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NEUES THEMA17.11.2006, 06:39 Uhr
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roteroktober
GAST
• Aspekte der demokratischen Revolution Zum politischen Klima

[mp3]Das erste, was auf der Reise durch Venezuela auffiel, ist das hohe politische Klima im Land. Oft wird im Ausland gewarnt, man solle mit politischer Positionierung vorsichtig sein, diese EinschĂ€tzung kann so nicht geteilt werden. Das offene Auftreten der eigenen Gesinnung und Einstellung wurde mit ebensolcher Offenheit erwidert. In Bussen, Cafes, in Familien, bei Bekannten wurde geradeheraus gesagt, dass man sich als KommunistIn fĂŒr das politische System in Venezuela interessiere. Das hat nicht selten dazu gefĂŒhrt, dass spannende Diskussionen entstanden.

Sich einfach unpolitisch fĂŒhlen, gibt es Venezuela sehr wenig. Die Male, wo das gesagt wurde, stellte sich dann auch eher heraus, dass dies Menschen waren, die eher der Opposition zuzuordnen waren.

Es war ein tolles GefĂŒhl, ein progressives Klima der VerĂ€nderung zu erleben, von dem wir in Deutschland derzeit nur trĂ€umen können.


Zum Recht auf Bildung und Wissen

Ein sehr wichtiger Bereich der demokratischen Revolution Venezuelas ist das Bildungssystem. Man kann sagen, dass der SchlĂŒssel einer jeden tiefgreifenden Gesellschaftsordnung in der Bildung liegt, denn Wissen ist Macht. Nicht umsonst betonen die AnhĂ€nger des bolivarischen Prozesses immer, dass derzeit der Kampf um die Ideologie gefĂŒhrt wird, denn – so wird eingeschĂ€tzt – die bĂŒrgerliche Opposition war nie so schwach wie heute.

Die neue Verfassung (von 1999) hat das Recht auf demokratische, verpflichtende und kostenlose Erziehung festgeschrieben. Das ist ein großer Fortschritt fĂŒr ein Land, in dem die privaten Bildungseinrichtigungen nach wie vor eine hervorstechende Bedeutung spielen.

Das bolivarianische Erziehungsmodell will damit ein Ende machen. Und das Bildungskonzept ist ganzheitlich.

Simoncito

Ab der Geburt bis zum sechsten Lebensjahr können die Babys und Kleinkinder in die Bildungseinrichtung Simoncito gehen. Simoncito selbst ist in Kinderkrippe (von 0 bis 3 Jahren) und Vorschule (3-6 Jahre) unterteilt.

Simoncito wie alle bolivarischen Bildungseinrichtungen fĂŒr Kinder und Jugendliche sind Ganztagsschulen. Dies ist der SchlĂŒssel fĂŒr die Möglichkeit der ErwerbstĂ€tigkeit der MĂŒtter.

Bolivarische Schulen

Die Grundschulen knĂŒpfen an Simoncito an. Bei dem Besuch der bolivarischen Schule „Doctor Juan de Dios Ponte“ in Cabudare, die im Armenviertel La Montaña aufgebaut wurde, konnte ein Einblick in die Praxis der Konzeption dieser Bildungseinrichtung gewonnen werden. Die Direktorin Professorin Lulie Roja Ahrez erzĂ€hlte von den Fortschritten, aber auch den Schwierigkeiten in der Schule. La Montaña ist in der Region im Bundesstaat Lara eine der Ă€rmsten Gegenden. D.h. auch dass die absolute Mehrheit der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler aus armen Familien kommen. Aus Familien, die jahrzehntelang gewohnt waren, mit ihren Kindern zu arbeiten, bzw. ihre Kinder arbeiten zu lassen, da sie auch selbst nie zur Schule gegangen sind.

Zwar gibt es seit 2000 das Gesetz zum Schutz der Kinder und auch das nationale Gesetz der Jugend schreibt in Artikel 26 die Schulpflicht bzw. das Recht auf kostenlose Bildung fest. Aber auf Nachfrage wurde erklĂ€rt, warum nicht mit Druck sondern Überzeugung gearbeitet wird. Ein alltĂ€gliches Problem ist, dass die Kinder nicht oder zu spĂ€t zur Schule kommen. Wenn dies einreißt, gehen die Lehrerinnen oder Lehrer zu den Eltern, um ĂŒber die Notwendigkeit der PĂŒnktlichkeit und der Bildung der Kinder zu reden.

Die Kinder kriegen in der Schule drei Mahlzeiten: FrĂŒhstĂŒck, Mittagessen und Lunch. Die Erziehung zu gesunder ErnĂ€hrung ist darin integriert. Es gibt keine SĂŒĂŸigkeiten, dafĂŒr viele FrĂŒchte und GemĂŒse.

Die staatliche Planung bezĂŒglich des Bildungsplans ist sehr flexibel gehalten, damit die Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht auf die individuellen BedĂŒrfnisse der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler eingehen können. Es wird aber regelmĂ€ĂŸig ein Bericht an den Staat abgegeben. Professorin Ahrez zeigte den Rahmenplan, der die GrundsĂ€tze der Schule festlegt: Frieden, Menschenrechte, Kultur, Sport und Spaß sollen vermittelt werden. Vorher war der Bildungsplan – so erzĂ€hlt sie - viel restriktiver, was meist die Kinder armer Familien ausgeschlossen hat. Weitere Themen sind Schreiben, logisches Denken, Tradition, Leben und Werk von Simon BolĂ­var. Klassenfahrten gibt es nicht, da dazu einfach die finanziellen Möglichkeiten fehlen. Aber es werden manchmal TagesausflĂŒge organisiert.

Jeden Freitag findet von 14-16 Uhr eine Reflektion der Lehrerinnen und Lehrer statt, bei der ĂŒber die Probleme der Kinder und die Planung gemeinsamer AktivitĂ€ten gesprochen wird.

Es soll nicht mit Zwang und Druck, sondern mit Freude an individueller Entfaltung gearbeitet werden, was in dieser Schule wohl auch die Praxis war. In einer Unterrichtsstunde des Lehrers Douglas Vargas Guaregua konnte die persönliche Bindung der Kinder zu ihm wahrgenommen werden. Von der 1. bis 3. Klasse ist Sitzenbleiben nicht möglich. Es wird bei Defiziten mit spezieller Förderung gearbeitet. Es gibt auch in der Regel keine Hausaufgaben, der Lernprozess wird in der Schule gemeinsam geĂŒbt.

Religion spielt eine Rolle, es gibt aber keinen Religionsunterricht. In den KlassenrÀumen hingen jedoch Wandtafeln, die zu Festen von Heiligen verfertigt wurden.

Jeden Morgen wird auch die Nationalhymne gespielt und ein Fahnengruß gemacht.

Das grĂ¶ĂŸte Problem an der Schule ist nach Angaben von Prof. Ahrez, wenn die Lehrerinnen und Lehrer nicht wirklich hinter dem bolivarischen Prozess stehen und damit auch nicht mit Engagement arbeiten. Immer noch stehen große Teile der LehrerInnen mehr oder weniger verdeckt hinter der Opposition. Verdeckt heißt, dass sie dies nicht offen Ă€ußern. Es ist aber bekannt und der Lehrer Douglas konnte auf der Liste der LehrerInnen genau sagen, wer wie zur Revolution steht. Die Regierung hat die Möglichkeit, Lehrer zu wechseln. Wie weit sie davon Gebrauch macht, ist uns allerdings unbekannt. Man kann aber wohl davon ausgehen, dass die staatliche Intervention im Bildungsbereich nicht so ausgeprĂ€gt ist. In der UniversitĂ€t Simon Rodriguez von BarquisimĂ©to erzĂ€hlte eine revolutionĂ€re Professorin, dass 80% der Profs von der Opposition seien.

Die Arbeitssituation der Lehrerinnen und Lehrer war bei den Besuchen von Bildungseinrichtungen nicht ganz ersichtlich. In der Zeitung Diario Vea vom 24. Februar 2006 stand, dass die ProfessorInnen im Durchschnitt 1.000.000 Bolivar (ca. 400 Euro) pro Monat verdienen. Das ist fĂŒr Venezuela kein schlechter Verdienst (zum Vergleich: der Mindestlohn liegt bei 460.000 Bolivar). Professor heißt aber Lehrpersonal von der Vorschule bis zur UniversitĂ€t. Insofern kann man davon ausgehen, dass die LehrerInnen der bolivarischen Schule unter diesem Satz liegen. Die ArbeitsvertrĂ€ge gelten fĂŒr ein Jahr, werden aber nach Angaben der Prof. Ahrez meistens verlĂ€ngert.

