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Von secarts

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Ist China ein armes Land? Ist Beijing eine reiche Stadt?
Eine Frage, die zunaechst hinterfragt werden muss: welche Grossstadt der Welt ist reich? Ich habe einige gesehen, vorwiegend in Europa, und habe ueberall einigen sehr grossen Reichtum ausgemacht - und sehr viel bittere Armut. Eine Grossstadt, die all ihren Bewohnern Reichtum bietet, gibt es sicherlich auf der ganzen Welt nicht; auch Beijing gehoert natuerlich nicht dazu.

Als ich in Beijing in meiner Jugendherberge ankam, war ich zunaechst schockiert: gegen Abend lagen rund um den grossen Gebaeudekomplex aus Bueros, Hotels und Fillialen Leute auf Matten, Zeitungen und Jacken und schliefen mit all ihrer Habe dort. Stutzig machte mich, dass viele von ihnen Anzug trugen und moderne Koffer dabei hatten - so richtig "aermlich" oder gar "zerlumpt" wirkte eigentlich niemand von ihnen.
Das Raetsel loeste sich am naechsten Tag: direkt gegenueber der Strasse liegt der Beijinger Zentralbahnhof; die Schlafenden waren mitnichten Obdachlose, sondern Reisende, die nicht rechtzeitig ein Ticket loesen konnten oder auf einen Nachtzug warteten und die Zeit zum Nickerchen nutzten.

Dieses Phaenomen konnte ich in ganz China beobachten: die Chinesen scheinen die Gabe zu haben, in beinahe jeder Situation schlafen zu koennen: auf Gruenstreifen mitten zwischen den Strassenspuren, an Hauswaende gelehnt, sogar auf ihren geparkten Motorraedern - und all dies mitten im Verkehrslaerm der Grossstaedte.
Diese Anekdote am Rande - wenig spaeter hoerte ich zufaellig zwei deutsche Touristen im Restaurant laut an einer Ansichtskarte formulieren: "ueberall grosse Armut, ueber schlafen Obdachlose auf der Strasse". So kommen Geruechte zustande...

Dennoch, nicht wegleugnen laesst sich, dass es auch in Beijing und anderen chinesischen Grossstaedten Bettler und Obdachlose gibt. Sie haben sich, ganz zweckmaessig natuerlich, auf Touristen spezialisiert und lassen normale chinesische Buerger in Frieden. Dementsprechend habe ich in touristisch nicht erschlossenen Gebieten und Staedten auch keinen einzigen Bettler gesehen .

Ich kann hier aus dem Internetcafe nicht mit aktuellen Zahlen zu Wohlstand oder Armut der chinesischen Bevoelkerung aufwarten - wenn dies von Interesse ist, lege ich von Zuhause gerne nochmal eine genauere Recherche nach. Bedenken sollte man allerdings bei allen Spekulationen, dass China immer noch ein Entwicklungsland ist, dass hier immer noch ueber 60 Prozent der Bevoelkerung auf dem Lande leben und dass hier derzeit ganz entscheidende Umbrueche in der Gesellschaft stattfinden: das agrarisch gepraegte China wird mehr und mehr zu einer hochentwickelten Industrienation.
Dazu gehoert ein Prozess, den wir "Urbanisierung" nennen: immer mehr Menschen ziehen die hoeheren Einkommenschancen in den Staedten an; sie verlassen die Doerfer und den Acker und werden zu Arbeitern. Das vollzieht sich schrittweise und ist in China besonders komlipiziert: Erstens sind die Staedte sowieso schon voellig ueberfuellt und oftmals nicht mehr erweiterbar - mit der Gruendung neuer Staedte kommt China derzeit kaum noch nach; und Zweitens bleiben die Bauern, die ihre Doerfer verlassen, zunaechst ueberwiegend saisonweise in den Staedten und arbeiten in agrarisch arbeitsintensiven Zeiten wieder in ihren Doerfern mit, wo ebenfalls jede Hand gebraucht wird.

Wie dem auch sei: 100 Millionen Menschen ziehen Jahr fuer Jahr in China vom Land in die Stadt. Dieser Prozess ist weder eigentuemlich noch bedauernswert; er fand und findet so, in ganz anderen Dimensionen natuerlich, in jedem Land der Welt statt, dass sich zu einer Industrienation entwickelt. In der UdSSR war diese gesellschaftliche Verschiebung in den zwanziger und dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts zu beobachten; auch in Deutschland hatten wir ihn - so brutal und unbarmherzig, dass Marx schrieb, der "Kapitalismus wurde mit Blut erkauft".
"Erkauft" haben wir damit auch unseren heutigen relativen Wohlstand, unseren Grad der Industrialisierung und unsere wirtschaftliche Staerke. Und China erlebt, freilich unter anderen Vorzeichen, derzeit einen ganz aehnlichen Prozess.

