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Von secarts

Niedersachsen und Hessen haben gewählt. So unterschiedlich die Bundesländer, so unterschiedlich auch das Ergebnis: hüben wird der Ministerpräsident, wenn auch mit kleineren Einbußen, deutlich bestätigt, drüben wird er abgestraft. Hier die SPD auf einen neuen Negativstand der Bedeutungslosigkeit geworfen, dort überraschend aufgewertet. Einigkeit herrscht nur in einer Frage: Links von der SPD wird sich eine neue Partei, mit dem wohltönenden Namen "Die Linke", dauerhaft etablieren, auch im Westen des Landes. Und die SPD selbst ist sich scheinbar nicht sicher, wie mit dieser Konkurrenz umzugehen ist: umarmen und ersticken, oder davonlaufen in Richtung gefühlte "Mitte", also: nach rechts. Soweit die Lesart auch der bürgerlichen Medien.

Die Differenzen beginnen jedoch bereits bei den realen Wahlergebnissen, die hier der Einfachkeit halber mal unter Einbeziehung der Nichtwähler, die ja doch irgendwie auch wählen, umgerechnet aufgelistet seien.

...warum es in Hessen und Niedersachsen klare Wahlsieger gibt

In Hessen haben gewählt:
  • 35,7 Prozent gar nicht.
  • 23,7 Prozent die CDU.
  • 23,6 Prozent die SPD.
  • 6,1 Prozent die FDP.
  • 4,8 Prozent die Grünen.
  • 3,3 Prozent die LINKE.
  • 2,8 Prozent etwas anderes.

Und in Niedersachsen wählten:
  • 43,0 Prozent gar nicht.
  • 24,2 Prozent die CDU.
  • 17,3 Prozent die SPD.
  • 4,7 Prozent die FDP.
  • 4,6 Prozent die Grünen.
  • 4,0 Prozent die LINKE.
  • 2,2 Prozent etwas anderes.

Dass der mittlerweile bei jeder Wahl triumphierende Block der Nichtwähler bei der medialen Nachbetrachtung zu kurz kommt, ist Usus. Uns sollte er interessieren: denn er stimmt, mit den Füßen sozusagen, sehr wohl mit ab, und zwar gegen die parlamentarische Demokratie, resp. die dort derzeit vetretenen Parteien - dementsprechend sind die Nichtwähler hier mit eingerechnet, und klar ist: wären sie eine Partei, könnten sie mit Fug und Recht die Regierungsbildung in beiden Bundesländern für sich beanspruchen. Dem ist nun aber nicht so, und die Motive für Wahl durch Nichtwahl werden sehr unterschiedlich und deswegen schwer einzufangen sein. "Politikmüdigkeit" ist das Schlagwort, das mehr erschlägt als erklärt: "Lobbyistenmüdigkeit" oder "Parlamentsmüdigkeit" dürften es eher treffen. Es erübrigt sich eventuell zu erwähnen, dass die Wahlbeteiligung - in beiden Bundesländern - einen neuen Negativ-Rekord darstellt.

...warum Sieger manchmal Verlierer sein können

Auch bei den Siegern und Verlierern, hier namentlich den beiden amtierenden Ministerpräsidenten Christian Wulff und Roland Koch, schaut es auf den zweiten Blick nicht ganz so eindeutig aus: In Hessen hat die CDU 324.114 Zweitstimmen verloren, das entspricht knapp 7,5% aller Hessen. Der strahlende Wahlsieger aus Niedersachsen Wulff hat dagegen sogar 469.368 Zweitstimmen, also etwa 7,8% der Niedersachsen, eingebüßt - bei den Erststimmen ist es noch extremer: Wulff verlor 566.030 Erststimmen (-9,4 %), Koch hingegen hatte ein Minus von 7,39% Erststimmen (-343.497). Der Hauptunterschied - und warum sich der eigentliche Verlierer als Gewinner feiern lassen kann - liegt allein in der Wahlbeteiligung: die Stimmen der Nichtwähler werden bekanntlich allen Parteien zugeschlagen. Auch den doofen.