Zum Schluss des Besuchs der Schule zeigte die Bibliothekarin die Bibliothek. Wir blieben vor einer AufklĂ€rungstafel stehen und sie bestĂ€tigte die Umsetzung des Artikel 21 des nationalen Gesetzes der Jugend, das die sexuelle AufklĂ€rung als Schulpflichtprogramm festschreibt. AIDS sei in der Region ein großes Problem. Ansonsten wĂŒrde aber Gleichberechtigung bestehen.

Die bolivarische Schule versucht integrative Konzepte umzusetzen. Es wird mit anderen sozialen Missionen zusammengearbeitet. Zum Beispiel besteht regelmĂ€ĂŸiger Kontakt zu den Ärzten des Ambulatoriums des Viertels, die in der Mission Barrio Adentro arbeiten. Sie gehen mit den Kindern zu Vorsorgeuntersuchungen und machen damit auch Gesundheitserziehung.

Bis zum Jahre 2007 – so ist der staatliche Plan – sollen alle staatlichen Schulen in bolivarische, sprich Ganztagsschulen, umgewandelt werden.

Eine zweite bolivarische Schule wurde in Choroni besucht. An diesem Freitag waren die LehrerInnen gerade in einer Supervision und Nachbesprechung. Nichtsdestotrotz spielten einige Kinder in der Schule. Ein Zeichen, dass zumindest teilweise die Schule nicht nur Lern-, sondern auch Lebensort ist.

Das bolivarische Liceum

Nach der bolivarischen (Grund) Schule kommen die Jugendlichen von 12 bis 18 Jahren in das bolivarianische Liceum. Es ist das Bindeglied zwischen (Grund) Schule und UniversitĂ€t. Ziel ist zunĂ€chst, allen Jugendlichen den Zugang zum bolivarischen Liceum zu ermöglichen. Dies ist – laut Konzept - Ausdruck der sozialen und Menschenrechte. Bevorzugt werden soll die Land-, Indigena- und Grenzbevölkerung.
Insgesamt gibt es nach dem Stand 2004/2005 3.373 Einheiten und 128.364 SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, die von 6.682 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet werden.1

Technische Schulen Robinson

Desweiteren gibt es die technischen Schulen Robinson, die eine spezielle Ausrichtung auf technische, industrielle und agrarische Ausbildung haben.

Bolivarische UniversitÀt

Die Schulbildung soll unmittelbar in die bolivarischen UniversitĂ€ten ĂŒbergehen. In allen Bildungseinrichtungen soll die indigene interkulturelle bilinguale, lĂ€ndliche und Grenzerziehung eine fester Bestandteil sein.

Bildungs- Missionen

Die sozialen Missionen wurden im Jahr 2003 von Hugo ChĂĄvez Frias und der bolivarischen Regierung ins Leben gerufen mit dem Ziel, die „bolivarische Revolution“ zu festigen und eine partizipative Demokratie zu etablieren. 2003 war die Zeit der großen ökonomischen Krise Venezuelas, die durch die von der Opposition forcierten Boykotts hervorgerufen wurde.

[miossionribas_studium.jpg]Bildung soll auch als Ausdruck des Kampfes der Ideen nicht mit der UniversitĂ€tsausbildung beendet sein, sondern Lernen als Lebensbestandteil – von jung bis alt.

Mission Robinson I

Diese Mission wurde im Juni 2003 ins Leben gerufen und hat zum Ziel, den Analphabetismus zu beseitigen. Die Mission Robinson I hat sich mit UnterstĂŒtzung der kubanischen Republik an der kubanischen Methode der Alphabetisierung orientiert, was in Kuba „Yo si Puedo“ heißt. 70 kubanische PĂ€dagogen und 70.000 freiwillige Assistenten (sogenannte Facilitadoren) aus den Kommunen konnten fĂŒr die Mission Robinson I mobilisiert werden. Allein in einem Jahr wurden 1.300.000 Analphabetinnen und Analphabeten geschult und heute kann sich Venezuela als ein Land frei von Analphabetismus bezeichnen.2

Noch in den 90er Jahren waren ca. 2 Millionen Venezuelanerinnen und Venezuelaner Analphabeten. Das sind 9% der Bevölkerung ĂŒber 10 Jahre.3 Bis heute wurden 1.700.000 Menschen in der Mission Robinson I gebildet. Mit Ende des Jahres 2005 ist Venezuela ein analphabetenfreies Land.

Mission Robinson II

Die Mission Robinson II ist die zweite Phase des Bildungssprozesses und fĂŒr die Menschen, die die Alphabetisierung im Rahmen der Mission Robinson I erfolgreich abgeschlossen haben. Die bislang von der Bildung ausgeschlossenen Bevölkerungsteile erlernen mit der Mission Robinson II die grundlegende Bildung. Die Mission Robinson II wurde im November 2003 ins Leben gerufen. Die Grundbildung erfaßt Lerneinheiten von 2,5 Stunden pro Tag bei einer 5-Tage-Woche und ist auf zwei Jahre (4 Semester) angelegt.

[10]

In Barquisimeto wurde eine Klasse der Mission Robinson II besucht. Die Lehrerin Iris Dugarte und die SchĂŒlerInnen Pedro LeĂłn, Maria Nubia Rames, Julian Mendoza und JosĂ© Pezaga nahmen sich die Zeit, ihr Schulsystem zu erklĂ€ren. Die Mission Robinson II ist in 2 Blöcke zu jeweils 2 Semestern unterteilt. Es wird Sprache, Mathematik, Geschichte, Erdkunde Naturwissenschaften, Englisch und Informatik unterreichtet. Zur Anleitung werden regelmĂ€ĂŸig Videofilme gezeigt.
Der Informatik-Unterricht wird aus materiellen GrĂŒnden rein theoretisch abgehalten.

An der Schule „Unidad Educativa Varagucha“ gibt es drei Klassen mit insgesamt 47 SchĂŒlerinnen und SchĂŒler. Die Lehrerin Iris Dugarte ist durch ihre Nachbarschaft gegangen und hat alle in Frage kommenden Interessenten gefragt, ob sie sich bei der Mission Robinson II einschreiben wollen. Mit der ausgefĂŒllten Liste wurde anschließend die Schulklasse angemeldet. Mittlerweile kommen aber auch ein Großteil der Interessierten selbst zur Schule, um sich anzumelden.

Am Ende eines jeden Semesters (5 Monate) wird ein Abschlußtest geschrieben. Der Grundsatz der Mission beruht auf Freiwilligkeit. Und das scheint auch RealitĂ€t zu sein. Ob sie Probleme mit Fehlzeiten der SchĂŒlerinnen und SchĂŒler habe, wurde sie gefragt. Nein, eigentlich nicht. Wenn die SchĂŒlerinnen und SchĂŒler nicht kommen, dann liegt das immer entweder an Krankheit, Arbeit oder sonstigen Verhinderungen.

Frau Iris Dugarte erhĂ€lt fĂŒr ihre TĂ€tigkeit 125.000 Bolivar im Monat.

Bis heute haben sich ca. 1.000.000 Venezuelanerinnen und Venezuelaner bei der Mission Robinson II eingeschrieben. Ein nicht unwesentlicher Teil der Studentinnen und Studenten erhÀlt ein monatliches Stipendium von 160.000 Bolivar im Monat (umgerechnet ca. 65 Euro).4

Mission Vuelvan Caras

Mit dieser Mission, die soviel heißt wie: Gesichter kehren zurĂŒck, sollen die alphabetisierten Menschen wieder in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden.5

Mission Sucre

Um den Bildungskreis zu schließen, ist die Mission Sucre gegrĂŒndet worden. Sie ermöglicht den Zugang zur höheren Bildung fĂŒr die Menschen, die bislang hierzu keine Möglichkeiten hatten oder fĂŒr die bis heute die herkömmliche Erziehung Ungleichheit bedeutete. Die Mission wird in kommunalen GebĂ€uden veranstaltet und in Einrichtungen der UniversitĂ€t und orientiert sich auch an den Richtlinien der bolivarischen UniversitĂ€t.

Mission José Felix Ribas

Diese Mission wurde im Oktober 2003 fĂŒr die Menschen ins Leben gerufen, die ihr Abitur – aus welchen GrĂŒnden auch immer – nie beendet haben.

An einer Bushaltestelle wurde Señor JosĂ© Alfonzo Asuaje SĂĄnchez kennengelernt. Er fragte nach der Herkunft und wie man in diese touristenleere Gegend kĂ€me. Mit der Antwort, man sei KommunistIn und in Venezuela, um sich das politische Systen anzuschaun, war er ĂŒberglĂŒcklich. Er strahlte und sagte, er sei auch Kommunist und gerade auf dem Weg zur Mission Ribas. Da er ĂŒber 50 und sehr fein gekleidet war, ging man – vorurteilsbelasten – davon aus, dass er dort Lehrer sei. Erst am nĂ€chsten Tag, an dem wir uns verabredet hatten, damit man gemeinsam zur Mission Ribas gehen könnte, sagte er voller Stolz, dass er nicht Lehrer, sondern SchĂŒler sei.

