem internationalen Kontext zu tun: Im März 1952 hatte die Ablehnung des letzten Versuches der Sowjetunion, mit dem »Westen« über eine Neutralitätsregelung für ein vereinigtes Deutschland im Rahmen eines Friedensvertrages zu verhandeln (»Stalin-Note«), gezeigt, dass das neutrale einheitliche Deutschland nach Lage der Dinge nicht zu haben war. In Bonn machte Adenauer nach der Einbeziehung der Bundesrepublik in ein westliches Militärbündnis (Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Mai 1952) deutlich, dass er nicht über »Wiedervereinigung«, sondern nur über »Befreiung« reden wollte; die Fäden für alle derartigen Planungen liefen in Jakob Kaisers Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zusammen. In Washington wurde Anfang 1953 mit John Foster Dulles ein Mann Außenminister, der für den Übergang vom »containment« zur »liberation policy« stand.
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Sozialismus als Sparprogramm
»Diktieren und Administrieren«: Arbeiterklasse und SED auf dem Weg zum »17. Juni«. Zur Junikrise 1953 in der DDR (Teil 1)
Von Leo Schwarz
Die politische Krise in der DDR im Frühjahr und Sommer 1953 – sehr verkürzt erinnert als »der 17. Juni« – gehört zu den wichtigsten und interessantesten Ereigniskomplexen in der vierzigjährigen Geschichte des ostdeutschen Staates. Der Begriff jener Ereignisse und ihrer Hintergründe ist indes mitnichten klar und eindeutig: Der Juni 1953 liefert Stoff für eine umfangreiche und noch immer lebhafte Legendenbildung, während wichtige Fragen unbeantwortet bleiben und viele Aspekte weiter im spekulativen Dunkel liegen. Da die marxistische Zeitgeschichtsforschung in der DDR bis 1989 – von ersten Ansätzen abgesehen – nicht zu einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Ereignissen gelangen konnte und nach 1990 die antikommunistische Geschichtsschreibung nahezu unangefochten das Feld beherrschte, bleibt für eine kritische, materialistische Forschung weiter viel zu tun.
Politisierte Streikbewegung
In der DDR wurde 1953 zügig die jahrzehntelang (trotz mancher Variationen im Detail) verbindliche Perspektive durchgesetzt, die den »17. Juni« als »konterrevolutionären Putschversuch« in erster Linie auf die »Arbeit des Gegners« (die es gab und auf die einzugehen sein wird) zurückführte. Die dezidierte Suche nach »ökonomischen Ursachen, an denen der Gegner einhaken konnte«, wurde – um nur dies eine Beispiel anzuführen – dem Vorsitzenden der Industriegewerkschaft Bau/Holz, Franz Jahn, zum Verhängnis, der im Oktober 1953 wegen »Ökonomismus« und »Sozialdemokratismus« abgelöst wurde. Jahns »falsche Theorie«, lesen wir in einer Entschließung des Zentralvorstandes der Gewerkschaft, führte »zu der falschen Einschätzung des 17. Juni als eines vornehmlich ökonomischen Streiks«, dem man »mit ökonomischen Verbesserungen den Boden entziehen müsste«.
Es bleibt ein Paradox: So entschlossen die SED in der Junikrise gerade mit »ökonomischen Verbesserungen« wieder politischen Boden unter den Füßen zu gewinnen versuchte, so nachdrücklich bekämpfte sie in der politischen Nachbereitung die Vorstellung, der Massenstreik habe ökonomische Ursachen gehabt bzw. sei eine Bewegung gewesen, die sich aus in erster Linie ökonomischen und sozialen Widersprüchen entwickelte (was ja mitnichten ausgeschlossen hätte, über die intensive und entschlossene »Arbeit des Gegners« zur Ausnutzung dieser Widersprüche in den Junitagen zu sprechen).
Ursächlich für diese Verzerrung der Perspektive dürfte ein wesentliches politisch-theoretisches Defizit der SED sein: Sie fand bis 1989 nie zu einer souveränen und schlüssigen Antwort auf die Frage, die etwa Stefan Heym 1953 in seiner vom FDGB herausgegebenen »Forschungsreise ins Herz der deutschen Arbeiterklasse« stellte: »Wie ist es mit dem Streik der Arbeiter in einem Staat, der ihr Staat ist, und in dem sie die Herren sind?« Da eine Antwort hierauf auch das empirisch ehrliche, aber politisch mit dem Selbstverständnis der SED nicht vermittelbare Eingeständnis mit sich gebracht hätte, dass viele Arbeiter im Juni 1953 in der DDR keineswegs einen »Arbeiterstaat« sahen, blieb der Umgang mit der Junikrise letztlich hilflos und unfruchtbar.
In gewisser Weise leistete die SED mit der entschlossenen Politisierung der Streikbewegung unabsichtlich der Erzählung der Gegenseite Vorschub, die ihre Freude über diesen »Arbeiteraufstand« stets offen bekannte – vorneweg konservative und sozialdemokratische Historiker, die Arbeiteraufstände gemeinhin gar nicht mögen. In der Bundesrepublik wurde die Streikbewegung konsequent – natürlich affirmativ – politisiert und zu einer Aufstandserzählung ausgebaut. Aus dem »Arbeiteraufstand« wurde wegen veränderter geschichtspolitischer Bedürfnisse nach 1990 unter der Hand ein »Volksaufstand«, während Vorstöße aus dem Milieu der antikommunistischen DDR-Dissidenten, den 17. Juni zur »vergessenen« oder »gescheiterten« »Revolution« zu stilisieren, überwiegend nicht aufgegriffen wurden. In all diesen Erzählungen steckt noch erheblich mehr Dichtung als in der These vom »konterrevolutionären Putschversuch«.
Da Widerspruch kaum zu vernehmen ist, wird sich bei den anstehenden Festveranstaltungen niemand daran stören – hier geht es ja ohnehin nicht um Fakten, sondern um geschichtspolitische Betreuung. Eine Reihe von Wortmeldungen im Vorfeld des 70. Jahrestages der Juniereignisse hat gezeigt, dass Akteure der bundesrepublikanischen Geschichtspolitik mit neuer Entschlossenheit versuchen, die Geschichte an den Mann zu bringen, wonach im Juni 1953 ein »Volksaufstand« gegen die »SED-Diktatur« losgebrochen sei. Ein besonders auffälliger Mangel dieser Erzählung ist ihr Desinteresse gegenüber der Vorgeschichte der Juniereignisse, der wir uns hier nachfolgend zuwenden wollen, bevor wir uns in einem zweiten Teil mit einzelnen Aspekten der Junitage und sodann in einem dritten Teil mit den Auseinandersetzungen in der SED im Sommer 1953 beschäftigen.
Ehrliche Begeisterung
Die engere Vorgeschichte der Junikrise begann mit der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952. Mit dem dort, begleitet von vielen Zeichen ehrlicher Begeisterung, beschlossenen Aufbau der Grundlagen des Sozialismus in der DDR rückte die SED faktisch von der bis dahin zentralen Orientierung auf das Ziel eines einheitlichen deutschen Staates unter »antifaschistisch-demokratischen« Vorzeichen ab, hielt aber – was für konstante Verwirrung und Unsicherheit auch bei führenden SED-Funktionären sorgte – weiter an der Losung der »Einheit Deutschlands« fest. Bis Juli 1952 hatte gegolten, dass der Sozialismus und die Errichtung der »Macht der Arbeiterklasse« erst auf die Tagesordnung gesetzt werden würden, wenn die Einheit wiederhergestellt sei.
Mit der 2. Parteikonferenz schwenkte die SED auf einen scharfen Klassenkampfkurs und den sozialistischen Aufbau in der DDR um, was, von welcher Seite man es auch betrachtete, die »Einheit« nicht eben wahrscheinlicher machte. Der in sich widersprüchliche Ansatz ergab sich aus dem Umstand, dass sich Moskau weiter alle deutschlandpolitischen Optionen offenhielt und »zweigleisig« fuhr: Die sowjetische Parteiführung, in der es, wie sich 1953 zeigte, weiterhin Akteure gab, die die DDR als diplomatische Verhandlungsmasse betrachteten, gab der SED, in der führende Genossen auf die Einleitung des sozialistischen Aufbaus gedrängt hatten, nur unter dieser Bedingung den Weg dafür frei.
Dass sie überhaupt dazu bereit war, hat mit dem internationalen Kontext zu tun: Im März 1952 hatte die Ablehnung des letzten Versuches der Sowjetunion, mit dem »Westen« über eine Neutralitätsregelung für ein vereinigtes Deutschland im Rahmen eines Friedensvertrages zu verhandeln (»Stalin-Note«), gezeigt, dass das neutrale einheitliche Deutschland nach Lage der Dinge nicht zu haben war. In Bonn machte Adenauer nach der Einbeziehung der Bundesrepublik in ein westliches Militärbündnis (Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft, Mai 1952) deutlich, dass er nicht über »Wiedervereinigung«, sondern nur über »Befreiung« reden wollte; die Fäden für alle derartigen Planungen liefen in Jakob Kaisers Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen zusammen. In Washington wurde Anfang 1953 mit John Foster Dulles ein Mann Außenminister, der für den Übergang vom »containment« zur »liberation policy« stand.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 16:48 Uhr
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Kein sozialistischer Inhalt
Diese Konstellation der Konsolidierung unterschiedlicher Blöcke bei wachsender Aggressivität des Westens führte nun dazu, dass der »Aufbau der Grundlagen des Sozialismus« und das nunmehr dezidiert klassenkämpferische Auftreten der SED ziemlich rasch einen sehr spezifischen materiellen Inhalt erhielten, der mit einem »sozialistischen Aufbau« wenig zu tun hatte, ja ihn im Grunde genommen konterkarierte und der Partei so ein ernstes Legitimationsproblem bescherte. Während nämlich die DDR ohnehin die »gesamtdeutschen« Reparationsleistungen an die UdSSR und die Volksrepublik Polen sowie die Besatzungskosten der Sowjetarmee schulterte und für die im Sommer 1952 vereinbarte Übergabe von 66 sogenannten SAG-Betrieben 1,75 Milliarden Mark aufzubringen hatte, rückte in der zweiten Hälfte des Jahres 1952 mehr und mehr die Mobilisierung von Mitteln für die ebenfalls von der 2. Parteikonferenz beschlossene »Organisierung bewaffneter Streitkräfte« und den damit einhergehenden forcierten Aufbau der Schwerindustrie in den Mittelpunkt der Regierungsarbeit. Die Kasernierte Volkspolizei, die seit Sommer 1952 aufgebaut wurde, sollte bis auf 200.000 Mann aufwachsen. Die direkten Kosten, die dafür bis zum Sommer 1953 für Ausrüstung, Unterkunft, Verwaltung, Sold usw. aufliefen, entsprachen den jährlichen Besatzungskosten von zwei Milliarden Mark.
Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die an die Regierung der DDR gerichteten »Empfehlungen« und Memoranden der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) sich 1952/53 überwiegend nicht mit der Vergesellschaftung von Betrieben oder der Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften – dem Herzstück der öffentlichen Kampagne – beschäftigten, sondern mit der Frage der Mobilisierung von zusätzlichen Geldmitteln. Dabei zeichnete sich rasch eine Tendenz ab: Die für den Gesamtkomplex der Aufrüstung erforderlichen Mittel sollten durch höhere und rücksichtslos eingetriebene Besitz- und Einkommenssteuern, die das Bürgertum und die Großbauern trafen, aber auch durch Einsparungen bei der Sozialversicherung und eine Einkommensminderung bzw. eine Reduzierung des allgemeinen Konsumniveaus der Bevölkerung beschafft werden.
Das führte rasch zu Problemen. Im Januar 1953 warnte die SED-Spitze in einem an die sowjetische Regierung gerichteten Schreiben, dass die DDR auf den »Aufbau der nationalen bewaffneten Streitkräfte« nicht vorbereitet sei; im Plan für 1953 fehlten dafür die Voraussetzungen. Bereits 1952 habe man für den Streitkräfteausbau »Erzeugnisse in Höhe von 500 Mio. DM-DDR (ohne Nahrungsmittel) anderen Verbrauchern weggenommen«. Ausdrücklich wurde bemängelt, dass zugesagte Importe aus der Sowjetunion »nicht kommen«, während die Forderungen für Lieferungen an die Sowjetunion am Plan vorbei erhöht würden. Die ökonomische Lage sei »äußerst ernst und angespannt«. Um aus dieser Lage herauszukommen, wurde Moskau gebeten, die Verpflichtungen der DDR hinsichtlich der Reparationen und der Exporte zu prüfen. Im Januar billigte das Politbüro den Entwurf des Staatshaushaltsplans für 1953 und ein Sparprogramm, mit dem rund 1,5 Milliarden Mark eingespart werden sollten.
Das Resultat war, dass die Bevölkerung der DDR in ihrer Breite und insbesondere die Arbeiterklasse den eingeleiteten Aufbau des Sozialismus als Phase plötzlicher und drastischer Verschlechterung der Lebensverhältnisse erlebte. Dieser – von der SED politisch und propagandistisch nicht vermittelbare – Prozess begann im Herbst 1952 und verschärfte sich im ersten Halbjahr 1953. Die damit einhergehenden Spannungen versuchte der Staat sehr hart justizförmig zu regulieren: Auf der Grundlage des »Gesetzes zum Schutz des Volkseigentums« von 1952 wurden allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1953 8.000 Menschen oft wegen Kleinigkeiten zu Haftstrafen verurteilt; binnen eines Jahres verdoppelte sich die Zahl der Gefängnisinsassen. Ablesbar war die wachsende Unzufriedenheit an der Zahl der Menschen, die die DDR Richtung Bundesrepublik oder Westberlin verließen: 1952 waren es 182.000, in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 nach intern erhobenen Zahlen aber bereits 122.000, darunter – ein besonders auffälliges Warnsignal – fast 3.000 Mitglieder und Kandidaten der SED.
Regime der Sparsamkeit
Das von sowjetischer Seite angeregte Regime der Sparsamkeit wurde unterdessen – freilich in Agitation und Propaganda weit weniger sichtbar als die im Herbst 1952 eingeleitete Kampagne zur sozialistischen Umgestaltung von Industrie und Landwirtschaft – mit Schwung und Gründlichkeit eingeführt. Da wurde etwa verfügt, dass kostenfreie Kuren, die viele Arbeiter, die in körperlich besonders anstrengenden oder gesundheitsschädlichen Bereichen beschäftigt waren, rege und dankbar in Anspruch genommen hatten, auf den normalen Urlaub angerechnet wurden; dazu wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten eingeschränkt. Im Dezember 1952 wurden mehrere Fahrpreisermäßigungen bei der Reichsbahn kassiert; im April 1953 entfielen auch die Ermäßigungen für Kriegsbeschädigte und Behinderte und dazu die sogenannten Arbeiterrückfahrkarten. In Betrieben und Verwaltungen wurden Lohnzuschläge gekürzt (deswegen kam es schon im Dezember 1952 in Magdeburg zu Arbeitsniederlegungen in mehreren Großbetrieben) und nachteilige Umgruppierungen vorgenommen.
Ebenfalls im April fiel ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus der Kartenversorgung heraus, musste sich also gänzlich aus dem eigenen, oft genug kärglichen Einkommen mit Lebensmitteln und Bekleidung versorgen, was für die Betroffenen – darunter viele kleine Händler und Selbständige, die nur mühsam über die Runden kamen – mit erheblichen zusätzlichen Ausgaben verbunden war. Dann folgte gleich noch eine Preiserhöhung für Fleischprodukte und »zuckerhaltige Waren«, also auch für Marmelade und Kunsthonig, die damals auf fast jedem Pausenbrot zu finden waren. Zu den erhöhten Preisen kam eine durch die Sparpolitik hervorgerufene Mangelversorgung. Sogar Butter und Margarine waren plötzlich knapp. Erklärt wurde das mit Sabotage durch Großbauern und »Feinde« in den für Handel und Versorgung zuständigen Bereichen.
Die für die nachfolgenden Ereignisse entscheidende Weiche wurde im Mai 1953 gestellt – mit dem durch eine längere Kampagne vorbereiteten Beschluss, zum 1. Juni alle Arbeitsnormen in den volkseigenen Betrieben pauschal um mindestens zehn Prozent zu erhöhen. Argumentiert wurde hier mit einer unbedingt erforderlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität. Da in dieser kurzen Zeitspanne keine veralteten oder verschlissenen Maschinen ersetzt oder Arbeitsabläufe verbessert werden konnten und die Tariflöhne nicht entsprechend erhöht wurden, lief das für viele Arbeiter auf eine erhebliche Lohnsenkung hinaus. Mit dieser Normerhöhung schlug der wachsende Unmut, über den viele Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre in den Monaten zuvor Berichte »nach oben« geschickt hatten, in offene Empörung um.
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Kein sozialistischer Inhalt
Diese Konstellation der Konsolidierung unterschiedlicher Blöcke bei wachsender Aggressivität des Westens führte nun dazu, dass der »Aufbau der Grundlagen des Sozialismus« und das nunmehr dezidiert klassenkämpferische Auftreten der SED ziemlich rasch einen sehr spezifischen materiellen Inhalt erhielten, der mit einem »sozialistischen Aufbau« wenig zu tun hatte, ja ihn im Grunde genommen konterkarierte und der Partei so ein ernstes Legitimationsproblem bescherte. Während nämlich die DDR ohnehin die »gesamtdeutschen« Reparationsleistungen an die UdSSR und die Volksrepublik Polen sowie die Besatzungskosten der Sowjetarmee schulterte und für die im Sommer 1952 vereinbarte Übergabe von 66 sogenannten SAG-Betrieben 1,75 Milliarden Mark aufzubringen hatte, rückte in der zweiten Hälfte des Jahres 1952 mehr und mehr die Mobilisierung von Mitteln für die ebenfalls von der 2. Parteikonferenz beschlossene »Organisierung bewaffneter Streitkräfte« und den damit einhergehenden forcierten Aufbau der Schwerindustrie in den Mittelpunkt der Regierungsarbeit. Die Kasernierte Volkspolizei, die seit Sommer 1952 aufgebaut wurde, sollte bis auf 200.000 Mann aufwachsen. Die direkten Kosten, die dafür bis zum Sommer 1953 für Ausrüstung, Unterkunft, Verwaltung, Sold usw. aufliefen, entsprachen den jährlichen Besatzungskosten von zwei Milliarden Mark.
Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die an die Regierung der DDR gerichteten »Empfehlungen« und Memoranden der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) sich 1952/53 überwiegend nicht mit der Vergesellschaftung von Betrieben oder der Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften – dem Herzstück der öffentlichen Kampagne – beschäftigten, sondern mit der Frage der Mobilisierung von zusätzlichen Geldmitteln. Dabei zeichnete sich rasch eine Tendenz ab: Die für den Gesamtkomplex der Aufrüstung erforderlichen Mittel sollten durch höhere und rücksichtslos eingetriebene Besitz- und Einkommenssteuern, die das Bürgertum und die Großbauern trafen, aber auch durch Einsparungen bei der Sozialversicherung und eine Einkommensminderung bzw. eine Reduzierung des allgemeinen Konsumniveaus der Bevölkerung beschafft werden.
Das führte rasch zu Problemen. Im Januar 1953 warnte die SED-Spitze in einem an die sowjetische Regierung gerichteten Schreiben, dass die DDR auf den »Aufbau der nationalen bewaffneten Streitkräfte« nicht vorbereitet sei; im Plan für 1953 fehlten dafür die Voraussetzungen. Bereits 1952 habe man für den Streitkräfteausbau »Erzeugnisse in Höhe von 500 Mio. DM-DDR (ohne Nahrungsmittel) anderen Verbrauchern weggenommen«. Ausdrücklich wurde bemängelt, dass zugesagte Importe aus der Sowjetunion »nicht kommen«, während die Forderungen für Lieferungen an die Sowjetunion am Plan vorbei erhöht würden. Die ökonomische Lage sei »äußerst ernst und angespannt«. Um aus dieser Lage herauszukommen, wurde Moskau gebeten, die Verpflichtungen der DDR hinsichtlich der Reparationen und der Exporte zu prüfen. Im Januar billigte das Politbüro den Entwurf des Staatshaushaltsplans für 1953 und ein Sparprogramm, mit dem rund 1,5 Milliarden Mark eingespart werden sollten.
Das Resultat war, dass die Bevölkerung der DDR in ihrer Breite und insbesondere die Arbeiterklasse den eingeleiteten Aufbau des Sozialismus als Phase plötzlicher und drastischer Verschlechterung der Lebensverhältnisse erlebte. Dieser – von der SED politisch und propagandistisch nicht vermittelbare – Prozess begann im Herbst 1952 und verschärfte sich im ersten Halbjahr 1953. Die damit einhergehenden Spannungen versuchte der Staat sehr hart justizförmig zu regulieren: Auf der Grundlage des »Gesetzes zum Schutz des Volkseigentums« von 1952 wurden allein in den ersten drei Monaten des Jahres 1953 8.000 Menschen oft wegen Kleinigkeiten zu Haftstrafen verurteilt; binnen eines Jahres verdoppelte sich die Zahl der Gefängnisinsassen. Ablesbar war die wachsende Unzufriedenheit an der Zahl der Menschen, die die DDR Richtung Bundesrepublik oder Westberlin verließen: 1952 waren es 182.000, in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 nach intern erhobenen Zahlen aber bereits 122.000, darunter – ein besonders auffälliges Warnsignal – fast 3.000 Mitglieder und Kandidaten der SED.
Regime der Sparsamkeit
Das von sowjetischer Seite angeregte Regime der Sparsamkeit wurde unterdessen – freilich in Agitation und Propaganda weit weniger sichtbar als die im Herbst 1952 eingeleitete Kampagne zur sozialistischen Umgestaltung von Industrie und Landwirtschaft – mit Schwung und Gründlichkeit eingeführt. Da wurde etwa verfügt, dass kostenfreie Kuren, die viele Arbeiter, die in körperlich besonders anstrengenden oder gesundheitsschädlichen Bereichen beschäftigt waren, rege und dankbar in Anspruch genommen hatten, auf den normalen Urlaub angerechnet wurden; dazu wurde der Kreis der Anspruchsberechtigten eingeschränkt. Im Dezember 1952 wurden mehrere Fahrpreisermäßigungen bei der Reichsbahn kassiert; im April 1953 entfielen auch die Ermäßigungen für Kriegsbeschädigte und Behinderte und dazu die sogenannten Arbeiterrückfahrkarten. In Betrieben und Verwaltungen wurden Lohnzuschläge gekürzt (deswegen kam es schon im Dezember 1952 in Magdeburg zu Arbeitsniederlegungen in mehreren Großbetrieben) und nachteilige Umgruppierungen vorgenommen.
Ebenfalls im April fiel ein erheblicher Teil der Bevölkerung aus der Kartenversorgung heraus, musste sich also gänzlich aus dem eigenen, oft genug kärglichen Einkommen mit Lebensmitteln und Bekleidung versorgen, was für die Betroffenen – darunter viele kleine Händler und Selbständige, die nur mühsam über die Runden kamen – mit erheblichen zusätzlichen Ausgaben verbunden war. Dann folgte gleich noch eine Preiserhöhung für Fleischprodukte und »zuckerhaltige Waren«, also auch für Marmelade und Kunsthonig, die damals auf fast jedem Pausenbrot zu finden waren. Zu den erhöhten Preisen kam eine durch die Sparpolitik hervorgerufene Mangelversorgung. Sogar Butter und Margarine waren plötzlich knapp. Erklärt wurde das mit Sabotage durch Großbauern und »Feinde« in den für Handel und Versorgung zuständigen Bereichen.
Die für die nachfolgenden Ereignisse entscheidende Weiche wurde im Mai 1953 gestellt – mit dem durch eine längere Kampagne vorbereiteten Beschluss, zum 1. Juni alle Arbeitsnormen in den volkseigenen Betrieben pauschal um mindestens zehn Prozent zu erhöhen. Argumentiert wurde hier mit einer unbedingt erforderlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität. Da in dieser kurzen Zeitspanne keine veralteten oder verschlissenen Maschinen ersetzt oder Arbeitsabläufe verbessert werden konnten und die Tariflöhne nicht entsprechend erhöht wurden, lief das für viele Arbeiter auf eine erhebliche Lohnsenkung hinaus. Mit dieser Normerhöhung schlug der wachsende Unmut, über den viele Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre in den Monaten zuvor Berichte »nach oben« geschickt hatten, in offene Empörung um.
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Geschockte Partei
An diesem Punkt griff Moskau ein (über diese Vorgänge war bis 1990 öffentlich nichts bekannt). Die SKK mit Sitz in Berlin-Karlshorst verfügte über eine Vielzahl von eigenen Informationen über die Zuspitzung der Lage in der DDR, und die ergaben ein immer ungünstigeres Bild. In Moskau ermunterten diese Informationen zudem jenen Teil der Staats- und Parteiführung, der nach Stalins Tod mit dem Gedanken spielte, die DDR kurzfristig im Westen »anzubieten«. Walter Ulbricht und Ministerpräsident Otto Grotewohl wurden Anfang Juni zusammen mit dem Politbüromitglied Fred OelßÂner (als Dolmetscher) nach Moskau zitiert, wo der kleinen Delegation ein vom Ministerrat der UdSSR beschlossenes Dokument über »Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik« präsentiert wurde. Darin wurde eine Kursänderung gefordert, die auf eine Rücknahme der nun zur »fehlerhaften politischen Linie« erklärten, von der 2. Parteikonferenz eingeleiteten Politik hinauslief: Für den »beschleunigten« Aufbau des Sozialismus hätten die innen- und außenpolitischen Voraussetzungen gefehlt, hieß es.
Zahlreiche – zum großen Teil von der SKK »empfohlene« – Maßnahmen wurden nun für falsch erklärt; sogar die »künstliche« Schaffung von LPGen wurde verworfen. Als »Hauptaufgabe« wurde einmal mehr »der Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage« identifiziert. »Wenn wir jetzt nicht korrigieren, kommt eine Katastrophe«, erklärte Georgi Malenkow. Als Ulbricht vorsichtig widersprach und mehr Zeit forderte, brüllte ihn Berija an. Wie dumme Schuljungen wurden die deutschen Genossen abgekanzelt; ihre erste schriftliche Stellungnahme wurde brüsk zurückgewiesen.
Nach der Rückkehr der Delegation wurde das Politbüro mit den Ergebnissen dieser Gespräche vertraut gemacht. Die Bezirksleitungen der SED hatte der ZK-Sekretär für Agitation, Hermann Axen, bereits am 3. Juni nach Erhalt eines ersten Telegramms aus Moskau »streng vertraulich« angewiesen, die Herausgabe von Materialien über die 2. Parteikonferenz »ab sofort« einzustellen. Ähnlich wurden Presse und Rundfunk orientiert. Am 5., 6. und am 9. Juni trat das Politbüro zu Sitzungen zusammen, die zum Teil dramatisch verliefen (wir gehen darauf im dritten Teil ein), und deren erstes sichtbares Ergebnis ein Dokument war, mit dem der politische Kurswechsel der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte.
Die Bedeutung des Kommuniqués des Politbüros vom 9. Juni, das am 11. Juni im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde (und zwar ohne kommentierende Einordnung), kann nicht genug betont werden. Vermutlich hat dieses Dokument – sowohl die Art und Weise seiner Veröffentlichung wie sein Inhalt – den eruptiven »17. Juni« überhaupt erst möglich gemacht. In dem Kommuniqué wurden zur Überraschung der SED-Mitglieder die ein Jahr lang mit größtem Nachdruck für richtig erklärten und in politischen Auseinandersetzungen gegen viele Widerstände verteidigten Maßnahmen im Grunde durchweg für fehlerhaft erklärt. Die Rücknahme dieser Maßnahmen wurde im Verbund mit einem erneuerten Bekenntnis zur Herstellung der Einheit Deutschlands angekündigt. Mit dieser öffentlichen Kehrtwende schien die SED den Gegnern ihrer Politik zuzugestehen, dass sie bis zu einem gewissen Grad richtig gelegen hatten; die Partei »ermunterte« so Menschen, die einfach unzufrieden waren, aber auch echte politische Gegner dazu, viel offener als bislang aufzutreten.
Vielfach überliefert ist, dass es fassungslose Genossen gab, die diese Ausgabe des Zentralorgans im ersten Augenblick für eine »Fälschung des Gegners« hielten. Das erste und unmittelbare Resultat des Kommuniqués war also die vorübergehende Lähmung der SED. Rudolf Herrnstadt, der den Entwurf verfasst hatte, schrieb später, ihm sei bei der Arbeit klargeworden, dass das Kommuniqué »eine nicht zu verantwortende Schockwirkung in der Partei und in der Öffentlichkeit hervorrufen« müsse: Es war unmöglich, alle Maßnahmen kurzerhand zu widerrufen, »ohne die Partei zu desorientieren und zu verbittern und dem Gegner die Flanke zu öffnen«. Auch Ulbricht und Grotewohl hatten, wie Herrnstadt bezeugt, »die größten Bedenken«. »Aber sie bestehen darauf«, soll Ulbricht gegenüber Herrnstadt mit Blick auf die »Freunde« in Karlshorst gesagt haben. Als Herrnstadt am Abend des 10. Juni beim Hohen Kommissar Wladimir Semjonow um »14 Tage« Aufschub bat, um so zu gewährleisten, dass die Partei mit dem Kurswechsel in die Offensive gehen würde »und nicht der Gegner«, antwortete der maßgebende Vertreter Moskaus in der DDR: »In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.«
Eine so pessimistische Einschätzung der Lage verstand in der SED-Führung niemand. Es gab ein Krisenbewusstsein, aber keine Katastrophenstimmung. Das zeigt auch Ulbrichts von Herrnstadt überlieferte Reaktion auf diese Aussage (»Er soll keine Panik machen!«). Semjonow setzte, indem er die überstürzte Herausgabe des Kommuniqués erzwang, offensichtlich eine Anweisung aus Moskau um, die sich aus den deutschlandpolitischen Debatten in der Führungsgruppe der KPdSU ergab. Die sowjetische Seite griff damit zum zweiten Mal binnen weniger Tage direkt steuernd in den Gang der Ereignisse in der DDR ein.
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Geschockte Partei
An diesem Punkt griff Moskau ein (über diese Vorgänge war bis 1990 öffentlich nichts bekannt). Die SKK mit Sitz in Berlin-Karlshorst verfügte über eine Vielzahl von eigenen Informationen über die Zuspitzung der Lage in der DDR, und die ergaben ein immer ungünstigeres Bild. In Moskau ermunterten diese Informationen zudem jenen Teil der Staats- und Parteiführung, der nach Stalins Tod mit dem Gedanken spielte, die DDR kurzfristig im Westen »anzubieten«. Walter Ulbricht und Ministerpräsident Otto Grotewohl wurden Anfang Juni zusammen mit dem Politbüromitglied Fred OelßÂner (als Dolmetscher) nach Moskau zitiert, wo der kleinen Delegation ein vom Ministerrat der UdSSR beschlossenes Dokument über »Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik« präsentiert wurde. Darin wurde eine Kursänderung gefordert, die auf eine Rücknahme der nun zur »fehlerhaften politischen Linie« erklärten, von der 2. Parteikonferenz eingeleiteten Politik hinauslief: Für den »beschleunigten« Aufbau des Sozialismus hätten die innen- und außenpolitischen Voraussetzungen gefehlt, hieß es.
Zahlreiche – zum großen Teil von der SKK »empfohlene« – Maßnahmen wurden nun für falsch erklärt; sogar die »künstliche« Schaffung von LPGen wurde verworfen. Als »Hauptaufgabe« wurde einmal mehr »der Kampf für die Vereinigung Deutschlands auf demokratischer und friedlicher Grundlage« identifiziert. »Wenn wir jetzt nicht korrigieren, kommt eine Katastrophe«, erklärte Georgi Malenkow. Als Ulbricht vorsichtig widersprach und mehr Zeit forderte, brüllte ihn Berija an. Wie dumme Schuljungen wurden die deutschen Genossen abgekanzelt; ihre erste schriftliche Stellungnahme wurde brüsk zurückgewiesen.
Nach der Rückkehr der Delegation wurde das Politbüro mit den Ergebnissen dieser Gespräche vertraut gemacht. Die Bezirksleitungen der SED hatte der ZK-Sekretär für Agitation, Hermann Axen, bereits am 3. Juni nach Erhalt eines ersten Telegramms aus Moskau »streng vertraulich« angewiesen, die Herausgabe von Materialien über die 2. Parteikonferenz »ab sofort« einzustellen. Ähnlich wurden Presse und Rundfunk orientiert. Am 5., 6. und am 9. Juni trat das Politbüro zu Sitzungen zusammen, die zum Teil dramatisch verliefen (wir gehen darauf im dritten Teil ein), und deren erstes sichtbares Ergebnis ein Dokument war, mit dem der politische Kurswechsel der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte.
Die Bedeutung des Kommuniqués des Politbüros vom 9. Juni, das am 11. Juni im Neuen Deutschland veröffentlicht wurde (und zwar ohne kommentierende Einordnung), kann nicht genug betont werden. Vermutlich hat dieses Dokument – sowohl die Art und Weise seiner Veröffentlichung wie sein Inhalt – den eruptiven »17. Juni« überhaupt erst möglich gemacht. In dem Kommuniqué wurden zur Überraschung der SED-Mitglieder die ein Jahr lang mit größtem Nachdruck für richtig erklärten und in politischen Auseinandersetzungen gegen viele Widerstände verteidigten Maßnahmen im Grunde durchweg für fehlerhaft erklärt. Die Rücknahme dieser Maßnahmen wurde im Verbund mit einem erneuerten Bekenntnis zur Herstellung der Einheit Deutschlands angekündigt. Mit dieser öffentlichen Kehrtwende schien die SED den Gegnern ihrer Politik zuzugestehen, dass sie bis zu einem gewissen Grad richtig gelegen hatten; die Partei »ermunterte« so Menschen, die einfach unzufrieden waren, aber auch echte politische Gegner dazu, viel offener als bislang aufzutreten.
Vielfach überliefert ist, dass es fassungslose Genossen gab, die diese Ausgabe des Zentralorgans im ersten Augenblick für eine »Fälschung des Gegners« hielten. Das erste und unmittelbare Resultat des Kommuniqués war also die vorübergehende Lähmung der SED. Rudolf Herrnstadt, der den Entwurf verfasst hatte, schrieb später, ihm sei bei der Arbeit klargeworden, dass das Kommuniqué »eine nicht zu verantwortende Schockwirkung in der Partei und in der Öffentlichkeit hervorrufen« müsse: Es war unmöglich, alle Maßnahmen kurzerhand zu widerrufen, »ohne die Partei zu desorientieren und zu verbittern und dem Gegner die Flanke zu öffnen«. Auch Ulbricht und Grotewohl hatten, wie Herrnstadt bezeugt, »die größten Bedenken«. »Aber sie bestehen darauf«, soll Ulbricht gegenüber Herrnstadt mit Blick auf die »Freunde« in Karlshorst gesagt haben. Als Herrnstadt am Abend des 10. Juni beim Hohen Kommissar Wladimir Semjonow um »14 Tage« Aufschub bat, um so zu gewährleisten, dass die Partei mit dem Kurswechsel in die Offensive gehen würde »und nicht der Gegner«, antwortete der maßgebende Vertreter Moskaus in der DDR: »In 14 Tagen werden Sie vielleicht schon keinen Staat mehr haben.«
Eine so pessimistische Einschätzung der Lage verstand in der SED-Führung niemand. Es gab ein Krisenbewusstsein, aber keine Katastrophenstimmung. Das zeigt auch Ulbrichts von Herrnstadt überlieferte Reaktion auf diese Aussage (»Er soll keine Panik machen!«). Semjonow setzte, indem er die überstürzte Herausgabe des Kommuniqués erzwang, offensichtlich eine Anweisung aus Moskau um, die sich aus den deutschlandpolitischen Debatten in der Führungsgruppe der KPdSU ergab. Die sowjetische Seite griff damit zum zweiten Mal binnen weniger Tage direkt steuernd in den Gang der Ereignisse in der DDR ein.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 16:55 Uhr
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Provozierte Arbeiter
Im Verbund mit der beschriebenen allgemeinen »Schockwirkung« durch das unvermittelte Abstoppen des bisherigen Kurses ergab sich aus dem Kommuniqué noch eine spezifische »Nebenwirkung« in den Betrieben. Während in dem Kommuniqué Großbauern, Geschäftseigentümer und sogar »republikflüchtige Personen« umworben wurden, blieben die Normerhöhungen – also der Punkt, der die Arbeiterklasse am stärksten gegen die Politik der SED aufgebracht hatte – gänzlich unerwähnt. Dass niemandem in der Parteispitze auffiel, dass es sich politisch verheerend auswirken musste, alle Bevölkerungsschichten zu entlasten, die Arbeiterklasse aber nicht, erscheint noch heute kaum glaublich. Als am 16. Juni der stellvertretende FDGB-Vorsitzende Otto Lehmann die Normerhöhungen im Gewerkschaftsblatt Tribüne auch noch für »in vollem Umfang richtig« erklärte und die Ansicht, es handele sich hier um eine Lohnsenkung, als »feindliche ›Theorie‹« angriff, wirkte das wie eine bewusste Provokation. In vielen Betrieben quer durch die DDR wurde das als Antwort von SED und Regierung auf die nach dem 11. Juni nur noch verstärkt vorgetragenen Forderungen nach Rücknahme der Normerhöhungen verstanden.