Doch nun zu den unzweifelhaft begrüßenswerten Ergebnissen dieser Wahlen: Zunächst ist dies das schlechte Abschneiden der NPD, der es trotz großem Getrommel nicht gelang, auch nur in eines der beiden Landesparlamente einzusteigen. Die offenen Faschisten können damit ihre Hoffnungen, nach den Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen auch im Westen in eines oder mehrere Landesparlamente einzuziehen, vorerst begraben - gerade in Niedersachsen und den Kandidaten Molau hatte die Partei durchaus Chancen gesetzt (die NPD holte in Niedersachsen nur 1,5% - ohne Nichtwähler). Der NPD-Blog (Link) sieht Anzeichen für eine Änderung der Wahlkampfstrategie bei den Faschisten: in Zukunft, so NPD-Blog, könnten sich die Nazis nur noch auf den Osten konzentrieren.

Desweiteren ist es die klare Abstrafung des etablierten Fachisten Roland "RoKo" Koch, der mit einer an Geschmacklosigkeit und Stammtischdünkel kaum noch zu überbietenden Kampagne wohl selbst für rechtsbürgerliche Bündnispartner deutlich zu weit gegangen ist: Der nationale Scharfmacher, unterdessen vom ehemaligen "Bild"-Chef und Ex-Kohl-Wahlkampfmanager Tiedje zum "neuen Franz Josef Strauß" ausgerufen, scheint sich mit seinen Testballons zu weit hervorgewagt zu haben; die zweistelligen Verluste für die hessische CDU nach deutlich kritischen Berichten der etablierten Presse sind der Ausdruck dafür.

...warum sich Roland Koch verzockt hat

Von diesem begrüßenswerten Ergebnis ausgehend zu hoffen, dass Koch gegen den Mainstream argumentiert hat und ob seiner Intoleranz von einer liberaleren Gesellschaft abgestraft wurde, wäre nichtsdestotrotz vorschnell: Für einen "Landesvater", mithin einer mit gewisser Autorität und Herrschaftsattributen besetzen Figur, ist der Mann zu ungehobelt, zu aggressiv, zu großmäulig. Die Rolle des rechten Radaubruders steht den Mannen der NPD besser, und ihnen wird am Stammtisch auch vergeben, wenn sie zu "klaren Worten" greifen. Koch hingegen hätte, um mit einem ressentimentbeladenen Thema wie "kriminellen Ausländerjugendlichen" punkten zu können, "staatsmännischer" auftreten müssen. Nicht das Thema war falsch gewählt, um den breiten rechten Konsens kleinbürgerlicher Gesellschaftsschichten aufzugreifen und politisch zu instrumentalisieren; sondern der falsche Mann hat's falsch angepackt.

Der schmale Grad liegt dort, wo konsenstabuisierte Themen durch etablierte Politiker diskursfähig gemacht werden: Nah genug am Stammtisch, aber weit genug entfernt von der Agitation der Stiefelnazis, noch legalistisch, aber noch nicht krawallistisch. Koch hat sich genau dort verkalkuliert und die Rolle des Jahrmarktdemagogen zu sehr übertrieben, um bei seiner Stammklientel, also dem kleinbürgerlichen "Mittelstand", bei Angestellten, Rentnern und Hausfrauen über 50, noch den Respekt einer bürgerlich legitimierten Autoritätsperson einzufahren. Die nächsten Kochs werden davon lernen: die kleinbürgerliche Idealvorstellung des "starken Mannes", der sich vor "deutlichen Worten" nicht scheut und "hart durchzugreifen" bereit ist, muss mit Attributen bürgerlicher Legalität, Erhhaftigkeit und Autorität einherkommen, um zu ziehen. Geifernde, aggressive und um sich schlagende Schrebergartenmussolinis sind - derzeit - nicht gewünscht.