Auf die Frage, warum er bei der Mission Ribas lernt, antwortete Senor Alfonso Asuaje SĂĄnchez, dass wir jetzt in Venezuela Geschichte schreiben. 500 Jahre lang war die Geschichte Venezuelas Geschichte der UnterdrĂŒckung. Heute sollen neue BĂŒrger geschaffen werden, kritische Menschen, Gebildete, denn dies sei die Hauptschwierigkeit des bolivarischen Prozesses.

Die Gewohnheiten der ganzen UnterdrĂŒckungsgeschichte inklusive Letarghie und Korruption mĂŒssen beseitigt werden. Die Gewohnheiten zeigen sich durch halbanarchistische MentalitĂ€t in der Masse der Bevölkerung aus. Die Gesetze bestĂŒnden, werden aber nicht umgesetzt. Grundlage dafĂŒr ist das Studium, die Bildung, das VerstĂ€ndnis fĂŒr die Notwendigkeit bestimmter Änderungen im Leben, auch tief sitzender Gewohnheiten. Denn die Menschen stehen in der großen Masse hinter der Revolution, sehen aber in ihren eigenen Handlungsweisen nicht, dass so der Fortschritt gehemmt wird.

Senor SĂĄnchez will daher mit gutem Vorbild vorangehen. Er will lernen, um seinen 4 Kindern und 7 Enkeln auf ihre Fragen antworten zu können. Er war Zeit seines Lebens VerkĂ€ufer, StrassenverkĂ€ufer und hat dann mit 51 Jahren im Jahr 2003 wieder angefangen zu lernen, zu studieren und ist so glĂŒcklich, denn die Bildung verbessert seine LebensqualitĂ€t.

So geht Señor SĂĄnchez mittlerweile seit 4 Jahren fĂŒnf mal die Woche fĂŒr drei Stunden in das Liceo Eleodoro Pineda in Barquisimeto. Der Stundenplan ist folgendermaßen:
Montag: Geschichte Venezuelas und Ideologie
Dienstag: Erdkunde und Naturwissenschaft
Mittwoch: Englisch und Naturwissenschaften
Donnerstag: Spanisch (Grammatik und Orthographie)
Freitag: Mathematik

In einer Unterrichtseinheit, an der teilgenommen wurde, nahmen SchĂŒlerInnen von Jugendlichen bis zu 80jĂ€hrigen Frauen teil. So sieht also die Umsetzung der Bildungspolitik aus. Die Unterrichtseinheiten sind multimedial, d.h. es wird immer ein Videofilm gezeigt, dann wird unterrichtet und Aufgaben gelöst.

Problematisch schien, dass sowohl SchĂŒlerinnen und SchĂŒler, aber auch Lehrerinnen und Lehrer sehr unpĂŒnktlich waren. Es wurde aber mit Freude gelernt. Das integrative Lernkonzept umfaßt bewußt in der Regel zwei Unterrichtseinheiten pro Tag, um mehr Abwechslung ins Lernen zu bringen.

Auch die Lehrerinnen und Lehrer erhalten nur das Stipendium in Höhe von 160.000 Bolivar pro Monat, was die Auswahl natĂŒrlich zu Idealisten der Revolution macht.

Bis jetzt gibt es zwei AbschlĂŒsse, die im Rahmen der Mission Ribas erreicht werden können. Den ersten mit dem Titel Abiturient bestanden 20.686 Menschen. Den zweiten schlossen 9.235 Venezuelaner ab. 300 AbiturientInnen studieren jetzt Medizin auf Kuba. Auf nationalem Gebiet sind 876.140 Studentinnen und Studenten bei der Mission Ribas eingeschrieben, 203.472 sind ausgeschieden, 34.679 wieder eingeschrieben und 168.793 definitiv ausgeschrieben.6

Zum Umgang mit Menschen mit Behinderungen

Die venezolanische Verfassung schĂŒtzt Menschen mit Behinderungen. In Artikel 21 Nr. 2 heißt es:
„...das Gesetz bestimmt Maßnahmen zugunsten von Personen oder Gruppen, die benachteiligt, ausgegrenzt oder schutzbedĂŒrftig werden könnten; der Schutz des Gesetzes gilt insbesondere denjenigen Personen, die sich aufgrund einer der vorgenannten Bedingungen offenkundig in einer Position der SchwĂ€che befinden. Das Gesetz Ă€chtet mißbrĂ€uchliches Verhalten ihnen gegenĂŒber und jede Mißhandlung.“7

Artikel 81 geht speziell auf die Rechte der Menschen mit Behinderungen ein:
"Jeder, der behindert ist oder entsprechende besondere BedĂŒrfnisse hat, verfĂŒgt ĂŒber das Recht auf volle und eigenstĂ€ndige Entfaltung seiner FĂ€higkeiten und auf die Integration in Familie und Gemeinschaft. Mit solidarischer Beteiligung der Familien und der Gesellschaft gewĂ€hrleistet der Staat die Achtung der MenschenwĂŒrde sowie die Chancengleichheit und zufrieden stellende Arbeitsbedingungen und fördert im Einklang mit dem Gesetz Ausbildung, Weiterbildung und den Zugang zu einer seinen Möglichkeiten angemessenen Arbeit. Taube und Stumme haben das Recht, sich vermittels der venezuelanischen Zeichensprache auszudrĂŒcken und sich durch sie zu verstĂ€ndigen.“ 8

Es ist natĂŒrlich eines, bestimmte Rechte festzuschreiben (wie das ja auch das deutsche Grundgesetz tut) und ein anderes, diese Rechte auch wirklich zu gewĂ€hren.

GrundsĂ€tzlich ist es in Venezuela so, dass Kinder mit Behinderungen nicht in Heimen leben, sondern in der Familie. In Barquisimeto wurde das wohl einzige Behindertenheim gezeigt und geschĂ€tzt, dass dort nicht mehr als 50 Menschen leben. Das liegt sicherlich einmal an den nicht vorhandenen finanziellen Möglichkeiten der Familien, dann aber auch an dem Familienzusammenhalt, der es moralisch nicht zulĂ€ĂŸt, Kranke oder Menschen mit Behinderungen woanders unterzubringen. Dies hĂ€ngt natĂŒrlich mit der ganzen Sozialstruktur zusammen, denn meist bleibt eine Mutter oder Oma zu Hause und schmeißt den Haushalt.

In Barquisimeto, Bundesstaat Lara, bestand die Möglichkeiten, eine Schule fĂŒr Kinder mit Behinderungen zu besichtigen. Sicherlich, so werdet ihr jetzt einwenden, reicht das nicht aus, den Umgang mit Menschen mit Behinderungen wirklich einzuschĂ€tzen. Nichtsdestotrotz hat es ein Bild vermittelt, was so von Deutschland nicht bekannt ist.

Das Instituto de EducaciĂłn Especial „Lara“ liegt im Zentrum von Barquisimeto und ist zur Zeit noch im Haus einer bolivarischen Schule untergebracht. ZunĂ€chst wurde ein ausfĂŒhrliches GesprĂ€ch mit dem Direktor Luis Miguel AgĂŒero und der Sub-Direktorin Ondina Artega gefĂŒhrt. Direktor Luis Miguel AgĂŒero erklĂ€rte zunĂ€chst, dass die Paradigmen des Sozialismus in der Welt sehr unterschiedlich sind. Hier in Venezuela gĂ€be es viele interne Probleme. Die Erfahrungen der Sowjetunion, der DDR und Osteuropas seien nicht die Philosophie in Venezuela. FĂŒr den bolivarischen Prozess seien diese Erfahrungen zu geschlossen und nicht freiheitlich gewesen.

Es gibt bzgl. der Schulen verschiedene Niveaus und verschiedene Modelle. Die Niveaus gehen von der Grundschule bis zur UniversitĂ€t. Die Modelle sind viererlei: religiös, kĂŒnstlerisch, militĂ€risch und speziell (fĂŒr Behinderte). Die Schulen fĂŒr Menschen mit Behinderungen wiederum haben Zweige fĂŒr Menschen mit visuellen, auditiven, kognitiven und motorischen SchwĂ€chen. Das Institut „Lara“ ist auf kognitive SchwĂ€chen spezialisiert.