Auch auf den Baustellen an der Stalinallee im Berliner Bezirk Friedrichshain hatte sich seit dem 12. Juni die Lage zugespitzt. In dem 1999 in einem wenig beachteten Sammelband publizierten Bericht aus dem Nachlass von Arnold Eisensee (1953 Leiter des Funkstudios des Nationalen Aufbauwerks in der Stalinallee) ist das sehr gründlich von einem Augenzeugen, der sich jahrzehntelang mit den Vorgängen beschäftigt hat, rekonstruiert worden. Eisensee schreibt, dass er am 12. Juni einen Anruf erhielt, wonach im Block C-Süd »gestreikt« würde. Wie sich herausstellte, waren die »Streikenden« etwa 40 Bauarbeiter, die erregt mit Bauleitern und Funktionären diskutierten, und zwar über »eine angebliche Erklärung der Bauarbeiter, dass sie ihre Norm geschlossen um 10 Prozent erhöht hätten«. Allerdings hatte darüber niemand zuvor »mit den Bauarbeitern geredet«. Laut Eisensee gab es an diesem Tag »ähnliche Unruhen« auch andernorts auf der Großbaustelle; von »massiver Stimmungsmache« auf der nahegelegenen Baustelle des Bettenhauses für das Krankenhaus Friedrichshain erzählte ihm ein Funktionär.
Der von Eisensee hier als Treibmittel des Protestes festgestellte administrative Stil bei der Propagierung und Durchsetzung höherer Normen, der ganz ähnlich in sehr vielen Betrieben an der Tagesordnung war, wurde – als es zu spät war – vom Präsidium des Bundesvorstandes des FDGB in einer Entschließung Anfang Juli 1953 anschaulich kritisiert: »An die Stelle der Arbeit mit den Menschen war vielerorts die Arbeit mit dem Papier getreten. Von den oberen Gewerkschaftsleitungen wurde zugelassen, dass an die Stelle einer breiten Arbeiterdemokratie und ihrer ständigen Entwicklung Formalismus, Diktieren und Administrieren trat. (…) Viele Gewerkschaftsleitungen maßten sich an, Resolutionen im Namen der Belegschaften zu verfassen, ohne dass dieselben etwas davon wussten.«
Mitte Juni 1953 war unbestreitbar eine tiefgehende Entfremdung zwischen der SED und den von ihr beeinflussten Massenorganisationen und großen Teilen der Arbeiterklasse eingetreten. Grundlage dieser Entfremdung war die kontinuierliche Verschlechterung der materiellen Lage der Arbeiterklasse, ausgedrückt in der Kombination von Preiserhöhungen und Normerhöhungen/Lohnsenkungen, die die Partei der Arbeiterklasse administrativ aufzwang – zu allem Überfluss unter der übergeordneten Losung des »Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus«. Nun kursierten erstmals Streikaufrufe. Das am 11. Juni veröffentlichte Kommuniqué des Politbüros hatte viele SED-Mitglieder verunsichert; Austritte aus der Partei häuften sich. Für viele Gegner der SED signalisierte es den Bankrott und die bevorstehende Abdankung der Partei. Gerüchte liefen um, das Kommuniqué sei von Adenauer, den Amerikanern oder der Kirche erzwungen worden. Antikommunisten aller Schattierungen traten in den ersten Junitagen in vielen Orten der DDR aus der Deckung.
Das Kommuniqué hatte den Arbeitern signalisiert, dass zwar die Maßnahmen, die andere Bevölkerungsschichten betrafen, korrigiert oder zurückgenommen wurden, die Normerhöhungen jedoch nicht. Der Artikel in der Tribüne bestätigte das. Und so formierte sich am 16. Juni in der Stalinallee ein erster kleiner Demonstrationszug mit der Forderung, die Normerhöhungen zurückzunehmen. Ein »Aufstand« war das nicht. Aber die, die einen daraus machen wollten, fanden reichlich Ansatzpunkte.
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Provozierte Arbeiter
Im Verbund mit der beschriebenen allgemeinen »Schockwirkung« durch das unvermittelte Abstoppen des bisherigen Kurses ergab sich aus dem Kommuniqué noch eine spezifische »Nebenwirkung« in den Betrieben. Während in dem Kommuniqué Großbauern, Geschäftseigentümer und sogar »republikflüchtige Personen« umworben wurden, blieben die Normerhöhungen – also der Punkt, der die Arbeiterklasse am stärksten gegen die Politik der SED aufgebracht hatte – gänzlich unerwähnt. Dass niemandem in der Parteispitze auffiel, dass es sich politisch verheerend auswirken musste, alle Bevölkerungsschichten zu entlasten, die Arbeiterklasse aber nicht, erscheint noch heute kaum glaublich. Als am 16. Juni der stellvertretende FDGB-Vorsitzende Otto Lehmann die Normerhöhungen im Gewerkschaftsblatt Tribüne auch noch für »in vollem Umfang richtig« erklärte und die Ansicht, es handele sich hier um eine Lohnsenkung, als »feindliche ›Theorie‹« angriff, wirkte das wie eine bewusste Provokation. In vielen Betrieben quer durch die DDR wurde das als Antwort von SED und Regierung auf die nach dem 11. Juni nur noch verstärkt vorgetragenen Forderungen nach Rücknahme der Normerhöhungen verstanden.
Auch auf den Baustellen an der Stalinallee im Berliner Bezirk Friedrichshain hatte sich seit dem 12. Juni die Lage zugespitzt. In dem 1999 in einem wenig beachteten Sammelband publizierten Bericht aus dem Nachlass von Arnold Eisensee (1953 Leiter des Funkstudios des Nationalen Aufbauwerks in der Stalinallee) ist das sehr gründlich von einem Augenzeugen, der sich jahrzehntelang mit den Vorgängen beschäftigt hat, rekonstruiert worden. Eisensee schreibt, dass er am 12. Juni einen Anruf erhielt, wonach im Block C-Süd »gestreikt« würde. Wie sich herausstellte, waren die »Streikenden« etwa 40 Bauarbeiter, die erregt mit Bauleitern und Funktionären diskutierten, und zwar über »eine angebliche Erklärung der Bauarbeiter, dass sie ihre Norm geschlossen um 10 Prozent erhöht hätten«. Allerdings hatte darüber niemand zuvor »mit den Bauarbeitern geredet«. Laut Eisensee gab es an diesem Tag »ähnliche Unruhen« auch andernorts auf der Großbaustelle; von »massiver Stimmungsmache« auf der nahegelegenen Baustelle des Bettenhauses für das Krankenhaus Friedrichshain erzählte ihm ein Funktionär.
Der von Eisensee hier als Treibmittel des Protestes festgestellte administrative Stil bei der Propagierung und Durchsetzung höherer Normen, der ganz ähnlich in sehr vielen Betrieben an der Tagesordnung war, wurde – als es zu spät war – vom Präsidium des Bundesvorstandes des FDGB in einer Entschließung Anfang Juli 1953 anschaulich kritisiert: »An die Stelle der Arbeit mit den Menschen war vielerorts die Arbeit mit dem Papier getreten. Von den oberen Gewerkschaftsleitungen wurde zugelassen, dass an die Stelle einer breiten Arbeiterdemokratie und ihrer ständigen Entwicklung Formalismus, Diktieren und Administrieren trat. (…) Viele Gewerkschaftsleitungen maßten sich an, Resolutionen im Namen der Belegschaften zu verfassen, ohne dass dieselben etwas davon wussten.«
Mitte Juni 1953 war unbestreitbar eine tiefgehende Entfremdung zwischen der SED und den von ihr beeinflussten Massenorganisationen und großen Teilen der Arbeiterklasse eingetreten. Grundlage dieser Entfremdung war die kontinuierliche Verschlechterung der materiellen Lage der Arbeiterklasse, ausgedrückt in der Kombination von Preiserhöhungen und Normerhöhungen/Lohnsenkungen, die die Partei der Arbeiterklasse administrativ aufzwang – zu allem Überfluss unter der übergeordneten Losung des »Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus«. Nun kursierten erstmals Streikaufrufe. Das am 11. Juni veröffentlichte Kommuniqué des Politbüros hatte viele SED-Mitglieder verunsichert; Austritte aus der Partei häuften sich. Für viele Gegner der SED signalisierte es den Bankrott und die bevorstehende Abdankung der Partei. Gerüchte liefen um, das Kommuniqué sei von Adenauer, den Amerikanern oder der Kirche erzwungen worden. Antikommunisten aller Schattierungen traten in den ersten Junitagen in vielen Orten der DDR aus der Deckung.
Das Kommuniqué hatte den Arbeitern signalisiert, dass zwar die Maßnahmen, die andere Bevölkerungsschichten betrafen, korrigiert oder zurückgenommen wurden, die Normerhöhungen jedoch nicht. Der Artikel in der Tribüne bestätigte das. Und so formierte sich am 16. Juni in der Stalinallee ein erster kleiner Demonstrationszug mit der Forderung, die Normerhöhungen zurückzunehmen. Ein »Aufstand« war das nicht. Aber die, die einen daraus machen wollten, fanden reichlich Ansatzpunkte.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 17:08 Uhr
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Alter Hirsch im Blauhemd
Der harte Kern der Antikommunisten: Anmerkungen zu einem »Volksaufstand«. Zur Junikrise 1953 in der DDR (Teil 2)
Von Leo Schwarz
Die Welle von Streiks und Protesten in der DDR im Sommer 1953, die Anfang Juni in einzelnen Betrieben begann und einige Wochen anhielt – wobei wegen der offenen Konfrontation der 17. und der 18. Juni herausragen –, wird in der geschichtspolitischen Aufbereitung auf ein paar Stunden und bestimmte Szenen bzw. Parolen des 17. Juni verkürzt. Es lohnt sich, ein paar Schritte zurückzutreten und die Frage zu stellen, ob die politisch interessierte Erzählung vom »Volksaufstand« auch nur auf einer ereignisgeschichtlichen Ebene einer Überprüfung standhält. Manches deutet darauf hin, dass der plumpe Schluss, der republikweite Ausbruch der gegen die Politik der SED gerichteten Massenstimmung am 17. Juni, auf deren Entstehungsbedingungen wir im ersten Teil eingegangen waren, sei ein »Aufstand« gewesen, dem politischen Inhalt und dem spezifischen Bedingungsgefüge des Geschehens nicht gerecht wird.
FDGB verriegelt die Tür
Spätestens am 15. Juni häuften sich die beim Apparat der SED einlaufenden Meldungen über kleinere Arbeitsniederlegungen und Proteste gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen in Betrieben quer durch die DDR. Die von Bauarbeitern im Berliner Bezirk Friedrichshain begonnene Demonstration am 16. Juni – am Strausberger Platz gestartet, und zwar nur als »begleitete« Abordnung, die im Haus der Ministerien in der Wilhelmstraße/Leipziger Straße den Bescheid über die am Vortag dort schriftliche übergebene Forderung nach Aufhebung der Normenerhöhung entgegennehmen sollte – wuchs schnell auf etwa 2.000 Teilnehmer an.
Der Ostberliner Polizeipräsident erhielt von der sowjetischen Militärkommandantur keine Genehmigung für einen Einsatz der Polizei gegen die Demonstration. Aufschlussreich ist, dass die Demonstranten mit der Absicht, Gewerkschaftsfunktionäre als Sprecher zu gewinnen, zunächst zum Haus des FDGB in der Wallstraße zogen – sie bewegten sich also auch jetzt noch völlig innerhalb des relevanten Institutionengefüges der DDR. Beim FDGB allerdings verriegelte man die Eingänge und ließ die kleine Demonstration, die immer weiter anwuchs, weiterziehen.
Diese Demonstration fiel zeitlich mit dem nun eilig erfolgten Beschluss des Politbüros zur Aufhebung der pauschalen Normenerhöhung zusammen: Nun hieß es, es sei »völlig falsch«, diese Erhöhung »auf administrativem Wege« herbeizuführen. Das stand so aber erst am 17. Juni im Neuen Deutschland. Am Vortag waren diese Neuigkeiten den Demonstranten vor dem Haus der Ministerien, die dort, immer unruhiger werdend, gewartet hatten (dabei soll die Losung »Generalstreik« aufgekommen sein), von Minister Fritz Selbmann mitgeteilt worden. In den Bezirken der DDR sorgte lediglich die SED-Bezirksleitung Suhl dafür, dass dieser Beschluss noch am 16. Juni in allen Betrieben bekanntgegeben wurde – mit Sicherheit der wesentliche Grund dafür, dass es in diesem Bezirk am 17. Juni vollkommen ruhig blieb.
Diese Umsteuerung in der Frage der Arbeitsnormen, die, wäre sie in dem am 11. Juni herausgegebenen Politbüro-Kommuniqué enthalten gewesen, die Lage beruhigt hätte, konnte das Blatt nun nicht mehr wenden. Kleinere diskutierende Gruppen und Menschenansammlungen waren im Berliner StadtzenÂtrum bis zum Abend zu beobachten, und es war nach Lage der Dinge damit zu rechnen, dass am nächsten Tag in mehreren Betrieben gestreikt werden würde. Auch Unruhen waren zu erwarten: Nach einer kurzfristig einberufenen Zusammenkunft des Berliner »Parteiaktivs« der SED im Friedrichstadtpalast am Abend des 16. Juni – hier erläuterten Walter Ulbricht und Otto Grotewohl erstmals den mit dem Kommuniqué eingeleiteten Kurswechsel vor Funktionären der Partei – gerieten abmarschierende Teilnehmer in der Straße Unter den Linden mit »Westberliner Halbwüchsigen« aneinander, die »zweifellos als ›Stoßtrupp‹ in den Osten Berlins gekommen waren« (Karl Schirdewan). Eine Augenzeugin hatte ein paar Stunden zuvor Männer auf dem Alexanderplatz beobachtet, die Passanten zuriefen, die Regierung sei »abgesetzt« und »nach Russland geflohen«, und Ulbricht habe sich erschossen.
Scharnowski gibt Rat
Am Nachmittag des 16. Juni hatte der RIAS in einer Nachrichtensendung die Generalstreikparole aufgegriffen (einmalig, weil die US-Aufseher beim Sender das sofort verboten), irreführend von »Massendemonstrationen« gesprochen und auch die – vor dem Haus der Ministerien gar nicht erhobenen – Forderungen nach »freien Wahlen« und »Rücktritt der Regierung« kolportiert. Bei dem Sender sollen, so will es die Legende, am Nachmittag vier Vertreter einer ominösen »Streikleitung« aufgetaucht sein, die die »Forderungen der Bauarbeiter« überbrachten. Allerdings gab es in der Stalinallee gar keine Streikleitung.
Die RIAS-Berichterstattung in diesem Stil wurde am Abend und in der Nacht fortgesetzt. Am frühen Morgen des 17. Juni meldete sich dann über den Sender, der in weiten Teilen der DDR gut zu empfangen war, der Westberliner DGB-Chef Ernst Scharnowski in einer dreiminütigen Ansprache, die bis 7.30 Uhr viermal ausgestrahlt wurde, mit »guten Ratschlägen« zu Wort. In auffälliger Weise darum bemüht, präventiv jede eigene Verwicklung in die Vorgänge in der »Ostzone« zu bestreiten, stachelte er die Hörer in der DDR dazu an, die »demokratischen Selbsthilfemaßnahmen« auszuweiten: »Eure Regierung hat selber diese Grundrechte beschlossen und damit auch für euch diese Freiheit zum Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse gestattet.« Der wesentliche Punkt in dieser Rede war nichts anderes als ein verklausulierter Aufruf zum Generalstreik und zu Demonstrationen: »Lasst sie nicht allein. (…) Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf!«
Interessant ist ein gewöhnlich übersehenes Detail: Mit der Lüge, es gebe eine Bewegung der »BVGer und Eisenbahner«, erweckte Scharnowski den Eindruck, in Ostberlin stehe ein Generalstreik bevor oder sei bereits im Gange – eine Arbeitsniederlegung im Verkehrswesen bedeutete, wie jeder Arbeiter wusste, den weitgehenden Stillstand des Wirtschaftslebens.
Die RIAS-Meldungen und Scharnowskis Rede erzeugten in geschickter Weise eine verzerrte, auf Eskalation berechnete Erzählung über die Vorgänge in Berlin. Am Morgen des 17. Juni war das die einzige Version, die Millionen Menschen in der DDR erreichte. Das erklärt die auf den ersten Blick verblüffende »Gleichzeitigkeit« der Ereignisse in den folgenden 24 Stunden: Vielfach bezeugt ist, dass für viele Menschen in der »Provinz« eine entscheidende Rolle spielte, »was Berlin macht«. Allerdings sei hier vor dem Schluss gewarnt, der RIAS habe den 17. Juni »gemacht«: Dass die von diesem Sender erzählte Geschichte auf so überaus fruchtbaren Boden fiel, belegt erst einmal nur, dass die Situation in der DDR dafür »reif« war.
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Alter Hirsch im Blauhemd
Der harte Kern der Antikommunisten: Anmerkungen zu einem »Volksaufstand«. Zur Junikrise 1953 in der DDR (Teil 2)
Von Leo Schwarz
Die Welle von Streiks und Protesten in der DDR im Sommer 1953, die Anfang Juni in einzelnen Betrieben begann und einige Wochen anhielt – wobei wegen der offenen Konfrontation der 17. und der 18. Juni herausragen –, wird in der geschichtspolitischen Aufbereitung auf ein paar Stunden und bestimmte Szenen bzw. Parolen des 17. Juni verkürzt. Es lohnt sich, ein paar Schritte zurückzutreten und die Frage zu stellen, ob die politisch interessierte Erzählung vom »Volksaufstand« auch nur auf einer ereignisgeschichtlichen Ebene einer Überprüfung standhält. Manches deutet darauf hin, dass der plumpe Schluss, der republikweite Ausbruch der gegen die Politik der SED gerichteten Massenstimmung am 17. Juni, auf deren Entstehungsbedingungen wir im ersten Teil eingegangen waren, sei ein »Aufstand« gewesen, dem politischen Inhalt und dem spezifischen Bedingungsgefüge des Geschehens nicht gerecht wird.