... und was die "Linke" tun müsste, um linker zu werden

Das Abschneiden der neuen "Linkspartei", der in beiden Parlamenten der Einzug gelang, wird schon - etwas vorschnell, vielleicht - als dauerhafter Trend verklärt. Erstens sind sich Freund wie Feind sicher, dass sich eine "dauerhafte", "nicht mehr wegzudenkende" und "stabile" neue Gruppierung etabliert hätte; für die FAZ ist die Linke gar der "klare Wahlsieger". Zweitens kritisieren Wirtschaftskreise einen "Linksruck" in Deutschland, so der BDI-Chef Thumann, der die aktuelle Entwicklung "mit allergrößter Sorge" betrachtet. Ist das Ergebnis dauerhaft, und hat die Wirtschaft wirklich Grund zur Sorge? Nun, beides bleibt abzuwarten.

Ein klares Signal ist der Einzug der Linken in zwei westdeutschen Flächenländern dennoch: trotz gefühligem "Linksruck" der SPD, trotz Beck'scher Charmeoffensive und Ypsilantihaftem Gebiedere in der Mindestlohnecke - und trotz polarisiertem Koch-Wahlkampf! - haben wir die fünfte Partei: die "Linke". Ob und wie die Partei ihrem klangvollen Namen gerecht wird, bleibt ebenfalls abzuwarten: der Wahlkampf der neuen Truppe setzte nur zum Teil auf klassisch linke Themen, ansonsten aber auch auf Bauernfang. Vom Gegreine über den bewahrenswerten Mittelstand, Sozialrethorik über "Swimmingpoolsteuern" bis hin zu einer geforderten "Fillialsteuer", die große Supermarktketten zur Rettung der Kleinkrämerläden abgeben müssten, war in etwa alles vertreten, was die Revanchephantasien pauperisierter Kleinbürger mit den unerfüllbaren Konsumsehnsüchten aufs Abstellgleis geschobener Arbeiter verbindet und in den Schlangen vor der "Agentur für Arbeit" für Gesprächsstoff sorgt.

Eine klare marxistische Argumentation, die statt auf emotional-indifferenten Antikapitalismus eher auf gewerkschaftliche Themen wie bspw. die Einführung der 30-Stunden-Woche setzt, in einer erklärtermaßen nicht-marxistischen Partei zu erwarten, wäre natürlich irrig gewesen. Von all jenen, die als neue MdLs über das "Linke"-Ticket unsere Landesparlamente bereichern werden und von denen einige offen als Marxisten oder gar Kommunisten auftreten, hätte man nicht zuletzt nach der Schmutzkampagne über die "Anarchisten, Altkommunisten und Chaoten" (Spiegel Online) etwas mehr Klassenkampf anstelle der üblichen Worthülsen von "sozialer Marktwirtschaft", "ökologischer Demokratie" und "Arbeit für alle" erwarten können. Doch et kümmt wies kümmt: wer im großen Sandkasten der föderalen Parlamente mitspielen will, muss sich an die Spielregeln halten und statt Schaufelbaggern zu Plastiklöffelchen greifen. So zitiert "Spiegel Online" den niedersächsischen "Linke"- Listenzweiten und neuen MdL, Manfred Sohn: "wir sind Realos geworden."

Die Links-Realos mögen von lauteren Motiven ausgehen: sei's, dass die Linke ihr Verhältnis zur Nation neu auslotet, sei's, dass sie sich - klassenindifferent natürlich - zum "Anwalt der kleinen Leute" stilisiert: wo die Themen von links besetzt sind, ist für Rechte kein Raum mehr, mag sich manch Einer denken. Doch genau hier liegen die Gefahren: "Protestwähler" einzufangen, ohne die Motive für solche Art Protest, die immer nur einzelne kapitalistische Elemente aufgreift und kosmetische Korrekturen erwartet, zu analysieren, bleibt notwendig auf halbem Wege stecken. Abhilfe kann hier nur eine radikale Analyse schaffen, die die negativen Auswüchse des Kapitalismus auf deren Ursache zurückführt: das System der privaten Mehrwertaneignung. Jenes wird weder durch besteuerte Swimmingpools, noch durch rentable Tante-Emma-Läden geändert. Ganz im Gegenteil: im halbherzigen Aufstacheln schlummernder antikapitalistischer Sehnsüchte (und deren zielgerichteter Umleitung in Richtung bürgerlichen Machterhalt), in irrationaler und emotionaler Demagogie waren und sind Faschisten überlegen.