[mission_ribas_4.jpg]Das GrundsĂ€tzliche im Umgang mit Kindern mit Behinderungen ist das einheitliche und integrative Schulsystem. D.h. konkret, dass Kinder, die in irgendeiner Form SchwĂ€chen im Schulunterricht aufweisen, nur fĂŒr eine begrenzte Zeit auf die spezielle Schule kommen und anschließend wieder in die „normalen“ Schulen integriert werden sollen. Hierbei natĂŒrlich mit spezieller Förderung und UnterstĂŒtzung. SpĂ€ter wurde auch ein 9 Jahre altes MĂ€dchen vorgestellt, was ein Jahr auf der speziellen Schule war und heute mit einer Betreuerin am Unterricht in der bolivarischen Schule wieder teilnimmt. Insofern sollen die speziellen Schulen nur die gröbsten Defizite ausgleichen.

Dieses Schulkonzept geht auf ein Gesetz von 1997 zurĂŒck. Durch den bolivarischen Prozess (seit 1998) haben sich nach Angaben der Sub-Direktorin Ondina Artega die Ausbildung der Lehrer wesentlich verbessert. Auch wurde die ideologische Grundlage der Erziehung von Kindern mit Behindern konkretisiert. Die Verfassung von Venezuela hat die Rechte der Menschen mit Behinderungen und vor allem generell die Rechte der Kinder und Jugend gestĂ€rkt, was auch materielle Konsequenzen hat.

Es versteht sich von selbst, dass das Institut „Lara“ kostenlos ist.

Das Institut „Lara“ ist nur noch bis einschließlich September 2006 in der bolivarischen Schule untergebracht. Anschließend wird die Schule in ein GebĂ€ude ziehen, was mitten im Zentrum von Barquisimeto liegt und was wir besichtigt haben. Der ganze GebĂ€udekomplex ist behindertengerecht gebaut und Umsetzung integrativer Planung. So soll in dem GebĂ€ude auch die Kommune RĂ€umlichkeiten haben. Es soll schon von der Örtlichkeit her einer Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen entgegnet werden.

Anschließend besuchten wir die verschiedenen Klassen der Schule. ZunĂ€chst war auffĂ€llig, dass maximal 4 Kinder in einer Klasse waren, oftmals auch nur zwei. In dieser Schule sind Kinder, bei denen der Autismus diagnostiziert wurde und Kinder mit Hörschwierigkeiten. Spezialisten wie Psychologen und auch notwendige technische Mittel wurden und werden ausgebaut.

Das Projekt der Regierung ist, in jedem Kreis eine Schule fĂŒr Kinder mit Behinderungen aufzubauen. Dies soll nach der entsprechenden Resolution aus dem Jahr 2005 in 4 bis 5 Jahren umgesetzt werden. Dann sollen die Klassen fĂŒr Kinder mit Hör- oder SehschwĂ€chen auf maximal 12 Kinder, die Klassen fĂŒr Kinder mit geistigen oder motorischen SchwĂ€chen auf 8 Kinder begrenzt sein.

Zur Religion und Kirche

Die Religion ist ein fester Bestandteil der venezolanischen Gesellschaftsordnung und des bolivarischen Prozesses. Schon in der Verfassung wird „Gottes Schutz“ angerufen9 und der Artikel 59 garantiert die Religionsfreiheit in Bekenntnis und Praxis. Auch kann nur Offizier werden, wer kirchlich verheiratet ist.10

[kirche.jpg]In der Bevölkerung ist der Glaube fest verankert. Die Tatsache, dass man AtheistIn ist, hat viele geschockt und war in der Regel nicht verstĂ€ndlich. Nach einer kommunistischen Schulung zum dialektischen Materialismus wurden einige MitschĂŒlerInnen gefragt (zum Teil auch kommunistisch organisiert), ob sie eigentlich an Gott glauben wĂŒrden. Sie meinten ja, stimmten aber auch darin ĂŒberein, dass dies eigentlich widersprĂŒchlich sei.
Die ReligiösitĂ€t wirkte aber auch oft als Lippenbekenntnis bzw. ist nicht so stark mit der Kirche verbunden. Viele GlĂ€ubige distanzierten sich von der Politik der Kirche. Auffallend war zum Beispiel, dass halb Venezuela ĂŒber die Osterfeiertage an die KĂŒste fuhr. Die sogenannte Heilige Woche (Semana Santa) war aber alles andere als heilig. Nichtsdestotrotz kann man beobachten, dass sich viele Venezuelanerinnen und Venezuelaner beim Vorbeifahren oder –gehen von GotteshĂ€usern bekreuzigen.

Die Kirche hat in der Geschichte des bolivarischen Prozesses keine rĂŒhmliche Rolle gespielt. Sie hat sich immer offen auf die Seite der Opposition gestellt. Auch wĂ€hrend der EntfĂŒhrung Hugo ChĂĄvez Frias wĂ€hrend des MilitĂ€rputsches im April 2002 reiste ein Krichenvertreter zu ChĂĄvez, um diesen zur „Verhinderung eines Blutbades“ zum Abdanken zu „ĂŒberreden“.

Auch bei der neuerlichen Maßnahme, die KirchenzuschĂŒsse um drastisch zu kĂŒrzen, sprangen die Kirchenoberen auf die Barrikaden. Nach diesen Attacken versucht die bolivarische Regierung heute aber, das VerhĂ€ltnis zur Kirche zumindest zu neutralisieren. In dem Fernsehprogram „AlĂł Presidente“ treten auch Bischöfe auf, die eingeladen wurden. Auch religiöse Feierlichkeiten werden im Rahmen des Fernsehprogramms abgehalten.

Das VerhÀltnis zur Kirche ist aber nur verdeckt freundlich. Es wissen wohl alle im Land, dass die Freundschaft eher zwanghafter Natur ist.

Beim Fest zu Ehren der Stadtpatronin Barquisimetos am 14. Januar 2006 nutzte der Kardinal Rosalio Castillo Lara die Ansprache, um politisch gegen die Regierung zu hetzten. Der GeneralsekretÀrs der Kommunistischen Partei Venezuelas, PCV, Bundesstaat Lara, José Inocencio Galíndez verfasste ein Flugblatt, indem er schrieb:
„...permanente Warnung: Ohne Zweifel auch schon vor den Provokationen und terroristischen Akten des Castillo Lara und anderen Teilen der Opposition mĂŒssen alle Fortschrittlichen und RevolutionĂ€re gewarnt und wachsam sein vor den Aktionen der venezuelanischen Opposition und ihren auslĂ€ndischen Freunden, dem CIA und dem State Department, die einzig und allein das Ziel verfolgen, die Gewaltspirale zu fördern und das Land, den bolivarianischen Prozess unter der FĂŒhrung des PrĂ€sidenten ChĂĄvez zu destabilisieren“.11

Zum Recht auf medizinische Versorgung

Das Recht auf medizinische Versorgung ist in der neuen venezolanischen Verfassung festgeschrieben. So heißt es in Artikel 83:
„Die Gesundheit stellt ein soziales Grundrecht und eine Verpflichtung des Staates dar, der dieses als Teil des Rechtes auf Leben gewĂ€hrleistet. Der Staat fördert und entwickelt politische Maßnahmen, um die LebensqualitĂ€t, das allgemeine Wohlergehen und den Zugang zu entsprechenden Dienstleistungen zu verbessern.“

Und in Artikel 84:
„Um das Recht auf Gesundheit zu garantieren, schafft der Staat ein öffentliches nationales Gesundheitssystem und betreibt dieses unter staatlicher Leistung. Es hat bereichsĂŒbergreifenden, dezentralisierten und partizipativen Charakter und ist integriert in das System der sozialen Sicherheit.“

Und in Artikel 85:
„Es ist Pflicht des Staates, das nationale öffentliche Gesundheitssystem zu finanzieren.“

In Umsetzung dieser VerfassungsgrundsĂ€tze wurde die Mission Barrio Adentro gegrĂŒndet. Barrio Adentro heißt soviel wie „Hinein ins (Armen)Viertel“. Es ist ein Programm der venezolanischen Regierung, das eine medizinische Grundversorgung aller Menschen – zunĂ€chst vor allem in den Barrios (Armenvierteln) gewĂ€hrleisten soll.

Die unterste Ebene bilden knapp 15.000 Ärzte, die in den Armenvierteln in sogenannten Gesundheitsstationen eine medizinische Grundversorgung bieten. Kompliziertere FĂ€lle werden von den StadtteilĂ€rzten an die neuen Volkskliniken ĂŒberwiesen, noch aufwendigere Behandlungen an die Polikliniken. Auch die Nachbehandlung wird wieder in den Armenvierteln ĂŒbernommen.

Im Bundesstaat Lara wurden verschiedene Gesundheitsstationen besucht. Sie sind erkennbar durch die gleiche Bauart und gleiche okkerfarbene Wandfarbe der GebÀude.

Die Untersuchungszentren, die die Grundversorgung gewĂ€hrleisten, sind flĂ€chendeckend in Lara schon aufgebaut worden. So bestehen zum Beispiel im Viertel Simon BolĂ­var der Stadt Carora im Kreis Torres 24 Untersuchungszentren. Sie sind die Anlaufstelle in der Nachbarschaft und haben einen allgemeinen und einen zahnĂ€rztlichen Untersuchungsraum. An den WĂ€nden sind viele selbstgemalte und –gebastelte AufklĂ€rungstafeln.