FDGB verriegelt die Tür
Spätestens am 15. Juni häuften sich die beim Apparat der SED einlaufenden Meldungen über kleinere Arbeitsniederlegungen und Proteste gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen in Betrieben quer durch die DDR. Die von Bauarbeitern im Berliner Bezirk Friedrichshain begonnene Demonstration am 16. Juni – am Strausberger Platz gestartet, und zwar nur als »begleitete« Abordnung, die im Haus der Ministerien in der Wilhelmstraße/Leipziger Straße den Bescheid über die am Vortag dort schriftliche übergebene Forderung nach Aufhebung der Normenerhöhung entgegennehmen sollte – wuchs schnell auf etwa 2.000 Teilnehmer an.
Der Ostberliner Polizeipräsident erhielt von der sowjetischen Militärkommandantur keine Genehmigung für einen Einsatz der Polizei gegen die Demonstration. Aufschlussreich ist, dass die Demonstranten mit der Absicht, Gewerkschaftsfunktionäre als Sprecher zu gewinnen, zunächst zum Haus des FDGB in der Wallstraße zogen – sie bewegten sich also auch jetzt noch völlig innerhalb des relevanten Institutionengefüges der DDR. Beim FDGB allerdings verriegelte man die Eingänge und ließ die kleine Demonstration, die immer weiter anwuchs, weiterziehen.
Diese Demonstration fiel zeitlich mit dem nun eilig erfolgten Beschluss des Politbüros zur Aufhebung der pauschalen Normenerhöhung zusammen: Nun hieß es, es sei »völlig falsch«, diese Erhöhung »auf administrativem Wege« herbeizuführen. Das stand so aber erst am 17. Juni im Neuen Deutschland. Am Vortag waren diese Neuigkeiten den Demonstranten vor dem Haus der Ministerien, die dort, immer unruhiger werdend, gewartet hatten (dabei soll die Losung »Generalstreik« aufgekommen sein), von Minister Fritz Selbmann mitgeteilt worden. In den Bezirken der DDR sorgte lediglich die SED-Bezirksleitung Suhl dafür, dass dieser Beschluss noch am 16. Juni in allen Betrieben bekanntgegeben wurde – mit Sicherheit der wesentliche Grund dafür, dass es in diesem Bezirk am 17. Juni vollkommen ruhig blieb.
Diese Umsteuerung in der Frage der Arbeitsnormen, die, wäre sie in dem am 11. Juni herausgegebenen Politbüro-Kommuniqué enthalten gewesen, die Lage beruhigt hätte, konnte das Blatt nun nicht mehr wenden. Kleinere diskutierende Gruppen und Menschenansammlungen waren im Berliner StadtzenÂtrum bis zum Abend zu beobachten, und es war nach Lage der Dinge damit zu rechnen, dass am nächsten Tag in mehreren Betrieben gestreikt werden würde. Auch Unruhen waren zu erwarten: Nach einer kurzfristig einberufenen Zusammenkunft des Berliner »Parteiaktivs« der SED im Friedrichstadtpalast am Abend des 16. Juni – hier erläuterten Walter Ulbricht und Otto Grotewohl erstmals den mit dem Kommuniqué eingeleiteten Kurswechsel vor Funktionären der Partei – gerieten abmarschierende Teilnehmer in der Straße Unter den Linden mit »Westberliner Halbwüchsigen« aneinander, die »zweifellos als ›Stoßtrupp‹ in den Osten Berlins gekommen waren« (Karl Schirdewan). Eine Augenzeugin hatte ein paar Stunden zuvor Männer auf dem Alexanderplatz beobachtet, die Passanten zuriefen, die Regierung sei »abgesetzt« und »nach Russland geflohen«, und Ulbricht habe sich erschossen.
Scharnowski gibt Rat
Am Nachmittag des 16. Juni hatte der RIAS in einer Nachrichtensendung die Generalstreikparole aufgegriffen (einmalig, weil die US-Aufseher beim Sender das sofort verboten), irreführend von »Massendemonstrationen« gesprochen und auch die – vor dem Haus der Ministerien gar nicht erhobenen – Forderungen nach »freien Wahlen« und »Rücktritt der Regierung« kolportiert. Bei dem Sender sollen, so will es die Legende, am Nachmittag vier Vertreter einer ominösen »Streikleitung« aufgetaucht sein, die die »Forderungen der Bauarbeiter« überbrachten. Allerdings gab es in der Stalinallee gar keine Streikleitung.
Die RIAS-Berichterstattung in diesem Stil wurde am Abend und in der Nacht fortgesetzt. Am frühen Morgen des 17. Juni meldete sich dann über den Sender, der in weiten Teilen der DDR gut zu empfangen war, der Westberliner DGB-Chef Ernst Scharnowski in einer dreiminütigen Ansprache, die bis 7.30 Uhr viermal ausgestrahlt wurde, mit »guten Ratschlägen« zu Wort. In auffälliger Weise darum bemüht, präventiv jede eigene Verwicklung in die Vorgänge in der »Ostzone« zu bestreiten, stachelte er die Hörer in der DDR dazu an, die »demokratischen Selbsthilfemaßnahmen« auszuweiten: »Eure Regierung hat selber diese Grundrechte beschlossen und damit auch für euch diese Freiheit zum Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse gestattet.« Der wesentliche Punkt in dieser Rede war nichts anderes als ein verklausulierter Aufruf zum Generalstreik und zu Demonstrationen: »Lasst sie nicht allein. (…) Tretet darum der Bewegung der Ostberliner Bauarbeiter, BVGer und Eisenbahner bei und sucht eure Strausberger Plätze überall auf!«
Interessant ist ein gewöhnlich übersehenes Detail: Mit der Lüge, es gebe eine Bewegung der »BVGer und Eisenbahner«, erweckte Scharnowski den Eindruck, in Ostberlin stehe ein Generalstreik bevor oder sei bereits im Gange – eine Arbeitsniederlegung im Verkehrswesen bedeutete, wie jeder Arbeiter wusste, den weitgehenden Stillstand des Wirtschaftslebens.
Die RIAS-Meldungen und Scharnowskis Rede erzeugten in geschickter Weise eine verzerrte, auf Eskalation berechnete Erzählung über die Vorgänge in Berlin. Am Morgen des 17. Juni war das die einzige Version, die Millionen Menschen in der DDR erreichte. Das erklärt die auf den ersten Blick verblüffende »Gleichzeitigkeit« der Ereignisse in den folgenden 24 Stunden: Vielfach bezeugt ist, dass für viele Menschen in der »Provinz« eine entscheidende Rolle spielte, »was Berlin macht«. Allerdings sei hier vor dem Schluss gewarnt, der RIAS habe den 17. Juni »gemacht«: Dass die von diesem Sender erzählte Geschichte auf so überaus fruchtbaren Boden fiel, belegt erst einmal nur, dass die Situation in der DDR dafür »reif« war.
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Ãœberraschte Partei
Die am Abend und in der Nacht mobilisierten Betriebsparteiorganisationen der SED sollten die Arbeiter in Berliner Betrieben bei Arbeitsbeginn am 17. Juni erwarten und ihnen die jüngsten Beschlüsse der Partei erläutern. Auch die Dienststellen der Volkspolizei wurden in der Nacht in Alarmbereitschaft versetzt. Die ergriffenen Maßnahmen zeigen, dass Regierung und Partei weiterhin in der Hauptsache nur in Berlin mit der Möglichkeit von größeren Streiks und Unruhen rechneten. Eine Einbeziehung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) – also der im Aufbau begriffenen Armee – in die Sicherungsmaßnahmen lehnten Ulbricht und der Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser bei einer Beratung am frühen Morgen zunächst ab. An einen Einsatz der Sowjetarmee dachte zu diesem Zeitpunkt niemand. Wucht und Ausdehnung der Proteste am 17. Juni kamen für die SED-Spitze und die Regierung offensichtlich überraschend.
Wie umfangreich waren diese tatsächlich? »Etwa eine Million Menschen«, hieß es auch zum 70. Jahrestag wieder in vielen Reden und Berichten, hätten an diesem Tag gegen das »SED-Regime« demonstriert. Diese Zahl ist mit Sicherheit viel zu hoch und verdankt sich augenscheinlich einer stillschweigend vorgenommenen Addition: Legt man die in der DDR von Behörden und Organisationen zusammengetragenen internen – also keiner Schönfärberei verdächtigen – Erhebungen zugrunde, dann ist davon auszugehen, dass am 17. Juni zwischen 490.000 und 500.000 Arbeiter und Angestellte in den Streik getreten sind (zum Vergleich: im November 1948 hatten an dem heute völlig vergessenen Generalstreik in der Bizone über neun Millionen Beschäftigte teilgenommen) und knapp 420.000 Menschen »demonstriert« haben. Es gibt offensichtlich zwischen beiden Kategorien beträchtliche Überschneidungen. Die Frage ist, in welchem Umfang: In einigen Bezirken wurden mehr Streikende als Demonstrierende gezählt, in anderen Bezirken war es umgekehrt.
Auffällig ist, dass in Berlin die Zahl der gezählten Demonstrierenden die der Streikenden besonders deutlich überstieg. Das kann ein Indiz dafür sein, dass eine erhebliche Zahl von Personen aus Westberlin die offenen Sektorengrenzen überquert hatte und sich an den Kundgebungen beteiligte – vermutlich insbesondere in der Zone Potsdamer Platz/Leipziger Straße/Haus der Ministerien, wo es, direkt vor den hinter der Sektorengrenze am Potsdamer Platz aufgestellten Kameraleuten und Fotografen, auch schwere Ausschreitungen und viele Verletzte gab.
Hinsichtlich der Beteiligung an den Arbeitsniederlegungen ist eine interne, auf den 26. Juli 1953 datierte Aufstellung der IG Metall (im FDGB) instruktiv. Nach der Überprüfung von 2.918 Betrieben mit 807.483 Beschäftigten in allen 14 Bezirken und in Berlin wird hier konstatiert, dass in 383 Betrieben mit einer Gesamtbelegschaft von 332.653 Beschäftigten gestreikt wurde. Tatsächlich gestreikt haben »274.725 Metallarbeiter«, also 34 Prozent der Arbeiter dieser wichtigen Branche. Dabei ist zu beachten, dass es sich hier vielfach um (nicht selten benachbarte) Großbetriebe handelte, in denen oft die gesamte oder nahezu die gesamte Belegschaft in den Ausstand trat: Das waren in Berlin zum Beispiel das Kabelwerk Oberspree (5.170 Beschäftigte) und das Werk für Fernmeldewesen Oberschöneweide (6.700 Beschäftigte). Hingewiesen sei hier auf die regional sehr ungleichmäßige Verteilung; im bevölkerungsreichen Bezirk Karl-Marx-Stadt mit seinen vielen Metallbetrieben streikten diesen Zahlen zufolge nur 2.060 Arbeiter.
In den Betrieben wurden die SED-Mitglieder von der Proteststimmung vielfach überwältigt. Das zeigt exemplarisch ein Bericht über die Vorgänge in der Waggonfabrik in Ammendorf bei Halle (Saale): »Die Betriebsparteiorganisation versuchte (…), die Leitung der Diskussion an sich zu reißen und positiv zu gestalten, was jedoch nicht gelang. Während bis neun Uhr die Missstimmung der Werktätigen sich hauptsächlich gegen die bestehenden HO-Preise und innerbetriebliche Missstände richtete, verstanden es Provokateure, die Massen (…) weiter aufzuwiegeln und der beginnenden Demonstration aggressiven Charakter zu verleihen.« Mitunter mussten die Genossen der Gewalt weichen, wie etwa in Mühlhausen: »Der Genosse Ernst Schröder sprach auf dem Untermarkt zu den Massen. Man hat ihn niedergerufen. Ein Bauer sprang den Genossen Schröder von hinten an und schlug ihn mit der Faust auf den Hinterkopf. Er musste den Platz verlassen.«
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Ãœberraschte Partei
Die am Abend und in der Nacht mobilisierten Betriebsparteiorganisationen der SED sollten die Arbeiter in Berliner Betrieben bei Arbeitsbeginn am 17. Juni erwarten und ihnen die jüngsten Beschlüsse der Partei erläutern. Auch die Dienststellen der Volkspolizei wurden in der Nacht in Alarmbereitschaft versetzt. Die ergriffenen Maßnahmen zeigen, dass Regierung und Partei weiterhin in der Hauptsache nur in Berlin mit der Möglichkeit von größeren Streiks und Unruhen rechneten. Eine Einbeziehung der Kasernierten Volkspolizei (KVP) – also der im Aufbau begriffenen Armee – in die Sicherungsmaßnahmen lehnten Ulbricht und der Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser bei einer Beratung am frühen Morgen zunächst ab. An einen Einsatz der Sowjetarmee dachte zu diesem Zeitpunkt niemand. Wucht und Ausdehnung der Proteste am 17. Juni kamen für die SED-Spitze und die Regierung offensichtlich überraschend.
Wie umfangreich waren diese tatsächlich? »Etwa eine Million Menschen«, hieß es auch zum 70. Jahrestag wieder in vielen Reden und Berichten, hätten an diesem Tag gegen das »SED-Regime« demonstriert. Diese Zahl ist mit Sicherheit viel zu hoch und verdankt sich augenscheinlich einer stillschweigend vorgenommenen Addition: Legt man die in der DDR von Behörden und Organisationen zusammengetragenen internen – also keiner Schönfärberei verdächtigen – Erhebungen zugrunde, dann ist davon auszugehen, dass am 17. Juni zwischen 490.000 und 500.000 Arbeiter und Angestellte in den Streik getreten sind (zum Vergleich: im November 1948 hatten an dem heute völlig vergessenen Generalstreik in der Bizone über neun Millionen Beschäftigte teilgenommen) und knapp 420.000 Menschen »demonstriert« haben. Es gibt offensichtlich zwischen beiden Kategorien beträchtliche Überschneidungen. Die Frage ist, in welchem Umfang: In einigen Bezirken wurden mehr Streikende als Demonstrierende gezählt, in anderen Bezirken war es umgekehrt.
Auffällig ist, dass in Berlin die Zahl der gezählten Demonstrierenden die der Streikenden besonders deutlich überstieg. Das kann ein Indiz dafür sein, dass eine erhebliche Zahl von Personen aus Westberlin die offenen Sektorengrenzen überquert hatte und sich an den Kundgebungen beteiligte – vermutlich insbesondere in der Zone Potsdamer Platz/Leipziger Straße/Haus der Ministerien, wo es, direkt vor den hinter der Sektorengrenze am Potsdamer Platz aufgestellten Kameraleuten und Fotografen, auch schwere Ausschreitungen und viele Verletzte gab.
Hinsichtlich der Beteiligung an den Arbeitsniederlegungen ist eine interne, auf den 26. Juli 1953 datierte Aufstellung der IG Metall (im FDGB) instruktiv. Nach der Überprüfung von 2.918 Betrieben mit 807.483 Beschäftigten in allen 14 Bezirken und in Berlin wird hier konstatiert, dass in 383 Betrieben mit einer Gesamtbelegschaft von 332.653 Beschäftigten gestreikt wurde. Tatsächlich gestreikt haben »274.725 Metallarbeiter«, also 34 Prozent der Arbeiter dieser wichtigen Branche. Dabei ist zu beachten, dass es sich hier vielfach um (nicht selten benachbarte) Großbetriebe handelte, in denen oft die gesamte oder nahezu die gesamte Belegschaft in den Ausstand trat: Das waren in Berlin zum Beispiel das Kabelwerk Oberspree (5.170 Beschäftigte) und das Werk für Fernmeldewesen Oberschöneweide (6.700 Beschäftigte). Hingewiesen sei hier auf die regional sehr ungleichmäßige Verteilung; im bevölkerungsreichen Bezirk Karl-Marx-Stadt mit seinen vielen Metallbetrieben streikten diesen Zahlen zufolge nur 2.060 Arbeiter.
In den Betrieben wurden die SED-Mitglieder von der Proteststimmung vielfach überwältigt. Das zeigt exemplarisch ein Bericht über die Vorgänge in der Waggonfabrik in Ammendorf bei Halle (Saale): »Die Betriebsparteiorganisation versuchte (…), die Leitung der Diskussion an sich zu reißen und positiv zu gestalten, was jedoch nicht gelang. Während bis neun Uhr die Missstimmung der Werktätigen sich hauptsächlich gegen die bestehenden HO-Preise und innerbetriebliche Missstände richtete, verstanden es Provokateure, die Massen (…) weiter aufzuwiegeln und der beginnenden Demonstration aggressiven Charakter zu verleihen.« Mitunter mussten die Genossen der Gewalt weichen, wie etwa in Mühlhausen: »Der Genosse Ernst Schröder sprach auf dem Untermarkt zu den Massen. Man hat ihn niedergerufen. Ein Bauer sprang den Genossen Schröder von hinten an und schlug ihn mit der Faust auf den Hinterkopf. Er musste den Platz verlassen.«
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Akteure des »Aufstands«
Hier bewegen wir uns auf das Terrain der Erzählung vom »Aufstand«. 420.000 Menschen sind für sich genommen eine beachtliche Zahl. Allerdings ist das eben die Gesamtzahl für die DDR, die damals 18 Millionen Einwohner hatte. Demnach hätten sich – wenn wir ausnahmslos alle Demonstranten als »aufständisch« betrachten – 2,3 Prozent der Bevölkerung an dem »Volksaufstand« beteiligt. Langt das für diese Zuschreibung? Der britische Historiker Gareth Pritchard hat einmal darauf hingewiesen, dass es im Frühjahr 1947 in vielen Städten der britischen Besatzungszone Streiks und große Demonstrationen gab, die sich gegen Nahrungsmittelmangel und die schleppende Entnazifizierung richteten: Trotz Hunderttausender Teilnehmer spreche allerdings kein Mensch von einem »›Volksaufstand‹ gegen die britische Militärregierung«.
Die regionale Verteilung des Demonstrationsgeschehens war ausgesprochen ungleichmäßig: Schwerpunkte, in denen jeweils fast alle Kreise betroffen waren, waren neben Berlin die Bezirke Potsdam, Halle, Magdeburg, Leipzig und Gera. In anderen Bezirken gab es lokale Schwerpunkte – im Bezirk Dresden war das zum Beispiel Görlitz. An die 200.000 der gezählten Demonstranten entfallen allein auf Berlin und den Bezirk Halle. Insgesamt kam es in den Junitagen in mindestens 370 Städten und Gemeinden der DDR (von insgesamt 5.585; in 167 von 217 Land- und Stadtkreisen wurde der Ausnahmezustand verhängt) zu Unruhen im engeren Sinne.
