DE
       
 
0
unofficial world wide web avantgarde
Diesen Artikel auf Pocket™ posten teilen
Artikel:   versendendruckenkommentieren

In den ersten Wochen des neuen Jahres 2012 beginnt eine neue, wichtige Runde im Verteilungskampf zwischen Kapital und Arbeit. Die Kaffeesatzleser des Kapitals verkünden in den Medien angesichts der Krise schon die Notwendigkeit von Lohnzurückhaltung. Mehrere Gewerkschaften haben ihre Absicht bekundet, dass sie sich in der kommenden Tarifrunde nicht auf einen Krisen-Abschlag, sondern eher auf eine Nachholrunde einstellen.

Der Landeschef der IG Metall Baden-Württemberg, Jörg Hofmann, ist sich bewusst, dass der Metallindustrie 2012 eine harte Tarifrunde ins Haus steht: "Das kann sich zuspitzen. Denn viele Beschäftigte haben angesichts hoher Umsatzrenditen und dicker Gewinne im ablaufenden Jahr große Erwartungen." Es wird bei der IGM-Forderung "im Kern um eine große Prozentzahl gehen." Sie wird über den 3,8 Prozent liegen, die sich rechnerisch aus den volkswirtschaftlichen Rahmendaten ergäben. In die Forderung werde auch ein Teil Nachholbedarf aus dem Jahr 2011 eingerechnet.

Neue Tarifverträge

Im Jahre 2012 werden die Tarifverträge für rund 9,1 Millionen Beschäftigte neu ausgehandelt. Schwergewichte sind dabei die Metall- und Elektroindustrie (3,6 Millionen Beschäftigte), der öffentliche Dienst von Bund und Gemeinden (1,9 Mio) sowie die Chemische Industrie (550 000). Am Jahresende folgt dann noch der Öffentliche Dienst der Bundesländer mit über 620 000 Menschen. Auch in etlichen kleineren Bereichen wie verschiedenen Handwerksberufen, Hotel- und Gaststättengewerbe oder der Energiewirtschaft Nordrhein-Westfalens werden die Tarifverträge neu ausgehandelt. Dazu kommen noch große Einzelunternehmen wie zum Beispiel die Deutsche Bahn AG und Volkswagen.
Die Umsatzrendite werde in vielen Konzernen und Betrieben mit sieben Prozent vor Steuern und damit besser als im Boomjahr 2008 ausfallen. "Auch wenn für dieses Jahr Einmalprämien pro Kopf gezahlt werden, die in einigen Unternehmen auch fünfstellig ausfallen, verlangen die Beschäftigten dauerhaft mehr Geld in der Tasche", sagte der erfahrene Gewerkschaftsführer. Voraussetzung für Forderung sei eine konstante wirtschaftliche Entwicklung - ohne neuen Einbruch.

Der Zeitpunkt der Forderungsstellung müsse daher möglichst nahe am Beginn der Tarifrunde liegen, damit keine unvorhergesehenen Ereignisse wie plötzliche Konjunktureinbrüche das Ergebnis im Nachhinein für die eine oder andere Seite untragbar machten. "Wir fahren auf Sicht".

"Mich ärgert, dass da unsere Betriebsräte immer noch als Bittsteller auftreten müssen, weil wir für ergebnisabhängige Sonderzahlungen keine tariflichen Rahmenregelungen haben", sagte Hofmann. "Letztendlich ist das noch immer Geldverteilen nach Gutsherrenart und völlig unzeitgemäß." Doch Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser weiß was er tut. Dem Magazin "Der Spiegel" teilte er jüngst freimütig mit: "Wenn es eine gute Konjunktur gibt, dann muss die einmalig honoriert werden, aber die Löhne dürfen nicht dauerhaft auf einem hohen Niveau verewigt werden", sprich tabellenwirksam werden.

Die Großen Tarifkommissionen beschließen am 23. Februar in allen IGM-Bezirken ihre Forderung. Einen Tag später setzt der IG Metall-Vorstand dann die endgültige Forderung für die Metallbranche mit ihren 3,6 Millionen Beschäftigten fest. Mitte März werden die Tarifverhandlungen in den Bezirken starten, Ende März laufen die Entgelt-Tarifverträge aus. Am 28. April endet die Friedenspflicht.

Kräftiger Schluck aus der Pulle?