Die Untersuchungszentren haben wochentags von 8-12 Uhr geöffnet und werden von 2-3 ÄrztInnen betreut. Jeden Tag werden ca. 40 PatientInnen behandelt.

In demselben Viertel Simon Bolivar sind zudem 5 diagnostische Zentren. Diese sind weit grĂ¶ĂŸer und fĂŒr ganze Distrikte.

Das von der Regierung finanzierte Programm ist allerdings auf die UnterstĂŒtzung durch die Gemeindezentren vor Ort angewiesen, die von den lokalen Behörden und Freiwilligen organisiert werden. Sie planen den Einsatz der Ärzte und bringen das neue Angebot der Bevölkerung nahe.

Um die Mission Barrio Adentro werden also Gesundheitskomitees gebildet. Mit 4 Angestellten des Koordinationszentrums der Stiftung Barrio Adentro in Barquisimeto, die fĂŒr Organisation und Verwaltung der Mission im Bundesstaat Lara zustĂ€ndig ist, wurden mehrere Tage viele Zentren und KrankenhĂ€user besucht. Es ging darum, die Zusammenarbeit der einzelnen Gesundheitskomitees zu verbessern bzw. zum Teil auch erst die Kontakte zu knĂŒpfen. Wir fuhren also zu den BĂŒrgermeistern der KreisstĂ€dte und dort wurde – wenn möglich – die Instruktion weitergegeben, dass alle Mitglieder der Gesundheitskomitees sich in spezielle Computerlisten eintragen sollten. In den meisten FĂ€llen erwies sich das als unmöglich, da im Rathaus selbst keine Information darĂŒber bestand. Es zeigte sich aber auch in einem Fall, dass der BĂŒrgermeister eigentlich kein nennenswertes Interesse an Hilfe hatte. In Diskussionen mit den VertreterInnen der Stiftung sagten sie ganz offen, dass es viele Menschen in Funktionen gĂ€be, die zwar nach außen hin den Prozess unterstĂŒtzen wĂŒrden, sich in der Praxis aber letztlich verweigern.

So sind wir also weiter zu den KrankenhĂ€usern gefahren. Dort mußten die Angestellten in die Bearbeitung der Computerliste eingefĂŒhrt werden. ZunĂ€chst war aus „deutscher Sicht“ unverstĂ€ndlich, dass man diese Datei nicht einfach per email verschickt und die Anweisung gibt, die Listen in die Gesundheitskomitees zu geben, anstelle tagelang durch das ganze Bundesland zu fahren, um jeden einzelnen Verantwortlichen ausfindig zu machen (denn die Namen der Verantwortlichen waren nicht bekannt, sondern mußten förmlich gesucht werden) und jedem einzelnen die Anwendung des Word-Dokuments zu erklĂ€ren.

Es wurde aber einleuchtend erklĂ€rt, dass das Verfahren ĂŒber email dazu fĂŒhren wĂŒrde, dass die Anfrage gar nicht oder nur sehr spĂ€t behandelt werden wĂŒrde. Außerdem – und das ist der wichtigste Punkt – geht es bei dem bolivarischen Prozess nicht darum, neue BefehlsempfĂ€nger zu schaffen, sondern mit Überzeugung an einem gemeinsamen Projekt zu arbeiten. Die Mitarbeiter der Gesundheitskomitees arbeiten ehrenamtlich und zu einer Sitzung mit dem Komitee in Barquisimeto (ebenfalls, um die Liste auszufĂŒllen) waren alle TeilnehmerInnen zum Teil mit Kind und Kegel erschienen.
Es geht also gerade nicht darum, Fortschritte ĂŒbers Bein zu brechen, sondern um nachhaltige Entwicklungen, die Mitverantwortlichkeit schaffen.

Beim Projekt "Barrio Adentro" arbeiten vor allem kubanische ÄrztInnen, die sich bereit erklĂ€rt haben, fĂŒr eine gewisse Zeit in den Armenvierteln zu leben und die Menschen zu behandeln.

Mit Stand vom 30. April 2005 gab es in Venezuela bereits 20.650 kubanische und 6.032 venezolanische Ärztinnen und Ärzte.12

Im Jahr 2004 kamen auf 250 Familien eine Ärztin oder ein Arzt bzw. auf 1200 EinwohnerInnen.13
NatĂŒrlich kann damit fĂŒr ein 25 Millionen Land kein Ende des Aufbaus der Gesundheitsversorgung sein. Die Mission Barrio Adentro wurde jedoch im Jahr 2003 ins Leben gerufen, um die Gesundheit zum Gut aller und nicht nur der Privilegierten zu machen. Insofern ist es auch nur folgerichtig, dass die Mission sich bislang auf die Armenviertel konzentriert und in allen Barrios, die wir besucht haben – sei es in Lara, in Caracas, in Sucre oder in Falcon – sind die okkerfarbenen Barrio Adentro GebĂ€ude ein Blickfang.

Die Gesundheitsversorgung ist in Umsetzung der Verfassung kostenlos. Auch die Medikamente werden kostenlos ausgegeben. Selbst TouristInnen können kostenlos Medikamente und Spritzen erhalten. Damit ist die Gesundheit kein Luxusgut mehr, sondern ein Menschenrecht.

Nach wie vor gibt es natĂŒrlich viele private Ärzte und KrankenhĂ€user. Bei der Vorsorge im AuswĂ€rtigen Amt wurde auch explizit vor den staatlichen Gesundheitsstellen gewarnt, was in der Praxis in keiner Weise bestĂ€tigen werden kann.

Die venezolanische Opposition kritisiert an der Mission Barrio Adentro, dass nicht VenezuelanerInnen als Ärzte arbeiten, sondern KubanerInnen, denen dafĂŒr das Öl „geschenkt“ werde. Die Argumente der RevolutionĂ€rInnen ist, dass sich die venezolanischen Ärzte alter Zeit immer geweigert haben, die Menschen in den Armenvierteln zu versorgen – und vor allem fĂŒr das Geld zu versorgen.

Mit Genehmigung des BĂŒrgermeisters von Carora wurde die Erlaubnis erteilt, mit kubanischen ÄrztInnen zu sprechen und auch ihre Lebenssituation zu sehen (was eigentlich aufgrund kubanischer Anti-Spionage-Richtlinien verboten ist). Die KubanerInnen arbeiten und leben in den Armenvierteln. Sie wohnen zum Teil in Familien, die ihnen Unterkunft geben oder im Hinterraum des Untersuchungszentrums. Es wurde auch angefangen, an die KrankenhĂ€user oder diagnostischen Zentren angegliederte Wohnkomplexe zu bauen, aber ohne Zweifel entspricht die Lebenssituation nicht dem privilegierten Statut der Ärzteschaft in klassisch kapitalistischen LĂ€ndern. Sie sind Teil der Gemeinschaft und – was man mitbekommen hat – von den NachbarInnen sehr geachtet.

Ihre VertrĂ€ge gehen immer auf 2 Jahre, dann kehren sie zu Frau und Familie in Cuba zurĂŒck.

Die Mission Barrio Adentro ist auf 10 Jahre angelegt. Bis dahin wird versucht, Venezuela mit eigenen, neuen Ärzten zu versorgen.

Zur Arbeit sozialer Organisationen

Die Grundlage einer jeden Gesellschaftsordnung ist die Bewegung von unten. Insofern war auch das vornehmliche Interesse nicht, die Regierungspolitik zu beobachten, sondern das politische Klima und Bewußtsein der Menschen wie Du und ich zu sehen.
Das politische Klima ist aufgrund der Polarisierung der Bevölkerung in Opposition und RevolutionÀre sehr hoch.

Es gibt aber auch jede Menge politische und soziale Organisationen, die die Menschen mobilisieren.

Die sicherlich bedeutendsten von ihnen sind die sozialen Organisationen. Es wurde der Eindruck gewonnen, dass diese – auch wenn verbal unpolitisch – ganz und gar nicht positionslos sind. Insofern sind sie im Rahmen der politischen Organisierung der Venezuelanerinnen und Venezuelaner von ĂŒberragender Bedeutung.

Soziale Missionen

Da sind einmal die sozialen Missionen zu nennen. Man darf sich die Missionen nicht einfach als Arztpraxen oder Schulklassen vorstellen. Es sind Bindeglieder der Organisierung. Es ist nicht einfach nur Bildung und medizinische Versorgung fĂŒr Arme, sondern ein ganz neues System der gesellschaftlichen Struktur, die grundsĂ€tzlich auf Partizipation ihrer NutzerInnen und TeilnehmerInnen setzt.