Hier muss allerdings jeweils sorgfältig geprüft werden, wie groß der Anteil der Demonstranten war, die sich zielstrebig an aufstandsähnlichen und gewaltförmigen Aktionen beteiligt haben. Viel spricht dafür, dass diese Zahl deutlich unter 100.000 lag. Es gibt viele Aussagen von Demonstranten, die sich von den Aktionen dieser Gruppe distanzierten, wie etwa diese eines in der Ostberliner SPD organisierten Bauarbeiters: »Und ich hatte ja das gleiche Interesse, wieder nach Hause zu kommen. Wir wollten uns da irgendwie nicht identifizieren mit den Leuten, die da was ansteckten und die Steine warfen.«
Diese »Leute« allerdings griffen Einrichtungen der Partei, der Massenorganisationen und des Staates mit zum Teil erheblicher Aggressivität an. Dass hierbei vor allem Gebäude der SED und des FDGB sowie Gefängnisse und Dienststellen der Staatssicherheit ins Visier gerieten, ist ein Indiz dafür, dass hier tatsächlich – im Gegensatz zu dem Streik in den Betrieben, der eine viel breitere Basis hatte und an dem sich auch SED-Mitglieder beteiligten – ein harter Kern von Antikommunisten in die Offensive ging. Die Frage, wie groß in dieser Gruppe der Anteil derjenigen war, die – acht Jahre nach dem Ende des Naziregimes – direkt aus einer faschistischen Traditionslinie kamen, lässt sich nicht mehr präzise beantworten. Hinweise darauf gibt es – etwa der Gesang von Naziliedern bei einzelnen Demonstrationen und die in den Junitagen verstärkt auftretenden Hakenkreuzschmierereien.
Unter den am 17. Juni angegriffenen und zum Teil gestürmten Einrichtungen befanden sich zwei Bezirksleitungen der SED (Magdeburg und Halle), eine Bezirksdirektion der Volkspolizei und fünf Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit. Über 1.000 Häftlinge wurden aus Haftanstalten befreit. Angegriffen und zum Teil verwüstet wurden auch Einrichtungen der HO, Gebäude der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Zeitungsredaktionen, Gebäude des Rundfunks, Zeitungskioske und Bücherstände. Teilweise gingen die Aktionen in stumpfen Vandalismus über: Bekannt sind zum Beispiel die Brandstiftung im Columbushaus am Potsdamer Platz, die Verwüstung des grenznah gelegenen Walter-Ulbricht-Stadions in der Berliner Chausseestraße und die des Gewerkschaftshauses in Leipzig.
In zahlreichen Fällen gab es Angriffe und Übergriffe auf Menschen, die als Vertreter des Staates oder der SED identifiziert wurden. Das führte zu Verletzten und in einigen Fällen auch zu Toten. In Magdeburg wurden bei der Erstürmung des Gefängnisses im Stadtteil Sudenburg ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und zwei Angehörige der Volkspolizei erschossen. Wilhelm Hagedorn, Werkschutzleiter der HO in Rathenow, wurde von Demonstranten schwer misshandelt und in den Havelkanal geworfen. Er verstarb in einem Krankenhaus. In Jena wurden die Mitarbeiter des MfS nach der Erstürmung der dortigen Dienststelle einem internen Bericht zufolge »zusammengeschlagen«, in der Dienststelle in Niesky gab es drei Schwerverletzte.
Die Ostbüros
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in den Junitagen auch all die staatlichen und privaten Büros, Agenturen und Organisationen, die sich – ganz überwiegend von Westberlin aus – mit der Ausspähung und Destabilisierung der DDR befassten, in Aktion traten. Die sogenannte Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit brachte am 17. Juni ein Flugblatt in Umlauf, das die politische Stoßrichtung dieser Aktivitäten gut sichtbar macht: »Das SED-Regime ist pleite!« Die SPD bescheinigte sich mit Blick auf die Aktivitäten ihres Ostbüros, dass »die Millionen von Flugblättern und Hunderttausende von Zeitungen und anderem Aufklärungsmaterial nicht unwirksam gewesen sind und ihren Niederschlag gefunden haben in den Kampfparolen, die in den Tagen des Aufstandes in den Betrieben und Städten der Zone von demonstrierenden Arbeitern erhoben worden sind«. Auch der DGB unterhielt ein sehr rühriges Ostbüro, das sich vor allem auf die Arbeit in Betrieben und im FDGB konzentrierte.
Aus naheliegenden Gründen schwieriger zu bestimmen ist die Rolle, die die an diese Büros und Agenturen angebundenen Netzwerke in der DDR am 17. Juni gespielt haben. Glaubwürdige Berichte, die auf diese Aktivitäten hinweisen, gibt es. Ein Augenzeuge der Demonstration am 17. Juni in Berlin – damals Lehrerassistent an der Pionierleiterschule in Prieros – erinnerte sich noch nach 1990, als das politisch nicht mehr gefragt war oder belohnt wurde, an eine solche Beobachtung: »Und dann kam jemand im FDJ-Hemd, so’n alter Hirsch, so’n Vierzigjähriger – haben wir uns noch alle gewundert –, und der sagte noch: ›zum Haus der Ministerien!‹ (…) Wir sahen auch die Radfahrer in rauhen Mengen da rumrauschen, die von drüben waren. (…) Det waren mehrere gewesen, vier oder fünf, die da vorne gingen; die hatten Blauhemden an, aber det waren alles ältere Menschen, die waren alle schon so um 30, 40 rum.« Auch Fritz Selbmann war sich am Vortag, als er vor dem Haus der Ministerien sprach, sicher, dass der Sprecher der Demonstranten »kein Mann von einer Baustelle war«.
Hier ist wieder davor zu warnen, aus solchen Beobachtungen zu schließen, es habe für das, was an diesem Tag geschah, zentrale Drahtzieher und Regisseure gegeben. Die offensichtlich sehr aktiven antikommunistischen Netzwerke reagierten auf eine für sie außerordentlich günstige Situation, die sie nicht geschaffen hatten. Und selten dürften diese Akteure so im Mittelpunkt gestanden haben wie Siegfried Berger im Funkwerk Köpenick – der dortige »Streikführer« war seit Jahren verdeckt für das Ostbüro der SPD aktiv.
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Akteure des »Aufstands«
Hier bewegen wir uns auf das Terrain der Erzählung vom »Aufstand«. 420.000 Menschen sind für sich genommen eine beachtliche Zahl. Allerdings ist das eben die Gesamtzahl für die DDR, die damals 18 Millionen Einwohner hatte. Demnach hätten sich – wenn wir ausnahmslos alle Demonstranten als »aufständisch« betrachten – 2,3 Prozent der Bevölkerung an dem »Volksaufstand« beteiligt. Langt das für diese Zuschreibung? Der britische Historiker Gareth Pritchard hat einmal darauf hingewiesen, dass es im Frühjahr 1947 in vielen Städten der britischen Besatzungszone Streiks und große Demonstrationen gab, die sich gegen Nahrungsmittelmangel und die schleppende Entnazifizierung richteten: Trotz Hunderttausender Teilnehmer spreche allerdings kein Mensch von einem »›Volksaufstand‹ gegen die britische Militärregierung«.
Die regionale Verteilung des Demonstrationsgeschehens war ausgesprochen ungleichmäßig: Schwerpunkte, in denen jeweils fast alle Kreise betroffen waren, waren neben Berlin die Bezirke Potsdam, Halle, Magdeburg, Leipzig und Gera. In anderen Bezirken gab es lokale Schwerpunkte – im Bezirk Dresden war das zum Beispiel Görlitz. An die 200.000 der gezählten Demonstranten entfallen allein auf Berlin und den Bezirk Halle. Insgesamt kam es in den Junitagen in mindestens 370 Städten und Gemeinden der DDR (von insgesamt 5.585; in 167 von 217 Land- und Stadtkreisen wurde der Ausnahmezustand verhängt) zu Unruhen im engeren Sinne.
Hier muss allerdings jeweils sorgfältig geprüft werden, wie groß der Anteil der Demonstranten war, die sich zielstrebig an aufstandsähnlichen und gewaltförmigen Aktionen beteiligt haben. Viel spricht dafür, dass diese Zahl deutlich unter 100.000 lag. Es gibt viele Aussagen von Demonstranten, die sich von den Aktionen dieser Gruppe distanzierten, wie etwa diese eines in der Ostberliner SPD organisierten Bauarbeiters: »Und ich hatte ja das gleiche Interesse, wieder nach Hause zu kommen. Wir wollten uns da irgendwie nicht identifizieren mit den Leuten, die da was ansteckten und die Steine warfen.«
Diese »Leute« allerdings griffen Einrichtungen der Partei, der Massenorganisationen und des Staates mit zum Teil erheblicher Aggressivität an. Dass hierbei vor allem Gebäude der SED und des FDGB sowie Gefängnisse und Dienststellen der Staatssicherheit ins Visier gerieten, ist ein Indiz dafür, dass hier tatsächlich – im Gegensatz zu dem Streik in den Betrieben, der eine viel breitere Basis hatte und an dem sich auch SED-Mitglieder beteiligten – ein harter Kern von Antikommunisten in die Offensive ging. Die Frage, wie groß in dieser Gruppe der Anteil derjenigen war, die – acht Jahre nach dem Ende des Naziregimes – direkt aus einer faschistischen Traditionslinie kamen, lässt sich nicht mehr präzise beantworten. Hinweise darauf gibt es – etwa der Gesang von Naziliedern bei einzelnen Demonstrationen und die in den Junitagen verstärkt auftretenden Hakenkreuzschmierereien.
Unter den am 17. Juni angegriffenen und zum Teil gestürmten Einrichtungen befanden sich zwei Bezirksleitungen der SED (Magdeburg und Halle), eine Bezirksdirektion der Volkspolizei und fünf Kreisdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit. Über 1.000 Häftlinge wurden aus Haftanstalten befreit. Angegriffen und zum Teil verwüstet wurden auch Einrichtungen der HO, Gebäude der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, Zeitungsredaktionen, Gebäude des Rundfunks, Zeitungskioske und Bücherstände. Teilweise gingen die Aktionen in stumpfen Vandalismus über: Bekannt sind zum Beispiel die Brandstiftung im Columbushaus am Potsdamer Platz, die Verwüstung des grenznah gelegenen Walter-Ulbricht-Stadions in der Berliner Chausseestraße und die des Gewerkschaftshauses in Leipzig.
In zahlreichen Fällen gab es Angriffe und Übergriffe auf Menschen, die als Vertreter des Staates oder der SED identifiziert wurden. Das führte zu Verletzten und in einigen Fällen auch zu Toten. In Magdeburg wurden bei der Erstürmung des Gefängnisses im Stadtteil Sudenburg ein Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und zwei Angehörige der Volkspolizei erschossen. Wilhelm Hagedorn, Werkschutzleiter der HO in Rathenow, wurde von Demonstranten schwer misshandelt und in den Havelkanal geworfen. Er verstarb in einem Krankenhaus. In Jena wurden die Mitarbeiter des MfS nach der Erstürmung der dortigen Dienststelle einem internen Bericht zufolge »zusammengeschlagen«, in der Dienststelle in Niesky gab es drei Schwerverletzte.
Die Ostbüros
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass in den Junitagen auch all die staatlichen und privaten Büros, Agenturen und Organisationen, die sich – ganz überwiegend von Westberlin aus – mit der Ausspähung und Destabilisierung der DDR befassten, in Aktion traten. Die sogenannte Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit brachte am 17. Juni ein Flugblatt in Umlauf, das die politische Stoßrichtung dieser Aktivitäten gut sichtbar macht: »Das SED-Regime ist pleite!« Die SPD bescheinigte sich mit Blick auf die Aktivitäten ihres Ostbüros, dass »die Millionen von Flugblättern und Hunderttausende von Zeitungen und anderem Aufklärungsmaterial nicht unwirksam gewesen sind und ihren Niederschlag gefunden haben in den Kampfparolen, die in den Tagen des Aufstandes in den Betrieben und Städten der Zone von demonstrierenden Arbeitern erhoben worden sind«. Auch der DGB unterhielt ein sehr rühriges Ostbüro, das sich vor allem auf die Arbeit in Betrieben und im FDGB konzentrierte.
Aus naheliegenden Gründen schwieriger zu bestimmen ist die Rolle, die die an diese Büros und Agenturen angebundenen Netzwerke in der DDR am 17. Juni gespielt haben. Glaubwürdige Berichte, die auf diese Aktivitäten hinweisen, gibt es. Ein Augenzeuge der Demonstration am 17. Juni in Berlin – damals Lehrerassistent an der Pionierleiterschule in Prieros – erinnerte sich noch nach 1990, als das politisch nicht mehr gefragt war oder belohnt wurde, an eine solche Beobachtung: »Und dann kam jemand im FDJ-Hemd, so’n alter Hirsch, so’n Vierzigjähriger – haben wir uns noch alle gewundert –, und der sagte noch: ›zum Haus der Ministerien!‹ (…) Wir sahen auch die Radfahrer in rauhen Mengen da rumrauschen, die von drüben waren. (…) Det waren mehrere gewesen, vier oder fünf, die da vorne gingen; die hatten Blauhemden an, aber det waren alles ältere Menschen, die waren alle schon so um 30, 40 rum.« Auch Fritz Selbmann war sich am Vortag, als er vor dem Haus der Ministerien sprach, sicher, dass der Sprecher der Demonstranten »kein Mann von einer Baustelle war«.
Hier ist wieder davor zu warnen, aus solchen Beobachtungen zu schließen, es habe für das, was an diesem Tag geschah, zentrale Drahtzieher und Regisseure gegeben. Die offensichtlich sehr aktiven antikommunistischen Netzwerke reagierten auf eine für sie außerordentlich günstige Situation, die sie nicht geschaffen hatten. Und selten dürften diese Akteure so im Mittelpunkt gestanden haben wie Siegfried Berger im Funkwerk Köpenick – der dortige »Streikführer« war seit Jahren verdeckt für das Ostbüro der SPD aktiv.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 17:15 Uhr
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Sowjetische Panzer
War die SED am 17. Juni nun »pleite«? Eine »tragende« Säule der Erzählung vom »Volksaufstand« ist die Behauptung, nur die mit dem Ausnahmezustand aufgefahrenen »sowjetischen Panzer« hätten die Partei und die DDR gerettet. Wenn man die am Potsdamer und Leipziger Platz in Berlin aufgenommenen, an den Jahrestagen in Endlosschleife wiederholten Bilder mit der Realität des 17. Juni verwechselt, kann man auf so eine Idee kommen: Keine SED, keine DDR-Staatsmacht mehr zu sehen, nur Demonstranten und Panzer. Allein: So sah es sonst kaum irgendwo aus. Allenfalls ließe sich für Görlitz und Bitterfeld sagen, dass Staat und Partei dort infolge der Besetzung aller wichtigen Einrichtung für einige Stunden »ausgeschaltet« waren.
In der Fläche blieben Staat und Partei durchweg handlungsfähig. Der Einsatz der sowjetischen Panzer und Soldaten erfolgte nahezu in allen Fällen rein demonstrativ (und nicht flächendeckend). Die Panzer wurden – oft einzeln – auf Marktplätzen und teilweise auch vor wichtigen Betrieben aufgestellt. Es galt das Prinzip, das Ministerpräsident Grotewohl bei einer Besprechung in Karlshorst am 17. Juni notierte: »Möglichst alles Polizei, nur im Notfall Truppen.« Von Sicherheitskräften der DDR wurden Schusswaffen im Tagesverlauf außerhalb von Berlin lediglich in fünf von 14 Bezirken der DDR eingesetzt (Halle, Magdeburg, Dresden, Leipzig, Potsdam). In Weida (Bezirk Gera) unternahm eine Gruppe am späten Abend des 17. Juni den Versuch, das Revier der Volkspolizei zu stürmen. Bei einem Schusswechsel mit KVP-Angehörigen wurde ein Demonstrant tödlich verletzt.
Es galten – auch für die von der DDR im Laufe des Tages eingesetzten Kräfte – strengste Beschränkungen für den Schusswaffeneinsatz. Das merkten sehr rasch auch die Demonstranten. Ein Augenzeuge, ein (parteiloser) Assistenzarzt der Charité, berichtete 1991 über den Einsatz der sowjetischen Truppen in Berlin-Mitte: »Nun kamen also die ersten Lkw mit den sowjetischen Soldaten. Und jetzt warfen die Leute Steine auf sie. Ich habe mich gefragt – und ich war in amerikanischer Gefangenschaft, habe auch gegen Amerikaner und Kanadier zu Felde stehen müssen – wie hätte eine GI-Einheit reagiert, wenn sie mit Pflastersteinen … Wie hätte der reagiert, wenn der solche Klamotten abgekriegt hätte. (…) Und nun begann folgendes: Meistens Jugendliche, aber auch Männer bis zu 30, 40 Jahren, sprangen auf die Panzer, rissen an den Antennen rum, urplötzlich schleppten sie aus den umliegenden Häusern die Schaumlöscher an und spritzten in die Sehschlitze, in die Kanone und (…) steckten Steine, Erde, irgendwelche Eisenstangen, die da herumlagen, Moniereisen aus dem alten Beton, steckten sie in die Rohre, und ich muss Ihnen sagen, (…) ich habe die Disziplin dieser Soldaten bewundert. (…) Obwohl die Leute dabei waren, Kriegsgerät zu demolieren, ist nicht auf sie geschossen worden, sondern in die Luft. Die Panzer sind auch nicht so in die Menge gefahren, dass sie sie absichtlich überrollten. Das muss ich ganz ausdrücklich betonen.«
Dass die Panzer nicht rücksichtslos ihre Bewaffnung einsetzten, zeigen übrigens auch die (auf Dramatik geschnittenen) Bilder vom Potsdamer und Leipziger Platz: Männer und Frauen laufen vor der Frontseite der Panzer herum, die zahlreichen Steinewerfer scheinen gar nicht damit zu rechnen, dass auf sie geschossen wird.
Kurzum: Die Sowjetarmee musste am 17. Juni nicht eingesetzt werden, um eine aufgelöste oder in Auflösung befindliche Staatsmacht zu ersetzen oder neu zu etablieren. Dafür wäre ein ganz anderes Maß an Gewalteinsatz erforderlich gewesen als das tatsächlich empirisch nachweisbare. Auch die schließliche Räumung von Leipziger und Potsdamer Platz haben nach Aussagen von Augenzeugen übrigens Polizeikräfte der DDR durchgeführt.