Scheinbar ist es so, dass die Tarifstrategen von IG Metall und IG BCE nicht zuletzt wegen dem schon an die Wand gemalten Mini-Wachstum der Volkswirtschaft von unter einem Prozent ihr Pulver noch trocken halten wollen und es vorziehen, schon mal vorab mit den Kapitalisten hinter verschlossenen Türen zu verhandeln. Was sie öffentlich als Tarifziele verlautbaren, soll ihnen wohl dabei helfen, "Druck" auf die Kapitalbesitzer zumachen und gleichzeitig die Hintertür schon zu entriegeln, falls die Krise sich wieder zurückmeldet. Wir und sicher auch IG-Metall-Chef Berthold Huber erinnern uns noch gut an den vorletzten Tarifabschluss 2008: "Damals sind wir mit 180 Sachen in die Garage gefahren." So Huber im O-Ton.

Mit der zu Boom-Zeiten gefassten Forderung von acht Prozent Lohn in der Tüte mussten sich die Metaller in den Verhandlungen mit einem verschachtelten Tarifvertrag abfinden, der wesentliche Bestandteile flexibel hielt und in der Höhe weit hinter der berechtigten Forderung blieb. Ob sich so was wiederholt? "Es gibt keinen Finanzkrisen-Abschlag", hat zumindest im Vorfeld jetzt IG BCE-Chef Michael Vassiliadis verkündet. Niemand solle sich "auf der Arbeitgeberseite da falschen Einschätzungen hingeben".

Die Kohle für einen kräftigen Schluck aus der Lohnpulle ist da. Laut des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) hat die drittgrößte Industriebranche allein im Jahr 2011 rund zehn Prozent mehr Umsatz gemacht und läuft auf den Rekordwert von 180 Milliarden Euro zu. Einen wichtigen Hinweis für die jetzt notwendige Diskussion um die richtige Forderung in den Belegschaften, Vertrauensleute-Vertreterversammlungen und Funktionärskonferenzen haben uns die Stahlkocher in NRW gegeben, die mit einer Forderung nach sieben Prozent in die Verhandlungen gegangen sind. An den Hochöfen im Norden und Westen des Landes bekommen sie jetzt 3,8 Prozent mehr Lohn auf 16 Monate und haben dazu noch eine Übernahmegarantie für die Auszubildenden durchgesetzt. Mehr war ohne Arbeitskampf nicht zu holen und wird auch künftig nicht zu holen sein. In der kommenden Tarifrunde will die IGM noch weitere qualitative Forderungen aufstellen. Dabei sollen hauptsächlich Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei Leiharbeit tariflich verankert werden. Die IG BCE geht einen eigenen Weg: Sie hat mit dem Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister eine Vereinbarung geschlossen, die nach einer Übergangszeit zu gleichen Löhnen bei Stamm- und Leiharbeitern führen soll. Schon 2011 hat Oliver Burkhard, vom IG-Metall-Bezirk Nordrhein-Westfalen, in der Wirtschafts-Woche eine interessante Überlegung angestellt: Künftig könne die Tarifpolitik auch "dazu beitragen, die paritätische Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherzustellen" und weiter: "Die Arbeitgeber haben die Rente mit 67 und die Gesundheitsreform zu Lasten von Arbeitnehmern unterstützt. Sie allein profitieren davon finanziell. Über Tarifabschlüsse könnten sie den Beschäftigten ein Stück davon weitergeben." Daher denke er auch an "einen Lohnzuschlag für die Altersvorsorge".

Dies alles ist diskussions- und überdenkenswert. Die eigentlichen "Experten" in Tariffragen aber sind die Arbeiter, Auszubildenden und Beamten selber. Die müssen sich Gehör verschaffen und den Kampf darum aufnehmen. Lohnfragen sind immer Machtfragen und keine "Wünsch Dir was"-Veranstaltungen, dennoch wünschte ich mir, dass die Kollegen auch ernsthaft über eine Festgeld- bzw. mindestens gemischte Lohnforderung nachdenken würden.
Wie für die IG Metall ist auch für Frank Bsirske, den Vorsitzenden der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Binnenkonsum ein entscheidender Faktor für die Stabilität der deutschen Wirtschaft. Daher will Bsirske mit der 2012er Tarifrunde spürbare Lohnerhöhungen durchsetzen. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur PNP Ende 2011 forderte der Gewerkschaftschef für die kommenden Tarifverhandlungen ein sattes Plus. Gefragt: "Sie wollen sicher den großen Schluck aus der Pulle. Verringert die Krise nicht just den Verteilungsspielraum in den anstehenden Tarifrunden?", antwortete Bsirske: "Lassen Sie mal die Pulle in der Kiste. Aber im Abschwung ist der Binnenkonsum entscheidend für die Stabilität der Wirtschaft. Da darf es keine falsche Bescheidenheit geben". Zum weiteren Vorgehen befragt, gab Bsirske zur Antwort: "Die Gespräche laufen noch. Am 9. Februar werden wir unsere Forderung für den Öffentlichen Dienst offiziell beschließen." Die Erwartungen der Beschäftigten sind hoch. Kollege Frank Bsirske spielte damit auf die bereits hinausposaunten Tarifforderungen für die ehemaligen Bundesunternehmen Telekom, Post und Lufthansa an, die zwischen 6,1 und 7,0 Prozent liegen sollen. "In dieser Größenordnung, mit einer sozialen Komponente, wird sich vermutlich auch unsere Forderung für die Tarifbeschäftigten beim Bund und den Kommunen einpendeln".