Wie im Rahmen der Mision Barrio Adentro beschrieben, werden um die diagnostischen und Untersuchungszentren Gesundheitskomitees gebildet, die die Nachbarschaft bzgl. der Gesundheitsbelange auf freiwilliger und ehrenamtlicher Grundlage organisiert.

Auch die Bildungsmissionen sind nicht nur Schulunterricht. Einmal werden die GrundsĂ€tze des bolivarischen Prozesses vermittelt und diskutiert. Und es ist auch der Ort weitergehender Zusammenarbeit. In der Stadt Barquisimeto zum Beispiel wurde die Kooperative San Isidro 133 RL besucht. Die EigentĂŒmer der BĂ€ckerei-Kooperative Raiza Azuaje (PrĂ€sidentin), Tomas Arrozo (Schatzmeister), Rosa Mendoza (unterstĂŒztende Schatzmeisterin), Carmen Vasques, JosĂ© Peraza und vierzehn weitere, wovon insgesamt 14 aktiv mitarbeiten, haben sich im Rahmen der Mission Ribas kennengelernt. In unterstĂŒtzenden Verwaltungskursen haben sie Buchhaltung etc. gelernt und sich dann schließlich selbstĂ€ndig gemacht.

StudentInnenorganisationen

An der nationalen experimentellen UniversitÀt Simón Rodríguez der Stadt Barquisimeto bestand Kontakt zu zwei StudentInnenorganisationen. Beide Gruppen verstanden sich als soziale Organisationen, aber auch diese waren politisch.

Das „movimiento por la Dignidad Estudiantil“ (Bewegung fĂŒr studentische WĂŒrde) hat bei den letzten StudentInnenwahlen die Mehrheit bekommen und versteht sich als bolivarisch und revolutionĂ€r.

Als Aufgabe beschrieb der MitbegrĂŒnder der Organisation und PrĂ€sident des „Centro de Estudiantes“ (Studentenzentrum) von 2003-2005, Marco Gutierrez:
„Unsere Bewegung wurde Ende 2003 gegrĂŒndet, mit Abschluß des Kampfes fĂŒr die Verteidigung der UniversitĂ€tsstudenten, die durch das Studentenzentrum, das in den HĂ€nden der Rechten war, vielen Ungerechtigkeiten politischer, akademischer und sozialer Natur ausgesetzt waren.
Wir schreiben uns die bolivarische Revolution auf unsere Fahnen, die fĂŒr die wirkliche partizipative und protagonische Demokratie steht.
Im Moment bereiten wir uns auf die nĂ€chsten Wahlen des Studentenzentrums fĂŒr die Periode 2006-2008 vor, die in einem Monat stattfinden. Wir haben Zuversicht und genießen Vertrauen von unseren Kommilitonen, das sich hoffentlich in den WahlgĂ€ngen widerspiegeln wird
.“ 14

Die AktivistInnen haben die Anfahrt und DurchfĂŒhrung des marcha nacional am 4. Februar organisiert und arbeiten auch mit vielfĂ€ltigen Missionen zusammen, verstehen sich als Basisbewegung der Revolution mit sozialer Ausrichtung auf die Belange der StudentInnen.

Von dem Movimiento por la Dignidad Estudiantil hat sich vor 2 Jahren das studentische Kollektiv SimĂłn RodrĂ­guez abgespalten. Im Rahmen eines vermeintlichen Korruptionsfalls nahmen die politischen Auseinandersetzungen der beiden StudentInnengruppen sogar aggressive Ausmaße an (Plakate der widerstreitenden Gruppen wurden heruntergerissen, es wurde sich angeschrien), obwohl beide Gruppen von sich behaupten, selbst RevolutionĂ€re zu sein.
Fakt ist auf jeden Fall, dass die sozialen Studentenorganisationen die Politik in die UniversitÀt tragen.

Bolivarianische Zirkel

Am 11. August 2001 entstanden die bolivarianischen Zirkel. Ihre Aufgabe ist es, die Tranformation der Gesellschaft in politischen Einheiten von 7-14 Personen in allen gesellschaftlichen Bereichen zu diskutieren und voranzubringen. Sie sind mittlerweile ĂŒber das ganze Land verteilt.

In Barquisimeto wurde ein bolivarianischer Zirkel besucht. Auf dem Treffen organisierten sie eine Protestveranstaltung wegen VerlÀumdungen von Seiten einer Oppositionellen im Viertel.

Zur Mission Kultur

[bildungssystem.jpg]Ein weiterer politischer Massenhebel ist die Mission Kultur. Sie setzt sich nationale IdentitĂ€tsstiftung zum Prinzip und fußt auf Artikel 99 der Verfassung, der besagt:

„Die Kulturwerte stellen ein unverzichtbares Gut des venezolanischen Volkes und ein grundlegendes Rechtsgut dar, das der Staat fördert und garantiert, indem er dafĂŒr Sorge trĂ€gt, dass die erforderlichen Rahmenbedingungen, gesetzlichen Instrumente und Haushaltsmittel gewĂ€hrleistet sind.“

Auch die Mission Kultur soll einen partizipativen Charakter tragen.15 Ziel der Mission ist die höhere Bildung, die sozialpolitische und sozialkommunale Entwicklung, die durch die Kultur entwickelt werden soll. Grundlage der Mission ist eine Vereinbarung mit der UniversitÀt Simón Rodríguez vom Oktober 2004 durch den nationalen Kulturrat (Conac).16

Die Mission Kultur unterstĂŒtzt und initiiert viele kulturelle Projekte und Nachwuchsförderung. Ein Bereich ist die Entwicklung des Karnevals, die mehr traditionelle und nationale Musik fördern soll. Beim Karneval in Barquisimeto wurde davon aber nicht viel deutlich, aber im GesprĂ€ch mit den BesucherInnen dort wurde erzĂ€hlt, dass der Karneval frĂŒher in Barquisimeto gar nicht stattfand und erst seit 6 Jahren besteht und heute weit kultureller sei als die letzten Jahre.

Beeindruckender waren sicherlich die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der venezolanischen Flagge am 12.3.2006. Am Abend vorher fand in Mérida auf dem Plaza Bolivar ein Konzert statt, auf dem verschiedene venezolanische Gruppen auftraten.

Ein anderes Projekt unterstĂŒtzt von der Mission Kultur waren die Feierlichkeiten zum Gedenken an den vor 21 Jahren verstorbenen revolutionĂ€ren SĂ€nger Ali Primera. In Barquisimeto fand am Vormittag eine von der Kommunistischen Partei Venezuelas initiierte Kundgebung auf dem Plaza Bolivar statt. Am Schluss wurde die Internationale gesungen. Anschließend fand eine Veranstaltung in einem kommunalen GebĂ€ude statt, bei der Auszeichnungen fĂŒr kulturelle und soziale AktivitĂ€t vergeben wurde.
Am Abend fand ein Konzert vor dem Museum Ali Primera statt, auf der viele meist junge Musikgruppen – selbstverstĂ€ndlich umsonst – auftraten.

In Caracas wurden Menschen der Mission Kultur getroffen, die derzeit ein Freiluftkino in den Armenvierteln aufbauen wollen, in denen anspruchsvolle und internationale wie nationale Filme gezeigt werden sollen.

In Coro, im Bundesstaat Falcon, ist das Kino auf der Straße – was selbstverstĂ€ndlich auch gratis ist – schon verwirklicht. Dort wurde z.B. ein Film ĂŒber Leben und Wirken von Ali Primera gezeigt.

Die Mission Cultura wird nicht als Projekt von neuen FunktionĂ€ren begriffen, die meinen, der Bevölkerung Kultur vermitteln zu mĂŒssen, sondern als Projekt der Vernetzung, in denen die KĂŒnstlerInnen, Akteure und OrganisatorInnen im kĂŒnstlerischen Bereich zusammenarbeiten und mehr Möglichkeiten fĂŒr die Umsetzung kĂŒnstlerischer Projekte haben.

Weitere wichtige Aufgabe ist natĂŒrlich, Kultur allen Menschen zugĂ€nglich zu machen. So sind heute alle staatlichen Museen und Parks kostenlos zugĂ€nglich.

Zu den kommunalen Radios

Ein weiter wichtiger Bereich der Bewegung von unten sind die sogenannten kommunalen Radios. Solche Radiostationen wurden in Barquisimeto, Cabudare und Caracas (barrio 23 enero) besucht. Es sind nachbarschaftliche Projekte, bei denen sich Menschen eines Viertels zusammenschließen, um ehrenamtlich Kultur und Politik ĂŒber einen Radiokanal ins Viertel zu bringen.
[radio_comunitcries1.jpg]Ein/e VertreterIn des RO war zum 8. MĂ€rz 2006 – zum Internationalen Frauenkampftag – bei radio CABUDARI zu einem Interview mit FrauenrechtlerInnen eingeladen. Ebenso wurde beim radio 23 in Caracas ein Interview ĂŒber die EinschĂ€tzung des bolivarischen Prozesses gemacht und gesendet. Dabei wurde von den Radiosendern insgesamt einen sehr positiver Eindruck gewonnen.