Nuschke im RIAS
Wie stand es am 17. Juni also um die Handlungsfähigkeit von Regierung und SED? Einige Aufschlüsse bietet die »Entführung« des stellvertretenden Ministerpräsidenten und CDU-Vorsitzenden Otto Nuschke. Nuschke, der auf dem Weg zu einer Besprechung war, wurde in seinem Auto von Demonstranten über eine Brücke nach Westberlin abgedrängt und in einem Polizeirevier in »Schutzhaft« genommen. Ein RIAS-Reporter hielt ihm dort ein Mikrofon unter die Nase, ohne allerdings die Antworten zu erhalten, die er erwartete: »RIAS: Sie meinen die Normenerhöhung in der Ostzone? Nuschke: Die ist ja längst rückgängig gemacht worden, und zwar gesetzlich. RIAS: Wie erklären Sie sich trotzdem die Beteiligung der gesamten Bevölkerung der Ostzone? Nuschke: Weil das Gewerkschaftsblatt was Gegenteiliges geschrieben hat. (…) RIAS: Wann, meinen Sie, werden Sie die Kontrolle über die Lage wieder haben im Sowjetsektor? Nuschke: Die haben wir bereits. (…) RIAS: Wie stehen Sie zu der Tatsache, dass die Bevölkerung der Ostzone die Absetzung der Regierung fordert? Nuschke: Die Bevölkerung fordert sie nicht, sondern ein Teil der Demonstranten, und zwar sehr stark durchsetzt mit Westberlinern.« An ihn herangetragene Aufforderungen, in Westberlin zu bleiben, lehnte Nuschke ab. Er kehrte am 20. Juni wieder in die DDR zurück.
Sein Fall ist exemplarisch: Es gab in der Regierung der DDR und in den dort vertretenen Parteien am 17. Juni keine nennenswerten Auflösungserscheinungen oder Absetzbewegungen. Auch die SED-Spitze ist am 17. Juni nicht, wie immer wieder behauptet wird, zu den »Freunden« nach Karlshorst geflohen. Der sowjetische Hohe Kommissar Semjonow hatte die Genossen am Morgen dorthin beordert, wo sie dann stundenlang herumsitzen mussten. Rudolf Herrnstadt hat bezeugt, dass Ulbricht mit dieser erzwungenen Untätigkeit keineswegs einverstanden war. Auch sonst liefern die verfügbaren Unterlagen keinerlei Beleg dafür, dass irgendwem im Politbüro der Gedanke an eine »Flucht« oder an eine Kapitulation kam.
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Sowjetische Panzer
War die SED am 17. Juni nun »pleite«? Eine »tragende« Säule der Erzählung vom »Volksaufstand« ist die Behauptung, nur die mit dem Ausnahmezustand aufgefahrenen »sowjetischen Panzer« hätten die Partei und die DDR gerettet. Wenn man die am Potsdamer und Leipziger Platz in Berlin aufgenommenen, an den Jahrestagen in Endlosschleife wiederholten Bilder mit der Realität des 17. Juni verwechselt, kann man auf so eine Idee kommen: Keine SED, keine DDR-Staatsmacht mehr zu sehen, nur Demonstranten und Panzer. Allein: So sah es sonst kaum irgendwo aus. Allenfalls ließe sich für Görlitz und Bitterfeld sagen, dass Staat und Partei dort infolge der Besetzung aller wichtigen Einrichtung für einige Stunden »ausgeschaltet« waren.
In der Fläche blieben Staat und Partei durchweg handlungsfähig. Der Einsatz der sowjetischen Panzer und Soldaten erfolgte nahezu in allen Fällen rein demonstrativ (und nicht flächendeckend). Die Panzer wurden – oft einzeln – auf Marktplätzen und teilweise auch vor wichtigen Betrieben aufgestellt. Es galt das Prinzip, das Ministerpräsident Grotewohl bei einer Besprechung in Karlshorst am 17. Juni notierte: »Möglichst alles Polizei, nur im Notfall Truppen.« Von Sicherheitskräften der DDR wurden Schusswaffen im Tagesverlauf außerhalb von Berlin lediglich in fünf von 14 Bezirken der DDR eingesetzt (Halle, Magdeburg, Dresden, Leipzig, Potsdam). In Weida (Bezirk Gera) unternahm eine Gruppe am späten Abend des 17. Juni den Versuch, das Revier der Volkspolizei zu stürmen. Bei einem Schusswechsel mit KVP-Angehörigen wurde ein Demonstrant tödlich verletzt.
Es galten – auch für die von der DDR im Laufe des Tages eingesetzten Kräfte – strengste Beschränkungen für den Schusswaffeneinsatz. Das merkten sehr rasch auch die Demonstranten. Ein Augenzeuge, ein (parteiloser) Assistenzarzt der Charité, berichtete 1991 über den Einsatz der sowjetischen Truppen in Berlin-Mitte: »Nun kamen also die ersten Lkw mit den sowjetischen Soldaten. Und jetzt warfen die Leute Steine auf sie. Ich habe mich gefragt – und ich war in amerikanischer Gefangenschaft, habe auch gegen Amerikaner und Kanadier zu Felde stehen müssen – wie hätte eine GI-Einheit reagiert, wenn sie mit Pflastersteinen … Wie hätte der reagiert, wenn der solche Klamotten abgekriegt hätte. (…) Und nun begann folgendes: Meistens Jugendliche, aber auch Männer bis zu 30, 40 Jahren, sprangen auf die Panzer, rissen an den Antennen rum, urplötzlich schleppten sie aus den umliegenden Häusern die Schaumlöscher an und spritzten in die Sehschlitze, in die Kanone und (…) steckten Steine, Erde, irgendwelche Eisenstangen, die da herumlagen, Moniereisen aus dem alten Beton, steckten sie in die Rohre, und ich muss Ihnen sagen, (…) ich habe die Disziplin dieser Soldaten bewundert. (…) Obwohl die Leute dabei waren, Kriegsgerät zu demolieren, ist nicht auf sie geschossen worden, sondern in die Luft. Die Panzer sind auch nicht so in die Menge gefahren, dass sie sie absichtlich überrollten. Das muss ich ganz ausdrücklich betonen.«
Dass die Panzer nicht rücksichtslos ihre Bewaffnung einsetzten, zeigen übrigens auch die (auf Dramatik geschnittenen) Bilder vom Potsdamer und Leipziger Platz: Männer und Frauen laufen vor der Frontseite der Panzer herum, die zahlreichen Steinewerfer scheinen gar nicht damit zu rechnen, dass auf sie geschossen wird.
Kurzum: Die Sowjetarmee musste am 17. Juni nicht eingesetzt werden, um eine aufgelöste oder in Auflösung befindliche Staatsmacht zu ersetzen oder neu zu etablieren. Dafür wäre ein ganz anderes Maß an Gewalteinsatz erforderlich gewesen als das tatsächlich empirisch nachweisbare. Auch die schließliche Räumung von Leipziger und Potsdamer Platz haben nach Aussagen von Augenzeugen übrigens Polizeikräfte der DDR durchgeführt.
Nuschke im RIAS
Wie stand es am 17. Juni also um die Handlungsfähigkeit von Regierung und SED? Einige Aufschlüsse bietet die »Entführung« des stellvertretenden Ministerpräsidenten und CDU-Vorsitzenden Otto Nuschke. Nuschke, der auf dem Weg zu einer Besprechung war, wurde in seinem Auto von Demonstranten über eine Brücke nach Westberlin abgedrängt und in einem Polizeirevier in »Schutzhaft« genommen. Ein RIAS-Reporter hielt ihm dort ein Mikrofon unter die Nase, ohne allerdings die Antworten zu erhalten, die er erwartete: »RIAS: Sie meinen die Normenerhöhung in der Ostzone? Nuschke: Die ist ja längst rückgängig gemacht worden, und zwar gesetzlich. RIAS: Wie erklären Sie sich trotzdem die Beteiligung der gesamten Bevölkerung der Ostzone? Nuschke: Weil das Gewerkschaftsblatt was Gegenteiliges geschrieben hat. (…) RIAS: Wann, meinen Sie, werden Sie die Kontrolle über die Lage wieder haben im Sowjetsektor? Nuschke: Die haben wir bereits. (…) RIAS: Wie stehen Sie zu der Tatsache, dass die Bevölkerung der Ostzone die Absetzung der Regierung fordert? Nuschke: Die Bevölkerung fordert sie nicht, sondern ein Teil der Demonstranten, und zwar sehr stark durchsetzt mit Westberlinern.« An ihn herangetragene Aufforderungen, in Westberlin zu bleiben, lehnte Nuschke ab. Er kehrte am 20. Juni wieder in die DDR zurück.
Sein Fall ist exemplarisch: Es gab in der Regierung der DDR und in den dort vertretenen Parteien am 17. Juni keine nennenswerten Auflösungserscheinungen oder Absetzbewegungen. Auch die SED-Spitze ist am 17. Juni nicht, wie immer wieder behauptet wird, zu den »Freunden« nach Karlshorst geflohen. Der sowjetische Hohe Kommissar Semjonow hatte die Genossen am Morgen dorthin beordert, wo sie dann stundenlang herumsitzen mussten. Rudolf Herrnstadt hat bezeugt, dass Ulbricht mit dieser erzwungenen Untätigkeit keineswegs einverstanden war. Auch sonst liefern die verfügbaren Unterlagen keinerlei Beleg dafür, dass irgendwem im Politbüro der Gedanke an eine »Flucht« oder an eine Kapitulation kam.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 17:29 Uhr
EDIT: FPeregrin
29.06.2023, 17:30 Uhr
29.06.2023, 17:30 Uhr
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Mit körperlichen Schmerzen
Vom Kampf um Kollektivität zur parteifeindlichen Fraktion: Das SED-Politbüro vor und nach dem »17. Juni«. Zur Junikrise 1953 in der DDR (Teil 3 und Schluss)
Von Leo Schwarz
Näheres über die Konflikte, die im Sommer 1953 vor und nach dem »17. Juni« im Politbüro der SED eskalierten, drang bis zum Ende der DDR nicht an die Öffentlichkeit. Die beim 15. Plenum des Zentralkomitees Ende Juli 1953 erfolgte Mitteilung an die bis dahin bis hinauf zum Zentralkomitee ahnungslose Parteiöffentlichkeit über eine »parteifeindliche Fraktion« im Politbüro, die aus Rudolf Herrnstadt, bis dahin Chefredakteur des Neuen Deutschland, und dem Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser bestanden haben soll, war in der Hauptsache das bis 1989 verfügbare historische Material.
Erst mit der Herausgabe der Aufzeichnungen Rudolf Herrnstadts durch seine Tochter 1990 und die fast zeitgleich hergestellte Verfügbarkeit der bis dahin im Parteiarchiv der SED (oder sogar völlig unzugänglich im internen Archiv des Politbüros bzw. im Panzerschrank des Generalsekretärs) abgelegten internen Dokumente aus jenen Wochen wurde deutlich, dass diese Auseinandersetzungen in der Summe zweifellos der heftigste Zusammenprall auseinandergehender Standpunkte in der SED-Spitze bis zum Ende der Partei gewesen waren.
Prinzipielle Fragen
Die – im engen Kreis des Politbüros – bis zu einem gewissen Punkt offen ausgetragenen Auseinandersetzungen berührten prinzipielle Fragen der Politik der SED: Es ging um die Arbeitsweise der Parteiführung nach innen und außen, um die Entwicklung einer in der Breite der Bevölkerung verankerten Politik, um das Problem des Aufbaus des Sozialismus nur in einem Teil Deutschlands und, damit zusammenhängend, zumindest indirekt immer auch um das Verhältnis zur UdSSR bzw. zu den unterschiedlichen deutschlandpolitischen Konzeptionen in der Führung der KPdSU.
Hätte die Partei die Kraft besessen, den Hergang dieser Auseinandersetzungen irgendwann einmal zumindest in Grundzügen öffentlich und den Zeithistorikern der DDR das Material zugänglich zu machen, hätte sie daran politisch nur wachsen können. Erich Honecker, 1953 FDJ-Chef und Kandidat des Politbüros, entschied als Generalsekretär anders: Er ließ sogar die Protokolle des 14. und des 15. ZK-Plenums, die er 1983 noch einmal studiert hatte, anschließend im Archiv des Politbüros sperren. Wollte er so vermeiden, dem »Gegner« Munition zu liefern, so erreichte er damit das Gegenteil: Ein paar Jahre später standen sie dem »Gegner« zur erstmaligen Auswertung zur Verfügung.
Wenig überraschend ist, dass sich ein beträchtlicher Teil der einschlägigen Veröffentlichungen für eine eher belanglose Seite der Ereignisse interessiert hat: Die Frage nämlich, ob Walter Ulbricht im Juni 1953 nun vor dem »Sturz« stand oder nicht. In diesem Zusammenhang entstand in den letzten Monaten der DDR die noch heute hin und wieder genährte Legende, Ulbricht – wahlweise allein oder gemeinsam mit dem sowjetischen Hochkommissar Semjonow – habe, um seinen Kopf zu retten und alle Überlegungen hinsichtlich einer kurzfristigen Wiedervereinigung Deutschlands gegenstandslos zu machen, die Unruhen vom 17. Juni und den »Aufmarsch der sowjetischen Panzer« (Wolfgang Harich) bewusst provoziert.
Schwer zusammengeschlagen
Der rastlos tätige Generalsekretär, für den Arbeitstage von 14 oder auch 16 Stunden normal waren, war am 5. Juni 1953 zusammen mit Otto Grotewohl und Fred Oelßner aus Moskau zurückgekehrt. Noch an diesem Tag trat das Politbüro – es bestand nach der Ablösung Franz Dahlems im Frühjahr 1953 noch aus acht Mitgliedern und sechs Kandidaten – zusammen, um sich über die Beratungen mit der sowjetischen Parteiführung und den »empfohlenen«, bereits durch Telegramme angekündigten Kurswechsel, der auf eine vollständige Revision der von der 2. Parteikonferenz im Vorjahr beschlossenen Linie hinauslief, informieren zu lassen. Auch Semjonow nahm an dieser Sitzung teil.
Oelßner verriet einigen der sich versammelnden Teilnehmer vorab, dass man in Moskau zum Teil »schwer zusammengeschlagen« worden sei. Insbesondere Ulbricht sei es schwergefallen, den neuen Kurs zu akzeptieren, da gerade er sich auch öffentlich stark mit den »radikalen« Maßnahmen identifiziert habe. Wie Herrnstadt überliefert hat, erwähnte Oelßner auch, dass er im Gespräch mit einem Mitarbeiter des ZK der KPdSU erfahren habe, dass das Dokument des SED-Politbüros zum anstehenden 60. Geburtstag Ulbrichts wegen der darin enthaltenen »Beweihräucherung« des Generalsekretärs für »Bestürzung« in der sowjetischen Parteiführung gesorgt habe. Sofort also zeichnete sich ab, dass der Kurswechsel nicht einfach ohne Diskussion über die politische Verantwortung des Generalsekretärs für die entstandene Lage durchgewunken werden würde. Bei der Sitzung am 5. Juni blieben Reaktionen und kontroverse Diskussionen noch aus. Eingerichtet wurden mehrere Kommissionen, um den Kurswechsel etwa in den Bereichen Finanzen, Industrie, Landwirtschaft und Versorgung inhaltlich vorzubereiten.
Am 6. Juni kam es laut Ergebnisprotokoll zu einer »eingehenden Diskussion«, die die »allgemeine Zustimmung zu dem vorgelegten Dokument« über den Kurswechsel ergab. Hier wurde auch beschlossen, eine weitere Kommission (mit Ulbricht, Herrnstadt, Zaisser, Oelßner und dem Berliner Parteichef Hans Jendretzky) einzusetzen, die die Arbeitsweise des Politbüros und des Sekretariats des Zentralkomitees überprüfen sollte.
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Mit körperlichen Schmerzen
Vom Kampf um Kollektivität zur parteifeindlichen Fraktion: Das SED-Politbüro vor und nach dem »17. Juni«. Zur Junikrise 1953 in der DDR (Teil 3 und Schluss)
Von Leo Schwarz
Näheres über die Konflikte, die im Sommer 1953 vor und nach dem »17. Juni« im Politbüro der SED eskalierten, drang bis zum Ende der DDR nicht an die Öffentlichkeit. Die beim 15. Plenum des Zentralkomitees Ende Juli 1953 erfolgte Mitteilung an die bis dahin bis hinauf zum Zentralkomitee ahnungslose Parteiöffentlichkeit über eine »parteifeindliche Fraktion« im Politbüro, die aus Rudolf Herrnstadt, bis dahin Chefredakteur des Neuen Deutschland, und dem Minister für Staatssicherheit Wilhelm Zaisser bestanden haben soll, war in der Hauptsache das bis 1989 verfügbare historische Material.
Erst mit der Herausgabe der Aufzeichnungen Rudolf Herrnstadts durch seine Tochter 1990 und die fast zeitgleich hergestellte Verfügbarkeit der bis dahin im Parteiarchiv der SED (oder sogar völlig unzugänglich im internen Archiv des Politbüros bzw. im Panzerschrank des Generalsekretärs) abgelegten internen Dokumente aus jenen Wochen wurde deutlich, dass diese Auseinandersetzungen in der Summe zweifellos der heftigste Zusammenprall auseinandergehender Standpunkte in der SED-Spitze bis zum Ende der Partei gewesen waren.
Prinzipielle Fragen
Die – im engen Kreis des Politbüros – bis zu einem gewissen Punkt offen ausgetragenen Auseinandersetzungen berührten prinzipielle Fragen der Politik der SED: Es ging um die Arbeitsweise der Parteiführung nach innen und außen, um die Entwicklung einer in der Breite der Bevölkerung verankerten Politik, um das Problem des Aufbaus des Sozialismus nur in einem Teil Deutschlands und, damit zusammenhängend, zumindest indirekt immer auch um das Verhältnis zur UdSSR bzw. zu den unterschiedlichen deutschlandpolitischen Konzeptionen in der Führung der KPdSU.
Hätte die Partei die Kraft besessen, den Hergang dieser Auseinandersetzungen irgendwann einmal zumindest in Grundzügen öffentlich und den Zeithistorikern der DDR das Material zugänglich zu machen, hätte sie daran politisch nur wachsen können. Erich Honecker, 1953 FDJ-Chef und Kandidat des Politbüros, entschied als Generalsekretär anders: Er ließ sogar die Protokolle des 14. und des 15. ZK-Plenums, die er 1983 noch einmal studiert hatte, anschließend im Archiv des Politbüros sperren. Wollte er so vermeiden, dem »Gegner« Munition zu liefern, so erreichte er damit das Gegenteil: Ein paar Jahre später standen sie dem »Gegner« zur erstmaligen Auswertung zur Verfügung.
Wenig überraschend ist, dass sich ein beträchtlicher Teil der einschlägigen Veröffentlichungen für eine eher belanglose Seite der Ereignisse interessiert hat: Die Frage nämlich, ob Walter Ulbricht im Juni 1953 nun vor dem »Sturz« stand oder nicht. In diesem Zusammenhang entstand in den letzten Monaten der DDR die noch heute hin und wieder genährte Legende, Ulbricht – wahlweise allein oder gemeinsam mit dem sowjetischen Hochkommissar Semjonow – habe, um seinen Kopf zu retten und alle Überlegungen hinsichtlich einer kurzfristigen Wiedervereinigung Deutschlands gegenstandslos zu machen, die Unruhen vom 17. Juni und den »Aufmarsch der sowjetischen Panzer« (Wolfgang Harich) bewusst provoziert.