Die "anderen Vorzeichen" bestehen unter anderem in einer Lenkung und Planung. Wo waehrend der Entfeudalisierung Deutschlands die armen Bauern und Landarbeiter oftmals mit Waffengewalt, Brandschatzung und nacktem Zwang von ihren Aeckern in die Fabrikhallen getrieben wurden, wird in China der Zuzug in die Staedte gelenkt und geregelt - ich habe kein einziges Slum, keine einzige groessere Bretterbudensiedlung und keine einzige Notbehausungsenklave an den Stadtraendern gesehen; Bilder, die einem aus anderen Teilen Asiens wie selbstverstaendlich in den Sinn kommen.
Nicht immer verlaeuft dieser Prozess zufriedenstellend. Das ist bei diesen grossen Menschenmassen auch nicht weiter verwunderlich; China befindet sich derzeit mitten auf dem Sprung von einem armen Entwicklungsland zu einer wirtschaftlich hoch entwickelten Nation, viele Menschen hier wollen teilhaben am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum - und immer mehr Menschen haben Teil daran. Dieser Prozess wird noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte benoetigen - zu stoppen ist er, da bin ich mir nach meinen Eindruecken hier sicher, hoechstens noch durch einen Atomkrieg oder eine Naturkatastrophe ungeahnten Ausmasses.

China ist ganz sicher kein entwickeltes sozialistisches Land. Niemand hier wurde das behaupten; auch die Kommunistische Partei oder die chinesische Regierung behauptet dies nicht. China ist, so die offizielle Lesart, "auf dem Weg zur Erstellung der materiell-technischen Basis des Sozialismus". Der Fahrplan prognostiziert das Erreichen dieses Ziels, der "materiell-technischen Basis fuer den Sozialismus", fuer 2050. Weitere fuenfzig Jahre sollen benoetigt werden, um den vollentwickelten Sozialismus zu erreichen.

Wie auch immer man solche Prognosen beurteilt: zumindest heben sie sich wohltuend ab zum Beispiel gegenueber einstmaligen Behauptungen der Sowjetunion, im Jahre 1980 den Vollkommunismus erreicht zu haben. Dass noch ein langer, schwieriger und weiter Weg fuer China zu gehen ist, ist den Menschen hier klar. Die Richtung aber, auch da waren sich alle, mit denen ich hier sprach, einig, stimmt im Grossen und Ganzen.

Ueber Probleme wird natuerlich auch geklagt: die Korruption unter wirtschaftlichen Funktionaeren ist sicher eines der groessten Schwierigkeiten, denen sich die chinesische Gesellschaft derzeit gegenueber sieht. Erstaunlich offen und freimuetig - auch ich habe mich da von der deutschen Propaganda vom "gelekten chinesischen Jubelfernsehen" taeuschen lassen - berichten die chinesischen Medien darueber: Nicht ein Tag ohne breite Reportagen ueber Skandale, Schmiergeldaffaeren oder Faellen von illegaler Bereicherung einzelner Kader. Die chinesische Justiz hat in dieser Frage die Zuegel maechtig angezogen und verfolgt bekanntgewordene Faelle von Korruption aeusserst hart. Bleibt zu hoffen, dass dies reicht, denn Korruption und Vetternwirtschaft ist in China nicht das Problem eines sozialistisch ausgerichteten Staates, sondern tief kulturell verwurzelt: bereits in der konfuzianistischen Lehre sind derartige Verhaltensweisen von Vorteilsnahme festgelgt; der Kampf gegen Korruption ist also auch ein kultureller Kampf.

Die Dimensionen, in denen sich solche Faelle abspielen, reichen von einigen hundert Yuan bis in die Millionen - manch ein krimineller Funktionaer ist so zu erstaunlichem Reichtum gelangt - und unter Umstaenden spaeter zum Tode verurteilt worden.
Auch hier sollte einem allerdings immer eine leise Stimme der Vernunft sagen: was in China als Problem erkannt und verboten ist, gehoert bei uns daheim zur tragenden Saeule das ganzen Systems. Ich kann keinen anderen Begriff als "illegale Bereicherung" finden fuer das, was sich tagtaeglich in deutschen Vorstandsetagen und Aktionaersversammlungen abspielt - Zigtausende werden in die Arbeitslosigkeit getrieben, Dutzende bereichern sich immer schamloser.

Dass man das China von heute nicht mit dem Deutschland von heute vergleichen darf, sollte klar sein: wir haben 200 Jahre Kapitalismus hinter uns und einen guten Teil unseres "Startkapitals" schlicht geklaut und erbeutet; unter anderem aus den Kolonien, unter anderem aus China.
China ist diesen Weg nicht gegangen, sondern war vielmehr zunaechst Opfer der westeuropaeischen, japanischen und nordamerikanischen Entwicklung. Heute erhebt sich China, und sucht einen Weg der Entwicklung, der nicht zu Lasten anderer Laender geht. Die Chinesen koennen zu Recht stolz sein auf das, was sie bis heute schon erreicht haben und mit Optimismus in die Zukunft blicken - ein Fuenftel der ganzen Welt steht ihnen zu.