Mit zum Teil sehr einfachen Mitteln werden Radiosendungen kollektiv vorbereitet und vorgetragen. Der Radiosender radio 23 in Caracas war bei dem ersten Besuch noch in einer Privatwohnung untergebracht. Beim 2. Besuch war ein kommunales GebĂ€ude bzw. ein Raum einem solchen bereitgestellt worden. Ebenso war das radio CABUDARI im Wohnzimmer eines Radiomoderatoren untergebracht. Dieses hatte allerdings die Technikanlage von der Gemeinde gestellt bekommen. Bei den Radios arbeiten alle ehrenamtlich und die Programme sind vielfĂ€ltig und offen. Das radio 23 legt zum Beispiel einen wichtigen Schwerpunkt auf die Übertragung von Salsa anstelle des zur Zeit sehr populĂ€ren Reggaeton. Beim Radio CABUDARI war die Kindersendung sehr beeindruckend. Drei Kinder im Alter von 8-12 Jahren gestalten wöchentlich eine zweistĂŒndige Radiosendung alleine. Die 12jĂ€hrige Maria arbeitet sogar tĂ€glich im radio CABUDARI, weil sie die Technikverantwortliche ist. Eine Aktivistin vom Radio erzĂ€hlte, dass Maria zum Radio eine Stunde Fußweg auf sich nimmt, dabei durch einen Fluß waten und durch ein gefĂ€hrliches Viertel gehen muss.

Die Radios bieten die Möglichkeit der praktischen Schulung zur Heranbildung kritischer und aktiver Geister in Venezuela.

Zum marcha nacional

Das AuswÀrtige Amt warnt: meiden sie politische Demonstrationen in Venezuela.
Kurz nach der Ankunft in Venezuela, fand in Caracas eine riesige Demonstration zum Anlaß der 7jĂ€hrigen PrĂ€sidentschaft von Hugo ChĂĄvez FrĂ­as und den 1992 von ChĂĄvez mitinitiierten Umsturzversuch statt. Es war ein unglaubliches Erlebnis. Um 7 Uhr trafen wir uns mit FreundInnen aus Barquisimeto der UniversitĂ€t Simon Rodriguez etwas außerhalb von Caracas in Santa FĂ©. Dies war der Treffpunkt sĂ€mtlicher FakultĂ€ten der UniversitĂ€t Simon Rodriguez. Über Stunden sammelten sich die StudentInnen der verschiedenen UniversitĂ€ten der Simon Rodriguez. An alle wurden T-Shirt und Kopftuch mit dem Logo der UniversitĂ€t verteilt. Es wurde gesungen und getanzt, Parolen gerufen und sich allgemein eingestellt auf den nationalen Marsch.

Von der UniversitĂ€t Barquisimeto wurde ein Treffen einberufen. Uns wurde mitgeteilt, dass ein geschlossenes Auftreten gerade dieser UniversitĂ€t sehr wichtig sei, da die Vice-PrĂ€sidentin von der Opposition und gegen den revolutionĂ€ren PrĂ€sidenten hetzen wĂŒrde. Es wurden FlugblĂ€tter zu diesem Thema verteilt und auch auf der Demonstration wurden FlugblĂ€tter, die die Vice-PrĂ€sidentin unterstĂŒtzten, von einer BrĂŒcke in unseren Zug geworfen.

Irgendwann zogen wir los und unser Zug (es war ein Sternmarsch) ging durch das Reichenviertel Altamira. Die Anfeindungen der BewohnerInnen waren zu spĂŒren, wir waren aber so viele! „ChĂĄvez los tiene locos“, ChĂĄvez macht sie verrĂŒckt, war eines der Mottos, das immer wieder gerufen wurde.

FĂŒr „deutsche“ Demonstrations-Gewohnheiten glich der Marcha eher einer Parade als einer Demonstration, denn permanent war laute Musik, verkleidete Menschen auf MotorrĂ€dern, Stelzen oder zu Fuß und einfach nur Massen zu sehen. Die absolute Mehrzahl war in organisierten ZĂŒgen (wie unserer der UniversitĂ€t) auch sichtlich erkennbar. Am Abschlußplatz hielt ChĂĄvez eine Rede. Die Aufmerksamkeit zumindest der DemonstrantInnen war zumindest vorne groß und die Äußerungen ChĂĄvez wurden kommentiert.

Es war eine Aufbruchstimmung, die auf der ganzen Reise erlebt wurden. Das GefĂŒhl der großen Mehrheit der Menschen, nun die Geschichte in den eigenen HĂ€nden zu halten. Das GefĂŒhl, einen PrĂ€sidenten zu haben, der ihr PrĂ€sident ist, der in ihrer Sprache spricht und sich um ihre Belange kĂŒmmert.

Auf dem marcha nacional waren ĂŒber vier Millionen DemonstrantInnen.

Zu Demonstrationen der Opposition

Die Demonstrationen der Opposition, die besucht wurden (es waren nur zwei), hatten einen anderen Charakter. Im Februar fand eine Kundgebung von ArbeiterInnen, die vor dem Palast Miraflores fĂŒr bessere Arbeitsbedingungen demonstrierten, statt. Auf Nachfrage der Forderungen sagten die ersten beiden, die angesprochen wurden, da könne man nicht weiterhelfen, bis schließlich ein Demonstrant erlĂ€uterte, dass man mit der ökonomischen Situation im Land nicht zufrieden sei. Ein Teil der Demonstranten lag auf dem Boden in der Sonne und von außen betrachtet war keine kĂ€mpferische Stimmung, sondern eher Lethargie zu erkennen.

Weitaus heftiger waren die Demonstrationen im April, nachdem die 3 BrĂŒder Faddoul und ihr Chauffeur, die wohl von einer islamischen Gruppe entfĂŒhrt worden waren, tot aufgefunden wurden. In der ganzen Stadt sammelten sich Menschen, die gegen Gewalt demonstrierten. Zu Beginn waren – nach eigener EinschĂ€tzung – aus der breiten Bevölkerung und aus allen politischen Lagern Menschen auf der Demonstration. Relativ willkĂŒrlich wurde zu einer Demonstration gegangen, um herauszubekommen, welchen Charakter sie habe. Dabei wurde von den Demonstranten in Altamira gesagt, man sei unpolitisch, weder mit noch gegen die Regierung, sondern einfach gegen die KriminalitĂ€t und Gewalt im Land.

Auf einer Demonstration, die von der zentralen UniversitĂ€t Caracas, UCV, ausging, wurde dann ein Fotograf erschossen. Sein letztes Foto war das des auf einem Motorrad wegfahrenden „Polizisten“. SpĂ€ter stellte sich heraus, dass der Mörder frĂŒher Polizist gewesen war, wegen Gewaltexzessen jedoch aus der Polizei geschmissen wurde.

Dieser Vorfall heizte die Stimmung noch an. Die Demonstrationen wurden – nach eigener EinschĂ€tzung - mehr und mehr von der Opposition zu ihren Zwecken instrumentalisiert. In der bĂŒrgerlichen Presse waren die Schlagzeilen voll mit KriminalitĂ€tsstatistiken und der Regierung wurde vorgeworfen, fĂŒr die Morde irgendwie mit verantwortlich zu sein.

Bei diesen Demonstrationen war ein weit gefĂ€hrlicheres Klima, als bei dem marcha nacional. Es war von außen auch so schwierig, die politische Lage einzuschĂ€tzen, da die Menschen, die von der Opposition sind, auf Nachfrage meist behaupteten, sich entweder gar nicht fĂŒr Politik zu interessieren oder zumindest nicht von der Opposition zu sein.

Fakt ist auf jeden Fall, dass man die Demonstrationen in Venezuela nicht mit denen in Deutschland vergleichen kann. Das hohe politische Klima hat natĂŒrlich auch seine Auswirkung auf die Abhaltung der Demonstrationen und insgesamt sind diese allgemein-gesellschaftliches Thema und es wird auch unter NichtdemonstrantInnen darĂŒber diskutiert. Wiederholt wurde vor der Beteiligung an den Demonstrationen gewarnt.

Außerdem spielt die bĂŒrgerliche Presse eine sehr aktive Rolle bei der Politik, die auch Ausdruck in den Demonstrationen findet.