Was unter der "Sozialen Komponente" zu verstehen ist, verlautbarte schon mal vorab ver.di-Sprecher Christoph Schmitz. Es sei dabei an eine monatliche Erhöhung zwischen 150 bis 180 Euro gedacht. Die ver.di Forderung sei "verantwortbar und nach zwei Jahren des Aufschwungs mit guten Gewinnen auch ein Gebot der Gerechtigkeit". Da hat Bsirske Recht.

Doch Recht haben und sein Recht durchsetzen sind bekanntlich zwei paar Stiefel. Deutschlands Kapitalisten sind immer weniger geneigt, freiwillig ein Stück - schon gar nicht ein größeres Stück - Kuchen denen zukommen zu lassen, die ihn in ihrem Auftrag gebacken haben. Weder in Form von Löhnen und Gehältern, noch in Form von Steuern.

Die Reallöhne in Deutschland sind laut DGB zwischen 2000 und 2009 im Durchschnitt um 4,5 Prozent gesunken - nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung - besonders stark bei den Beziehern der niedrigsten Einkommen, die im vergangenen Jahrzehnt Einbrüche von bis zu 20 Prozent hinnehmen mussten. Das reichste Prozent der Deutschen verfügt heute über einen Vermögensanteil von über 23 Prozent, derweil die "unteren" 70 Prozent nur skandalöse neun Prozent der Vermögenswerte besitzen und - man staune oder fluche - 27 Prozent der Bevölkerung über null Vermögen verfügen oder gar verschuldet sind. Dies, obwohl der Kuchen im vergangenen Jahrzehnt größer und größer wurde: Von 2002 auf 2007 schnellte das Volksvermögen von 6,5 Billionen Euro auf sage und schreibe acht Billionen. Der DGB fordert daher, es müssten "kräftige Lohnerhöhungen her, die wieder "mindestens" den kostenneutralen Verteilungsspielraum abdecken, also mindestens die Inflationsverluste der Beschäftigen ausgleichen und Produktivitätsgewinne weiterreichen sollten - wie es in der alten Bundesrepublik lange üblich war".

Aber da fehlt doch was, denn "traditionell beziehen sich die Gewerkschaften bei der Begründung ihrer Lohnforderungen auf drei Elemente: Ausgleich der absehbaren Preissteigerungsrate, Teilhabe an der steigenden wirtschaftlichen Leistungskraft einer Branche, wie sie im Anstieg der Arbeitsproduktivität zum Ausdruck kommt, sowie eine zusätzliche ´Umverteilungskomponente´, die zur Korrektur des Verteilungsverhältnisses zwischen Gewinn- und Arbeitseinkommen zugunsten der abhängig Beschäftigten führen soll", so die Böckler-Stiftung des DGB. Weiß da die Linke nicht, was die Rechte tut?


Rückblick auf die zwei vergangenen IGM-Tarifrunden

  • 2008: Forderungshöhe acht Prozent für 12 Monate
    Kapitalistische Krise und Burgfriedenspolitik der Gewerkschaftsspitze führte zur Aufgabe der ursprünglichen Forderung.

    Tarifergebnis: Februar 2008 und Oktober 2009 je 2,1 Prozent, Laufzeit 18 Monate


  • 2010: Verzicht auf Erheben einer Forderung
    Ergebnis: Nicht tabellenwirksame Einmalzahlung von 320 Euro (Auszahlung Mai und Dezember 2010) plus 2,7 Prozent ab April 2011 bei 23-monatiger Laufzeit bis März 2012

    Bilanz: Das Kapital hat sich 2010/2011 prächtig erholt - die Beschäftigten bezahlten die Krise, 2012 besteht also erheblicher Nachholbedarf.



 
Creative Commons CC BY-NC-ND 4.0
Inhalt (Text, keine Bilder und Medien) als Creative Commons lizensiert (Namensnennung [Link] - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen), Verbreitung erwünscht. Weitere Infos.