Schwer zusammengeschlagen
Der rastlos tätige Generalsekretär, für den Arbeitstage von 14 oder auch 16 Stunden normal waren, war am 5. Juni 1953 zusammen mit Otto Grotewohl und Fred Oelßner aus Moskau zurückgekehrt. Noch an diesem Tag trat das Politbüro – es bestand nach der Ablösung Franz Dahlems im Frühjahr 1953 noch aus acht Mitgliedern und sechs Kandidaten – zusammen, um sich über die Beratungen mit der sowjetischen Parteiführung und den »empfohlenen«, bereits durch Telegramme angekündigten Kurswechsel, der auf eine vollständige Revision der von der 2. Parteikonferenz im Vorjahr beschlossenen Linie hinauslief, informieren zu lassen. Auch Semjonow nahm an dieser Sitzung teil.
Oelßner verriet einigen der sich versammelnden Teilnehmer vorab, dass man in Moskau zum Teil »schwer zusammengeschlagen« worden sei. Insbesondere Ulbricht sei es schwergefallen, den neuen Kurs zu akzeptieren, da gerade er sich auch öffentlich stark mit den »radikalen« Maßnahmen identifiziert habe. Wie Herrnstadt überliefert hat, erwähnte Oelßner auch, dass er im Gespräch mit einem Mitarbeiter des ZK der KPdSU erfahren habe, dass das Dokument des SED-Politbüros zum anstehenden 60. Geburtstag Ulbrichts wegen der darin enthaltenen »Beweihräucherung« des Generalsekretärs für »Bestürzung« in der sowjetischen Parteiführung gesorgt habe. Sofort also zeichnete sich ab, dass der Kurswechsel nicht einfach ohne Diskussion über die politische Verantwortung des Generalsekretärs für die entstandene Lage durchgewunken werden würde. Bei der Sitzung am 5. Juni blieben Reaktionen und kontroverse Diskussionen noch aus. Eingerichtet wurden mehrere Kommissionen, um den Kurswechsel etwa in den Bereichen Finanzen, Industrie, Landwirtschaft und Versorgung inhaltlich vorzubereiten.
Am 6. Juni kam es laut Ergebnisprotokoll zu einer »eingehenden Diskussion«, die die »allgemeine Zustimmung zu dem vorgelegten Dokument« über den Kurswechsel ergab. Hier wurde auch beschlossen, eine weitere Kommission (mit Ulbricht, Herrnstadt, Zaisser, Oelßner und dem Berliner Parteichef Hans Jendretzky) einzusetzen, die die Arbeitsweise des Politbüros und des Sekretariats des Zentralkomitees überprüfen sollte.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 17:33 Uhr
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Keine Gleichberechtigung
Das klingt auf den ersten Blick wenig spektakulär, berührte aber bereits die Hauptfrage des Konfliktes in der Führung. Mindestens seit 1952 hatte es innerhalb des Politbüros Kritik daran gegeben, dass das Sekretariat – faktisch der persönliche Apparat des Generalsekretärs, dem aus dem Politbüro nur Oelßner und (bis zu seiner Ablösung) Dahlem angehörten, dafür aber Genossen, die wie Karl Schirdewan nicht einmal Mitglied des ZK waren – immer mehr zum eigentlichen Entscheidungsgremium geworden war und das Politbüro dessen Maßnahmen oft genug nur noch zur Kenntnis nehmen konnte. Das war offensichtlich statutenwidrig: Dem Buchstaben nach war zwischen den Tagungen des ZK das Politbüro das höchste Entscheidungsgremium, und das Sekretariat hatte sicherzustellen, dass dessen grundsätzliche Beschlüsse durchgeführt wurden.
Zaisser hatte schon 1952 im Politbüro offen die sichtbare Tendenz angesprochen, dass das Sekretariat nicht nur Materialien für das Politbüro vorbereitete, sondern selbst Entscheidungen traf. Damit, so der Minister für Staatssicherheit, werde das Politbüro zur »repräsentativen« Körperschaft, und es bildeten sich zwei Leitungen heraus: eine »formale« – das Politbüro – und eine »tatsächliche« – das Sekretariat. Gefördert werde das dadurch, dass von einer wirklichen Kollektivität der Arbeit im Politbüro keine Rede sein könne. Nach dieser Intervention wurde ohne Widerrede ein Beschluss im Sinne Zaissers gefasst, aber an der kritisierten Praxis der »zwei Leitungen« änderte sich nichts.
Ulbricht ahnte, dass ein – nach der Zurechtweisung in Moskau – nun denkbarer Angriff auf ihn hier ansetzen würde. Den Notizen Grotewohls zufolge kündigte er in der Politbürositzung am 6. Juni an, die Arbeit des Sekretariats werde sich fortan auf die Durchführung der Parteibeschlüsse beschränken und er, Ulbricht, wolle seine »Arbeit ändern«. Damit allerdings konnte er die Debatte nicht mehr einfangen. Die schärfste Kritik kam am 6. Juni von Zaisser, der den »Drang zum Kommandieren« und die »Linie des Befehlens und Gehorchens« offen anprangerte. Das »Gefühl für Parteidemokratie« sei verloren gegangen. Die »Kollektivverantwortung des Politbüros« müsse endlich erkennbar werden.
Friedrich Ebert bekannte, sich »nicht genug gleichberechtigt« zu fühlen und forderte ein Ende der »Geheimnistuerei«. Das zielte auf die Praxis, dass in der Regel allein Ulbricht über alle relevanten Informationen zu einem Sachverhalt verfügte, die er dann selektiv mit einzelnen Mitgliedern des Politbüros teilte. Das Politbüro müsse aufhören, ein »Gremium von Einzelpersönlichkeiten« zu sein.
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Keine Gleichberechtigung
Das klingt auf den ersten Blick wenig spektakulär, berührte aber bereits die Hauptfrage des Konfliktes in der Führung. Mindestens seit 1952 hatte es innerhalb des Politbüros Kritik daran gegeben, dass das Sekretariat – faktisch der persönliche Apparat des Generalsekretärs, dem aus dem Politbüro nur Oelßner und (bis zu seiner Ablösung) Dahlem angehörten, dafür aber Genossen, die wie Karl Schirdewan nicht einmal Mitglied des ZK waren – immer mehr zum eigentlichen Entscheidungsgremium geworden war und das Politbüro dessen Maßnahmen oft genug nur noch zur Kenntnis nehmen konnte. Das war offensichtlich statutenwidrig: Dem Buchstaben nach war zwischen den Tagungen des ZK das Politbüro das höchste Entscheidungsgremium, und das Sekretariat hatte sicherzustellen, dass dessen grundsätzliche Beschlüsse durchgeführt wurden.
Zaisser hatte schon 1952 im Politbüro offen die sichtbare Tendenz angesprochen, dass das Sekretariat nicht nur Materialien für das Politbüro vorbereitete, sondern selbst Entscheidungen traf. Damit, so der Minister für Staatssicherheit, werde das Politbüro zur »repräsentativen« Körperschaft, und es bildeten sich zwei Leitungen heraus: eine »formale« – das Politbüro – und eine »tatsächliche« – das Sekretariat. Gefördert werde das dadurch, dass von einer wirklichen Kollektivität der Arbeit im Politbüro keine Rede sein könne. Nach dieser Intervention wurde ohne Widerrede ein Beschluss im Sinne Zaissers gefasst, aber an der kritisierten Praxis der »zwei Leitungen« änderte sich nichts.
Ulbricht ahnte, dass ein – nach der Zurechtweisung in Moskau – nun denkbarer Angriff auf ihn hier ansetzen würde. Den Notizen Grotewohls zufolge kündigte er in der Politbürositzung am 6. Juni an, die Arbeit des Sekretariats werde sich fortan auf die Durchführung der Parteibeschlüsse beschränken und er, Ulbricht, wolle seine »Arbeit ändern«. Damit allerdings konnte er die Debatte nicht mehr einfangen. Die schärfste Kritik kam am 6. Juni von Zaisser, der den »Drang zum Kommandieren« und die »Linie des Befehlens und Gehorchens« offen anprangerte. Das »Gefühl für Parteidemokratie« sei verloren gegangen. Die »Kollektivverantwortung des Politbüros« müsse endlich erkennbar werden.
Friedrich Ebert bekannte, sich »nicht genug gleichberechtigt« zu fühlen und forderte ein Ende der »Geheimnistuerei«. Das zielte auf die Praxis, dass in der Regel allein Ulbricht über alle relevanten Informationen zu einem Sachverhalt verfügte, die er dann selektiv mit einzelnen Mitgliedern des Politbüros teilte. Das Politbüro müsse aufhören, ein »Gremium von Einzelpersönlichkeiten« zu sein.
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 17:40 Uhr
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Losgelöst von den Massen
Herrnstadt beklagte – das ist der bei ihm auch später immer wiederkehrende Punkt – die »Abgerissenheit von der Masse«. Viele Funktionäre würden denken, »Administrieren« sei »der normale Zustand«. Er griff den Ansatz der 2. Parteikonferenz grundsätzlich an: »Wir haben geglaubt, wir bauen den Sozialismus auf, und die Deutschlandfrage regelt sich inzwischen auf irgendeine Weise allein.« Ulbricht notierte aus Herrnstadts Redebeitrag: »Hauptschuld ist Abgeschlossenheit von Massen. Zynisches Verhalten zu Massen. (…) Politik der Partei des Volkes machen. (…) Wir haben auf diese Unterhaltung zwei Jahre gewartet.«
Persönlich wurde Elli Schmidt: Sie sei »noch nie so einsam gewesen wie jetzt im Politbüro«. Ihr Eindruck sei, dass Mitglieder des »überheblichen« Sekretariats das Politbüro als »überflüssige Einrichtung« betrachteten. Auch Erich Honecker schlug einen kritischen Ton an: »Uns ist der Mut genommen, offen zu sprechen«, sagte er laut Grotewohls Aufzeichnungen.
Diese Diskussion entwickelte sich inmitten einer gleichsam abrupt entstandenen Stimmung des völligen »Neubeginns«, die schnell die Mehrheit des Politbüros erfasste. Bezeichnend ist hier die Bemerkung von Zaisser, es sei »eine absolute Änderung erforderlich«, und zwar eine »Änderung wie seit 1918 nicht«. Jendretzky soll nach dieser Sitzung gegenüber Heinz Brandt, einem Mitglied der Berliner SED-Bezirksleitung, erklärt haben: »Heinz, ich habe eine gute Nachricht, die beste von der Welt. Es ist geschafft. Wir fangen ganz neu an – und im Hinblick auf ganz Deutschland. Das ist die größte Wendung in der Geschichte der Partei.« Zum Teil entwickelte sich diese Stimmung aus der offensichtlichen Schockwirkung, die die aus Moskau mitgebrachten Dokumente in der Parteiführung auslösten, bevor sich diese Wirkung ein paar Tage später auf die Partei übertrug. Ebert sprach in seinem Redebeitrag, dessen Manuskript überliefert ist, sogar von »körperlichen Schmerzen«. Er könne sich nicht erinnern, in den vergangenen Jahrzehnten »von einer Sache so nachhaltig und so tief bewegt gewesen zu sein«; noch am »heutigen Morgen« sei es ihm »unfassbar« erschienen, dass »alles falsch gewesen sein« soll. Ganz ohne »17. Juni« empfand das Politbüro der SED die eingetretene Lage im Juni 1953 also als fundamental krisenhaft.
In dieser merkwürdigen Konstellation des »Neubeginns« wurden von den Mitgliedern des Politbüros viele Fragen und Problemfelder durcheinander angesprochen. Ebert zum Beispiel nannte die auch ihn betreffende »Häufung von zentralen Funktionen« bei führenden Genossen »nicht normal« und beklagte das ungeklärte Verhältnis »von Partei und Staatsapparat«: Er erlebe als Oberbürgermeister Berlins ständig, dass die Bezirksleitung der Partei »unter Missachtung aller Beschlüsse in die Verwaltung hineinregiert und hineinpfuscht«. Auch das völlig aus dem Ruder gelaufene Sitzungswesen prangerte Ebert an. Das Sekretariat der Bezirksleitung habe gerade erst wieder von neun Uhr früh bis ein Uhr in der Nacht getagt. Neulich habe er »einmal das Papier gewogen«, das als erste Sendung für eine Sitzung dieses Sekretariats an ihn geschickt wurde: »Das waren 675 Gramm. (…) Das kann nicht einmal jemand verantwortungsvoll studieren, der nichts anderes zu tun hat, als Mitglied eines Sekretariats zu sein. Das ist eine verantwortungslose Arbeit, die ich niemals mehr gestatten werde.«
Die Vielzahl von drängenden Problemlagen, die nun mit Eifer auf den Tisch gelegt wurden, mag ein Grund dafür gewesen sein, dass das Politbüro die sehr konkrete Zuspitzung der Oppositionsstimmung in der Arbeiterklasse nicht weiter beachtete. Der Hinweis des bestens informierten Semjonow, dass es bereits in 26 Betrieben zu Streiks im Zusammenhang mit der Frage der Normenerhöhungen gekommen sei, wurde nicht aufgegriffen; das von ihm ins Gespräch gebrachte »Sonderdokument« hierzu kam nicht zustande, vielmehr wurden die Normenerhöhungen in dem am 11. Juni veröffentlichten Kommuniqué des Politbüros nicht einmal erwähnt.
Allgemeiner Angriff
Dafür schlugen die Wogen über Ulbricht zusammen. Bei der Sondersitzung des Politbüros am 9. Juni hielt die Kritik an. Herrnstadt schrieb später, diese Politbürositzung habe sich zu einem »allgemeinen Angriff auf das Sekretariat« entwickelt, »wobei das Wort Sekretariat (…) nur das Deckwort war für Personenkult, Loslösung von den Massen, Eigenmächtigkeiten Walter Ulbrichts, Sektierertum«. Ein Genosse nach dem anderen meldete sich mit zum Teil vernichtender Kritik an der Arbeitsweise der Parteiführung zu Wort, darunter auch Oelßner, der selbst Mitglied des Sekretariats war, aber nun von einer »Diktatur Ulbrichts« sprach, die es dort gebe. Laut Herrnstadt wurden sowohl Ulbricht als auch der sowjetische »Gast« Semjonow »durch diesen einheitlichen und leidenschaftlichen Ausbruch des Politbüros völlig überrascht«. Semjonow schritt gegen die Kritik nicht ein. Ulbricht reagierte zunächst defensiv und kündigte an, das Sekretariat nicht mehr einzuberufen.
Durch die akute Zuspitzung der Krise in den Tagen um den 17. Juni herum wurde dieser Konflikt zunächst »eingefroren«. Das Politbüro tagte gleichsam in Permanenz und brachte Maßnahmen auf den Weg, die die Lebenslage der Bevölkerung der DDR kurzfristig spürbar verbessern sollten. Für den 21. Juni wurde das (14.) Plenum des vom III. Parteitag der SED 1950 gewählten Zentralkomitees einberufen. Es trat – charakteristisch für die Situation angespanntester Arbeit der gesamten Partei – am späten Abend um 23.20 Uhr zusammen und ging um drei Uhr früh wieder auseinander. Hier wurde vielfach noch offen über die Proteststimmung in den Betrieben gesprochen, also darüber, dass »ein Teil der Arbeiterklasse kein Vertrauen mehr zur Partei und zur Regierung hat und uns nicht mehr folgt« (Kurt Hager). Der zentrale Satz der Entschließung lautete: »Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht die Arbeiter.« Insgesamt war die Stimmung kämpferisch und nicht resigniert; der angesehene Parteiveteran Otto Buchwitz, ein ehemaliger Sozialdemokrat, forderte die Anwesenden auf, hinauszugehen und zu kämpfen. Man sei »doch nicht geschlagen«.
Ulbricht forderte vor dem Zentralkomitee, die Partei müsse »um jeden Preis aus der Defensive herauskommen. (…) Wir denken, dass es in einer Woche oder in zehn Tagen möglich sein wird, die nächste ZK-Sitzung durchzuführen, auf der alle Fragen gründlich behandelt werden und wo ein Dokument vorgelegt wird, das die Grundlage für die Aussprache bildet, wo also die Genossen alles sagen können, was sie auf dem Herzen haben.«
Es war Anton Ackermann, der gegenüber dem Zentralkomitee den Stand der Diskussion im Politbüro zumindest andeutete: »Wir wissen, dass Dinge geschehen sind und Fehler gemacht worden sind, wofür die Führung der Partei sich vor der Partei, vor der Arbeiterklasse und vor dem Gewissen der internationalen Arbeiterklasse verantworten muss. In einem gewissen Sinne ist das, was wir uns eingebrockt haben, schlimmer als manche schwere Niederlage, die die Arbeiterklasse in der Vergangenheit von ihren Gegnern erlitten hat. (…) Sobald die wichtigste Arbeit in dieser Linie getan ist, wird das Zentralkomitee wieder zusammentreten, um dann nicht nur über die Änderung des Fünfjahrplanes zu diskutieren, sondern auch darüber: Gibt es bei uns in der Partei eine richtige Atmosphäre? Gab es im Zentralkomitee eine richtige Atmosphäre? Gab es eine kollektive Leitung? Gib es kollektive Leitungen von unten bis oben?«
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Losgelöst von den Massen
Herrnstadt beklagte – das ist der bei ihm auch später immer wiederkehrende Punkt – die »Abgerissenheit von der Masse«. Viele Funktionäre würden denken, »Administrieren« sei »der normale Zustand«. Er griff den Ansatz der 2. Parteikonferenz grundsätzlich an: »Wir haben geglaubt, wir bauen den Sozialismus auf, und die Deutschlandfrage regelt sich inzwischen auf irgendeine Weise allein.« Ulbricht notierte aus Herrnstadts Redebeitrag: »Hauptschuld ist Abgeschlossenheit von Massen. Zynisches Verhalten zu Massen. (…) Politik der Partei des Volkes machen. (…) Wir haben auf diese Unterhaltung zwei Jahre gewartet.«
Persönlich wurde Elli Schmidt: Sie sei »noch nie so einsam gewesen wie jetzt im Politbüro«. Ihr Eindruck sei, dass Mitglieder des »überheblichen« Sekretariats das Politbüro als »überflüssige Einrichtung« betrachteten. Auch Erich Honecker schlug einen kritischen Ton an: »Uns ist der Mut genommen, offen zu sprechen«, sagte er laut Grotewohls Aufzeichnungen.