Zum Recht auf ErnÀhrung: die Mercals

[mercals.jpg]Als Konsequenz aus dem von der Opposition initiierten Boykott 2002/03 wurde das Programm Mercal ins Leben gerufen. Eine Frau in Choroni erzĂ€hlte nach wie vor betroffen von den ErnĂ€hrungsengpĂ€ssen in der Zeit des Streiks. Die Opposition wollte die Bevölkerung durch Hunger erpressen. Daraufhin wurde am 24. April die Mission Mercal ins Leben gerufen, die sich zum Ziel gesetzt hat, gesunde, billige ErnĂ€hrung vor allem den notdĂŒrftigsten Bevölkerungskreisen zugĂ€nglich zu machen.17

So sieht man heute ĂŒberall im Land – vor allem aber in den Armenviertel – Mercal-SupermĂ€rkte bzw. LĂ€den, die auch Mercal-Produkte anbieten (sogenannte Mercalitos, kleine Mercals). Mit den Mercals werden auch die Kooperativen unterstĂŒtzt, denn der Staat kauft ihnen die Lebensmittel garantiert ab.

Mit Stand vom Dezember 2004 verkauften die Mercals tĂ€glich 4.000 Tonnen Lebensmittel in mehr als 11.000 Verkaufsorten. Die Preise der Lebensmittel liegen im Durchschnitt 23% unter den ortsĂŒblichen Preisen und 40% unter denen in SupermĂ€rkten. 10 Millionen Venezuelanerinnen und Venezuelaner kaufen bei den Mercals ein.18

Die Opposition mobilisiert gegen die Mercals. Oft wurde aus diesen Kreisen geĂ€ußert, dass die Lebensmittel der Mercals schlecht sein. Auf Nachfrage stellte sich jedoch meist heraus, dass die betreffenden Personen nie in einem Mercal gewesen waren. In vielen Restaurants und Imbissen wurden Produkte der Mercals gesehen.
Auf fast jedem Mercal-Produkt ist ein Artikel der neuen venezolanischen Verfassung abgedruckt, um die GrundsÀtze der bolivarischen Gesellschaftsordnung populÀr zu machen.

Jede/r kann in einem Mercal einkaufen. In einem Mercal – Supermarkt in Barquisimeto sah man jeden Morgen schon Schlangen stehen. Gegen Mittag war meist kein Fleisch mehr zu haben. Die Organisation der Mercals erschien strikt. Brav wurde sich vor dem Mercal angestellt und nur reglementiert konnte der Laden betreten werden. Es gab eine extra Schlange fĂŒr alte und kranke Menschen, die bevorzugt hereingelassen wurden. Der Supermarkt hat ein breites Angebot, auch wenn die Konzeption der Mercals sagt, es geht um die Grundversorgung. Es gibt Schampoo, Seife, Creme etc., Obst, GemĂŒse, Fleisch, KĂ€se, Milch, Kekse und vieles mehr. Artikel wie Alkohol und Zigaretten (die man auch sonst nicht in SupermĂ€rkten bekommt), werden natĂŒrlich auch nicht in den Mercals verkauft.

Die meisten StraßenverkĂ€ufer und Imbisse/Restaurants kaufen auch in den Mercals ein. Eine BeschrĂ€nkung der EinkaufsgĂŒter gibt es nicht. Beim Verlassen der großen Mercal-SupermĂ€rkte werden die Taschen kontrolliert.

Im Jahr 2005 wurden bereits 60% der Bevölkerung ĂŒber die Mercals versorgt.19

Anmerkungen:
1
vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
2 vgl. Las misiones bolivarianas, ColecciĂłn Temas de Hoy, Ministerio de ComunicaciĂłn e InformaciĂłn, Januar 2006, S. 24
3 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
4 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
5 vgl. Ingo Niebel, Venezuela not for sale, Kai Homilius Verlag, 2006, S. 130
6 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
7 Verfassung der bolivarischen Republik Venezuela vom 24. MĂ€rz 2000
8 ebd.
9 ebd
10 vgl. Ingo Niebel, Venezuela not for sale, Kai Homilius Verlag, 2006, S. 259
11 (Übersetzung RO)
12 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
13 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
14 (Interview mit Marco Gutierrez vom 11. Mai 2006)
15 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
16 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
17 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
18 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
19 vgl. Link ...jetzt anmelden! Link ...jetzt anmelden!' target='blank
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Organisation "Roter Oktober Link ...jetzt anmelden!' target='blank".

Dieser politische Reisebericht ĂŒber Venezuela erscheint in acht Teilen im viertĂ€gigen Rythmus. Teil VI wird am 21.11.2006 auf Link ...jetzt anmelden! veröffentlicht.
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NEUER BEITRAG20.11.2006, 14:36 Uhr
Nutzer / in
Jaimee
Jaimee
Aspekte der demokratischen Revolution ...außerordentlich spannend, was sich da so tut! Insb. breite Bildungskampagnen haben Revolutionen und sozialen Entwickjlungen immer ihre StabilitĂ€t gegeben (Beispiel Cuba).
Etwas bedenklich finde ich aber die starke (und offenbar auch geduldete) Stelle des katholischen Klerus, der sich mehr als genĂŒgend als trojanisches Pferd erwiesen hat, wenn es fĂŒr die Bourgeoisie brenzlig wurde.
Gibt es irgendwelche antiklerikalen AufklÀrungskampagnen, oder atheistische Propaganda?
NEUER BEITRAG21.11.2006, 08:56 Uhr
Nutzer / in
klemens

Aspekte der demokratischen Revolution Ich weiß nicht ob es diese gibt.
Aber ich weiß, dass die katholische Kirche in Ganz Lateinamerika einen sehr starken Einfluß hat. Wobei die Ausrichtung zwar prinzipiell natĂŒrlich eher Papsttreu ist - wobei es da auch deutliche Schattierungen gibt.
Insbes. in den 60ern u. 70ern waren viele vor allem einfache Pfarrer nicht gewillt sich jedem Blödsinn aus Rom zu beugen und standen oftmals den Herrschenden gegenĂŒber und machten sich dementsprechend unbeliebt bei Staat und Papst. Es gibt heutzutage ganz unterschiedliche Richtungen der Kirche in Lateinamerika - von Nationalistisch-Herrschaftsverbunden bis zu den Befreiungstheologen.

Die Kirche frontal anzugreifen halte ich deshalb fĂŒr keine gute Idee, wenn die Leute gebildet genug sind geht ihr Einfluß mit der Zeit fast von selber zurĂŒck. Bzw. es werden die fortschrittlicheren KrĂ€fte (z..b. Bischof Erwin KrĂ€utler) gestĂ€rkt.

Im ĂŒbrigen sei noch erwĂ€hnt hat auch - wie ĂŒberall zu hören war - auch die katholische Kirche Kubas offen dazu aufgerufen fĂŒr die Gesundheit Fidel Castros zu beten, und eine mögliche Invasion aufs scharf zurĂŒckgewiesen.

Ich denke das sind einfach bis zu einem gewissen Grad andere VerhÀltnisse dort als hier bei uns in W-Europa.
NEUER BEITRAG21.11.2006, 13:54 Uhr
Nutzer / in
Maja
Maja
Aspekte der demokratischen Revolution Die Rolle der katholischen Kirche ist sicherlich eines der "Problemkinder" des bolivarischen Prozesses, wie auch FĂŒrnthratt-Kloep in seiner Neuveröffentlichung "Venezuela-Der Weg einer Revolution" beschreibt. Danach genießt die katholische Kirche bei 79% der Bevölkerung großes Vertrauen. FĂŒrntratt-Kloep spricht ChĂĄvez selbst ReligiösitĂ€t zu, wobei mein Eindruck eher ist, dass das ein ZugestĂ€ndnis an den Bewußtseinsstand der Bevölkerung ist. Ich teile die Ansicht des Vorkommentators, der auf die Befreiungstheologie in Lateinamerika verweist, und auf diese KrĂ€fte versucht sich ChĂĄvez auch zu beziehen, nachdem zweifelsohne die hohen Vertreter der katholischen Kirche in Venezuela auf Seiten der Opposition stehen. In der Bevölkerung wird nach meinem Eindruck aber auch der Unterschied zwischen den Oberen und der "Institution als solche" gemacht, eine tiefe Religionskritik bedarf sicherlich noch seiner Zeit.

Die Frage ist trotzdem, inwieweit revolutionĂ€re KrĂ€fte nicht die Pflicht hĂ€tten, diese Front stĂ€rker in den Mittelpunkt zu rĂŒcken. ChĂĄvez selbst hat dies nach seinem Amtsantritt 1998 wohl auch stĂ€rker gemacht als heute, und dies zurĂŒckgefahren, nachdem er auch von der Basis diesbezĂŒglich starke Kritik bekommen hat. Heute lĂ€dt er bei seinem sonntĂ€glichen Fernsehprogramm AlĂł Presidente durchaus Kirchenvertreter ein (die aber nicht - zumindest nicht offen - auf der Seite der Opposition steht) und feiert mit ihnen religiöse Feste
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