Um dies klarzustellen: die "Linke" in zwei neuen Landesparlamenten, die bürgerlich-demokratische Errungenschaften verteidigt, gegen Rassismus, Faschismus und nationalkonservativen Rechtsschwenk auftritt, ist auch dann ein Gewinn, wenn sie bei bürgerlich-demokratischer Politik stehenbleibt. Auch auf die sehr reale Gefahr hin, dass diese Partei unter der Last der Sachzwänge, der formenden Gewalt der parlamentarischen Spielwiese und der ohne starken außerparlamentarischen Faktor zwingend einsetzenden Verschiebung von ökonomischen zu kosmetischen Aufgabestellungen zu einer zweiten, "besseren" SPD degeneriert. Für eine dauerhafte Daseinsberechtigung reichen wird dies alleine jedoch nicht, denn Sozialdemokraten haben wir bereits, und die haben von der Piecke auf gelernt. Ihren Job braucht man nicht doppelt, sondern allerhöchstens entbehrlich zu machen.

 
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  Kommentar zum Artikel von ico:
Mittwoch, 30.01.2008 - 20:56

...hab irgendwo gehört, das eine Größe aus der Versicherungsbranche zum Ersten,
und zum Zweiten aus Peine, jetzt für die Linke aktuell ist. -
Kann es sein das es sich hierbei um den genannten Sohn handelt,
und sollte die Peine - Connection stimmen, kennt Ihr den ???
Gruß Nico, bis morgen.


  Kommentar zum Artikel von Stephan:
Mittwoch, 30.01.2008 - 18:13

hätte ich vielleicht den link mitliefern sollen?

Link ...jetzt anmelden! [externer link]


  Kommentar zum Artikel von secarts:
Mittwoch, 30.01.2008 - 15:25

Ich war mal so frei, deine Zahlen der Erst- und Zweitstimmen für RoKo und Wulff mit einzurechnen, Stephan - danke für die Auflistung!


  Kommentar zum Artikel von Stephan:
Dienstag, 29.01.2008 - 18:15

vielleicht sollte man zur Ehrenrettung des RoKo nochmals einige Zahlen liefern:
In Hessen hat die CDU 324.114 Zweitstimmen verloren, das entspricht knapp 7,5% der Hessen. EDer strahlende Wahlsieger aus Niedersachsen. Christian Wulff, hat dagegen nur 469.368 Zweitstimmen, etwa 7,8% der Niedersachsen, eingebüßt - bei den Erststimmen ist es noch extremer: Wulff verlor 566.030 Erststimmen (-9,4 %), Koch hingegen hatte ein Minus von 739% Erststimmen (-343.497). Die Wahlkreisverluste lassen sich schwer vergleichen, da Niedersachsen eine neue Einteilung mit weniger Wahlkreisen hat.

Hauptunterschied - warum sich der eigentlich Verlierer als Gewinner feiern lassen kann - liegt in der Wahlbeteiligung - die Stimmen der Nichtwähler werden bekanntlich allen Parteien zugeschlagen. Auch den doofen!


Und derweil in Niedersachsen allenfalls einige Minister wechseln werden, ist in Hessen das große Ratespiel entbrannt: Koalitionen sind möglich (groß, Ampel, Schwampel, rotrotgrün, Tolerierung), es findet sich aber in jeder Konstellation mindestens eine Partei, die das nicht will. Meine Favoriten: Große Koalition ohne Roland Koch oder Ampel - jeweils 30%, Neuwahlen 40%.