Diese Diskussion entwickelte sich inmitten einer gleichsam abrupt entstandenen Stimmung des völligen »Neubeginns«, die schnell die Mehrheit des Politbüros erfasste. Bezeichnend ist hier die Bemerkung von Zaisser, es sei »eine absolute Änderung erforderlich«, und zwar eine »Änderung wie seit 1918 nicht«. Jendretzky soll nach dieser Sitzung gegenüber Heinz Brandt, einem Mitglied der Berliner SED-Bezirksleitung, erklärt haben: »Heinz, ich habe eine gute Nachricht, die beste von der Welt. Es ist geschafft. Wir fangen ganz neu an – und im Hinblick auf ganz Deutschland. Das ist die größte Wendung in der Geschichte der Partei.« Zum Teil entwickelte sich diese Stimmung aus der offensichtlichen Schockwirkung, die die aus Moskau mitgebrachten Dokumente in der Parteiführung auslösten, bevor sich diese Wirkung ein paar Tage später auf die Partei übertrug. Ebert sprach in seinem Redebeitrag, dessen Manuskript überliefert ist, sogar von »körperlichen Schmerzen«. Er könne sich nicht erinnern, in den vergangenen Jahrzehnten »von einer Sache so nachhaltig und so tief bewegt gewesen zu sein«; noch am »heutigen Morgen« sei es ihm »unfassbar« erschienen, dass »alles falsch gewesen sein« soll. Ganz ohne »17. Juni« empfand das Politbüro der SED die eingetretene Lage im Juni 1953 also als fundamental krisenhaft.
In dieser merkwürdigen Konstellation des »Neubeginns« wurden von den Mitgliedern des Politbüros viele Fragen und Problemfelder durcheinander angesprochen. Ebert zum Beispiel nannte die auch ihn betreffende »Häufung von zentralen Funktionen« bei führenden Genossen »nicht normal« und beklagte das ungeklärte Verhältnis »von Partei und Staatsapparat«: Er erlebe als Oberbürgermeister Berlins ständig, dass die Bezirksleitung der Partei »unter Missachtung aller Beschlüsse in die Verwaltung hineinregiert und hineinpfuscht«. Auch das völlig aus dem Ruder gelaufene Sitzungswesen prangerte Ebert an. Das Sekretariat der Bezirksleitung habe gerade erst wieder von neun Uhr früh bis ein Uhr in der Nacht getagt. Neulich habe er »einmal das Papier gewogen«, das als erste Sendung für eine Sitzung dieses Sekretariats an ihn geschickt wurde: »Das waren 675 Gramm. (…) Das kann nicht einmal jemand verantwortungsvoll studieren, der nichts anderes zu tun hat, als Mitglied eines Sekretariats zu sein. Das ist eine verantwortungslose Arbeit, die ich niemals mehr gestatten werde.«
Die Vielzahl von drängenden Problemlagen, die nun mit Eifer auf den Tisch gelegt wurden, mag ein Grund dafür gewesen sein, dass das Politbüro die sehr konkrete Zuspitzung der Oppositionsstimmung in der Arbeiterklasse nicht weiter beachtete. Der Hinweis des bestens informierten Semjonow, dass es bereits in 26 Betrieben zu Streiks im Zusammenhang mit der Frage der Normenerhöhungen gekommen sei, wurde nicht aufgegriffen; das von ihm ins Gespräch gebrachte »Sonderdokument« hierzu kam nicht zustande, vielmehr wurden die Normenerhöhungen in dem am 11. Juni veröffentlichten Kommuniqué des Politbüros nicht einmal erwähnt.
Allgemeiner Angriff
Dafür schlugen die Wogen über Ulbricht zusammen. Bei der Sondersitzung des Politbüros am 9. Juni hielt die Kritik an. Herrnstadt schrieb später, diese Politbürositzung habe sich zu einem »allgemeinen Angriff auf das Sekretariat« entwickelt, »wobei das Wort Sekretariat (…) nur das Deckwort war für Personenkult, Loslösung von den Massen, Eigenmächtigkeiten Walter Ulbrichts, Sektierertum«. Ein Genosse nach dem anderen meldete sich mit zum Teil vernichtender Kritik an der Arbeitsweise der Parteiführung zu Wort, darunter auch Oelßner, der selbst Mitglied des Sekretariats war, aber nun von einer »Diktatur Ulbrichts« sprach, die es dort gebe. Laut Herrnstadt wurden sowohl Ulbricht als auch der sowjetische »Gast« Semjonow »durch diesen einheitlichen und leidenschaftlichen Ausbruch des Politbüros völlig überrascht«. Semjonow schritt gegen die Kritik nicht ein. Ulbricht reagierte zunächst defensiv und kündigte an, das Sekretariat nicht mehr einzuberufen.
Durch die akute Zuspitzung der Krise in den Tagen um den 17. Juni herum wurde dieser Konflikt zunächst »eingefroren«. Das Politbüro tagte gleichsam in Permanenz und brachte Maßnahmen auf den Weg, die die Lebenslage der Bevölkerung der DDR kurzfristig spürbar verbessern sollten. Für den 21. Juni wurde das (14.) Plenum des vom III. Parteitag der SED 1950 gewählten Zentralkomitees einberufen. Es trat – charakteristisch für die Situation angespanntester Arbeit der gesamten Partei – am späten Abend um 23.20 Uhr zusammen und ging um drei Uhr früh wieder auseinander. Hier wurde vielfach noch offen über die Proteststimmung in den Betrieben gesprochen, also darüber, dass »ein Teil der Arbeiterklasse kein Vertrauen mehr zur Partei und zur Regierung hat und uns nicht mehr folgt« (Kurt Hager). Der zentrale Satz der Entschließung lautete: »Wenn Massen von Arbeitern die Partei nicht verstehen, ist die Partei schuld, nicht die Arbeiter.« Insgesamt war die Stimmung kämpferisch und nicht resigniert; der angesehene Parteiveteran Otto Buchwitz, ein ehemaliger Sozialdemokrat, forderte die Anwesenden auf, hinauszugehen und zu kämpfen. Man sei »doch nicht geschlagen«.
Ulbricht forderte vor dem Zentralkomitee, die Partei müsse »um jeden Preis aus der Defensive herauskommen. (…) Wir denken, dass es in einer Woche oder in zehn Tagen möglich sein wird, die nächste ZK-Sitzung durchzuführen, auf der alle Fragen gründlich behandelt werden und wo ein Dokument vorgelegt wird, das die Grundlage für die Aussprache bildet, wo also die Genossen alles sagen können, was sie auf dem Herzen haben.«
Es war Anton Ackermann, der gegenüber dem Zentralkomitee den Stand der Diskussion im Politbüro zumindest andeutete: »Wir wissen, dass Dinge geschehen sind und Fehler gemacht worden sind, wofür die Führung der Partei sich vor der Partei, vor der Arbeiterklasse und vor dem Gewissen der internationalen Arbeiterklasse verantworten muss. In einem gewissen Sinne ist das, was wir uns eingebrockt haben, schlimmer als manche schwere Niederlage, die die Arbeiterklasse in der Vergangenheit von ihren Gegnern erlitten hat. (…) Sobald die wichtigste Arbeit in dieser Linie getan ist, wird das Zentralkomitee wieder zusammentreten, um dann nicht nur über die Änderung des Fünfjahrplanes zu diskutieren, sondern auch darüber: Gibt es bei uns in der Partei eine richtige Atmosphäre? Gab es im Zentralkomitee eine richtige Atmosphäre? Gab es eine kollektive Leitung? Gib es kollektive Leitungen von unten bis oben?«
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•NEUER BEITRAG29.06.2023, 17:44 Uhr
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Oppositionelle Plattform
Die Losung von der »kollektiven Leitung« war gleichsam die »oppositionelle Plattform« der Politbüromehrheit vom Juni 1953. Schon mit weniger Gewissheit sagen lässt sich, ob es tatsächlich das Ziel zumindest der Wortführer dieser Gruppe war, Ulbricht zu »stürzen«. Für Zaisser lässt sich die Frage bejahen (seine Hauptkritik war, dass Ulbricht die Partei durch falsche Erziehung der Kader »verdorben« habe), im Fall Herrnstadt ist das schon weitaus weniger eindeutig. Am 3. Juli schlug Zaisser bei der Sitzung der Organisationskommission, die Vorschläge für eine Neuorganisation der Strukturen an der Parteispitze ausarbeiten sollte, den davon offensichtlich überraschten Herrnstadt als neuen Ersten Sekretär vor. Dass die Rolle des Generalsekretärs wegfallen sollte, hatte man in der Kommission – ohne Einspruch Ulbrichts – bereits am 26. Juni beschlossen; dem Ersten Sekretär sollten allerdings lediglich Koordinationsaufgaben zufallen.
Standen sich hier jenseits der Frage der Arbeitsweise der Parteiführung zwei politische Linien gegenüber? Sowohl Zaisser als auch Herrnstadt bestritten vor und nach ihrem Parteiausschluss im Januar 1954 energisch, eine »Fraktion« gebildet zu haben, und das, was bald schon als »Oppositionsplattform« angegriffen wurde – Herrnstadts Entwurf für die Erklärung des anstehenden 15. ZK-Plenums –, war mit Sicherheit keine. Allenfalls lässt sich sagen, dass mit einer neugebildeten Parteiführung eine stärkere deutschlandpolitische Fokussierung (möglicherweise unter gänzlichem Verzicht auf den Sozialismuskurs) der SED leichter zu haben gewesen wäre. Dafür allerdings gab es in Moskau seit dem 17. Juni, den, wie neuere Forschungen zeigen, die sowjetischen Stellen in der DDR auch intern als vom Westen gesteuerten bzw. ausgelösten Putschversuch einschätzten, keine dringende Nachfrage mehr. Am 26. Juni war mit Lawrenti Berija zudem der hauptsächliche Inspirator einer »Verständigung« mit dem Westen in der Deutschlandfrage gestürzt worden. Betont sei an dieser Stelle, dass diese Koinzidenz Herrnstadt und Zaisser nicht zu »Berijas Männern« macht.
Die Kritik am Generalsekretär wurde nicht von sowjetischen Dienststellen initiiert, sondern war in der Hauptsache ein authentisches Resultat der zugespitzten Widersprüche in der Politik der SED, die, wie in Teil 1 gezeigt, in die Krise des Jahres 1953 mündeten. Das zeigte sich letztmalig bei der Politbürositzung am 8. Juli, als Ulbricht noch einmal unter schweren Beschuss geriet (und bei der Herrnstadt eine Tätigkeit als Erster Sekretär ausdrücklich ablehnte). Elli Schmidt rief hier aus: »Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und das Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast du die meiste Schuld und das willst du nicht eingestehen, dass es ohnedem keinen 17. Juni gegeben hätte.« Schmidt, Ackermann, Zaisser (»Der Apparat in der Hand Walter Ulbrichts ist eine Katastrophe für den neuen Kurs«) und Jendretzky plädierten eindeutig für Ulbrichts Ablösung.
Verbaute Chance
Am 8. Juli wurde von Oelßner – ohne Zweifel auf Veranlassung Ulbrichts und mit Rückendeckung Semjonows (der die ganze Sache möglicherweise angeschoben hat) – allerdings auch der Vorwurf der »Gruppenbildung« gegen Zaisser und Herrnstadt erhoben. Binnen weniger Wochen wurde nun eine »parteifeindliche Fraktion« konstruiert, die – zur Überraschung der versammelten Genossinnen und Genossen – dem 15. ZK-Plenum (24. bis 26. Juli 1953) präsentiert wurde. Diese Fraktion sei vor der feindlichen Propaganda zurückgewichen und habe in den kritischen Tagen »gegen die Einheit der Parteiführung« und »gegen die Partei« schlechthin gekämpft – das war, wie wir heute wissen, mitnichten der politische Inhalt der Debatten im Juni und Juli 1953.
Es ist kein Zufall, dass sich die Diskussionsbeiträge dieses Plenums überwiegend mit dieser Fraktion und kaum noch mit dem »17. Juni« befassten, der hier nun parteioffiziell als »faschistischer Putschversuch« und »als von langer Hand vorbereiteter Tag X« charakterisiert wurde. Das war ein Rückfall hinter Einsichten, die in der Parteispitze bereits formuliert worden waren und die ja auch die Grundlage für den energisch in Angriff genommenen »Neuen Kurs« bildeten.
Die Junikrise 1953 erweist sich so als doppelte Tragödie: Teile der Arbeiterklasse waren gegen die Arbeiterpartei auf die Straße gegangen – das blieb bis zuletzt ein Trauma der SED –, und die maßgebende Gruppe in der Parteiführung verbaute der Partei die zunächst durchaus vorhandene Chance auf einen kritischen, die Tatsachen anerkennenden, politisch produktiven Umgang mit diesen Ereignissen. Langfristig stabiler gemacht hat das die SED, in der 1953/54 – ein deutliches Zeichen für die erheblichen Spannungen in der Partei – über die Hälfte der Mitglieder der Bezirksleitungen und über 70 Prozent der Ersten Kreissekretäre ausgetauscht wurden, nicht.
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Oppositionelle Plattform
Die Losung von der »kollektiven Leitung« war gleichsam die »oppositionelle Plattform« der Politbüromehrheit vom Juni 1953. Schon mit weniger Gewissheit sagen lässt sich, ob es tatsächlich das Ziel zumindest der Wortführer dieser Gruppe war, Ulbricht zu »stürzen«. Für Zaisser lässt sich die Frage bejahen (seine Hauptkritik war, dass Ulbricht die Partei durch falsche Erziehung der Kader »verdorben« habe), im Fall Herrnstadt ist das schon weitaus weniger eindeutig. Am 3. Juli schlug Zaisser bei der Sitzung der Organisationskommission, die Vorschläge für eine Neuorganisation der Strukturen an der Parteispitze ausarbeiten sollte, den davon offensichtlich überraschten Herrnstadt als neuen Ersten Sekretär vor. Dass die Rolle des Generalsekretärs wegfallen sollte, hatte man in der Kommission – ohne Einspruch Ulbrichts – bereits am 26. Juni beschlossen; dem Ersten Sekretär sollten allerdings lediglich Koordinationsaufgaben zufallen.
Standen sich hier jenseits der Frage der Arbeitsweise der Parteiführung zwei politische Linien gegenüber? Sowohl Zaisser als auch Herrnstadt bestritten vor und nach ihrem Parteiausschluss im Januar 1954 energisch, eine »Fraktion« gebildet zu haben, und das, was bald schon als »Oppositionsplattform« angegriffen wurde – Herrnstadts Entwurf für die Erklärung des anstehenden 15. ZK-Plenums –, war mit Sicherheit keine. Allenfalls lässt sich sagen, dass mit einer neugebildeten Parteiführung eine stärkere deutschlandpolitische Fokussierung (möglicherweise unter gänzlichem Verzicht auf den Sozialismuskurs) der SED leichter zu haben gewesen wäre. Dafür allerdings gab es in Moskau seit dem 17. Juni, den, wie neuere Forschungen zeigen, die sowjetischen Stellen in der DDR auch intern als vom Westen gesteuerten bzw. ausgelösten Putschversuch einschätzten, keine dringende Nachfrage mehr. Am 26. Juni war mit Lawrenti Berija zudem der hauptsächliche Inspirator einer »Verständigung« mit dem Westen in der Deutschlandfrage gestürzt worden. Betont sei an dieser Stelle, dass diese Koinzidenz Herrnstadt und Zaisser nicht zu »Berijas Männern« macht.
Die Kritik am Generalsekretär wurde nicht von sowjetischen Dienststellen initiiert, sondern war in der Hauptsache ein authentisches Resultat der zugespitzten Widersprüche in der Politik der SED, die, wie in Teil 1 gezeigt, in die Krise des Jahres 1953 mündeten. Das zeigte sich letztmalig bei der Politbürositzung am 8. Juli, als Ulbricht noch einmal unter schweren Beschuss geriet (und bei der Herrnstadt eine Tätigkeit als Erster Sekretär ausdrücklich ablehnte). Elli Schmidt rief hier aus: »Der ganze Geist, der in unserer Partei eingerissen ist, das Schnellfertige, das Unehrliche, das Wegspringen über die Menschen und ihre Sorgen, das Drohen und das Prahlen – das erst hat uns so weit gebracht, und daran, lieber Walter, hast du die meiste Schuld und das willst du nicht eingestehen, dass es ohnedem keinen 17. Juni gegeben hätte.« Schmidt, Ackermann, Zaisser (»Der Apparat in der Hand Walter Ulbrichts ist eine Katastrophe für den neuen Kurs«) und Jendretzky plädierten eindeutig für Ulbrichts Ablösung.
Verbaute Chance
Am 8. Juli wurde von Oelßner – ohne Zweifel auf Veranlassung Ulbrichts und mit Rückendeckung Semjonows (der die ganze Sache möglicherweise angeschoben hat) – allerdings auch der Vorwurf der »Gruppenbildung« gegen Zaisser und Herrnstadt erhoben. Binnen weniger Wochen wurde nun eine »parteifeindliche Fraktion« konstruiert, die – zur Überraschung der versammelten Genossinnen und Genossen – dem 15. ZK-Plenum (24. bis 26. Juli 1953) präsentiert wurde. Diese Fraktion sei vor der feindlichen Propaganda zurückgewichen und habe in den kritischen Tagen »gegen die Einheit der Parteiführung« und »gegen die Partei« schlechthin gekämpft – das war, wie wir heute wissen, mitnichten der politische Inhalt der Debatten im Juni und Juli 1953.
Es ist kein Zufall, dass sich die Diskussionsbeiträge dieses Plenums überwiegend mit dieser Fraktion und kaum noch mit dem »17. Juni« befassten, der hier nun parteioffiziell als »faschistischer Putschversuch« und »als von langer Hand vorbereiteter Tag X« charakterisiert wurde. Das war ein Rückfall hinter Einsichten, die in der Parteispitze bereits formuliert worden waren und die ja auch die Grundlage für den energisch in Angriff genommenen »Neuen Kurs« bildeten.
Die Junikrise 1953 erweist sich so als doppelte Tragödie: Teile der Arbeiterklasse waren gegen die Arbeiterpartei auf die Straße gegangen – das blieb bis zuletzt ein Trauma der SED –, und die maßgebende Gruppe in der Parteiführung verbaute der Partei die zunächst durchaus vorhandene Chance auf einen kritischen, die Tatsachen anerkennenden, politisch produktiven Umgang mit diesen Ereignissen. Langfristig stabiler gemacht hat das die SED, in der 1953/54 – ein deutliches Zeichen für die erheblichen Spannungen in der Partei – über die Hälfte der Mitglieder der Bezirksleitungen und über 70 Prozent der Ersten Kreissekretäre ausgetauscht wurden, nicht.
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