 
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  Kommentar zum Artikel von secarts:
Freitag, 23.09.2005 - 18:35

Das Problem scheint mir etwas komplexer zu sein:

- China ist eben zur Zeit NICHT sozialistisch, sondern durchlebt eine Entwicklungsepoche, in der kapitalistische Elemente bewusst zugelassen und auch gefoerdert werden, um den technologisch-gesellschaftlichen Rueckstand zum Westen aufzuholen. Der Kapitalismus resp. die kapitalistische Entwicklungsphase leistet eine, sozusagen ganz wichtigen Vorarbeit, um spaeter auf ihr aufbauend Sozialismus erst zu ermoeglichen, naemlich die Vergesellschaftung der Produktion.

Will keissen: das besondere historische Verdienst des Kapitalismus ist es, die Menschen aus feudaler Unmuendigkeit zu reissen und sie zu lohnabhaengigen, aber persoenlichen freien Arbeitern zu machen. Aus dem in feudalen Fesseln gefangenen, leibeigenen Bauern der feudalen Epoche wird der "doppelt freie" Lohnarbeiter.

Zweiter wichtiger Aspenkt dieser "Vergesellschaftung der Produktion" ist die Schaffung von Grossbetrieben mit funktionierender Arbeitsteilung, also die absolute Zuspitzung der Entfremdung - die kapitalistische Grossproduktion loesst die feudale Kleinstwirtschaft mit maximal Manufakturen ab und schafft damit die materiell-technische Basis fuer den Sozialismus.

China hatte keine eigene, unabhaenigige kapitalistische Epoche - auf Feudalismus folgte direkt eine halbkoloniale, halbfeudale Epoche der auslaendischen Aggression. China versucht derzeit, durch Zulassung gewisser kapitalistischer Elemente die Epoche, die doch noetig scheint fuer jeden weiteren sozialistischen Weg, nachzuholen.

Das ist die Theorie - ob die Praxis ihr auch folgen wird, wird sich zeigen; wissen kann es heute niemand genau...


  Kommentar zum Artikel von 127778:
Freitag, 23.09.2005 - 16:24

mmhhhh... wie kommt es aber das in china immer mehr markwirtschaftliche freiheiten zugelassen werden? und das durch gesetze....also ist china nicht umbedingt auf den weg den sozialismus weiter auszubauen......


  Kommentar zum Artikel von secarts:
Montag, 19.09.2005 - 14:51

"Ich vermute mal ganz eitel, das dieser Beitrag direkt auf meine Anregung entstand..?"

Unter anderem auch, ja. Ist ja auch nicht weiter dramatisch, ich bat ja um Anregungen... smiley

"Auch wenn ich vielleicht ein paar mehr praktische Zahlen erwartet habe,"

Wie ich schon schrieb: das ist aus der Ferne im Internetcafe etwas kompliziert, wird aber gerne nachgereicht, falls das Interesse doch so tief geht...

"Also ist China ein Entwicklungsland, das ganz normale Prozesse durchlebt und dabei noch besser abschneidet als seine historischen Vorbilder - ricvhtig verstanden?"

Ganz grob - ja. Allerdings ein Entwicklungsland, das die beruehmte "Schwelle" schon ueberschritten hat, im Gegensatz zu fast allen anderen Entwicklungslaendern. Dieser Umstand gibt China eine gewisse Sicherheit gegen "Rueckfaelle", schuert natuerlich aber auch den Argwohn der elitaeren "Clubmitglieder" gegen den Newcomer.

"warum gehen die Chinesen nicht einen viel direkteren Weg und sparen sich die ganze Kiste mit Urbanisierung und so"

Ich denke, dies ist der direkte Weg - die "Kiste mit der Urbanisierung" wird man sich kaum sparen koennen, wenn man Industrie aufbauen will. Ohne menschliche Arbeitskraft geht es halt doch nicht so gut...

"ist ja schliesslich ein nicht nur unberdingt positiver Prozess, finde ich, heute zieht es hier wieder viele aufs Dorf..."

Dazu musst du mal hiergewesen sein um zu wissen, dass man chinesische Doerfer kaum mit deutschen vergleichen kann. Ich zumindest kann es hier niemandem, der den gewissen Wohlstand der Staedte dem Leben im Dorf vorzieht, uebelnehmen, wenn es ihn in die Stadt draengt. Mit zunehmendem Wohlstand werden sich sicherlich auch (nicht-agrarische) Wohnsiedlungen auf dem Lande etablieren - vor 50 oder 100 Jahren war das Landleben in Deutschland auch nicht gerade ein Zuckerschlecken.


  Kommentar zum Artikel von ..::jonas::..:
Montag, 19.09.2005 - 07:45

Ich vermute mal ganz eitel, das dieser Beitrag direkt auf meine Anregung entstand..?
Wie auch immer, nett, mal deine Analyse der Geschehnisse zu lesen! Auch wenn ich vielleicht ein paar mehr praktische Zahlen erwartet habe, aber immerhin mal ein unkonventioneller Stadtpunkt, der das Nachdenken lohnt...
Also ist China ein Entwicklungsland, das ganz normale Prozesse durchlebt und dabei noch besser abschneidet als seine historischen Vorbilder - ricvhtig verstanden?
Ob man nicht auch in manchen Fragen von den Fehlern anderer lernen kann, ist nur so eine zweite Geschichte - warum gehen die Chinesen nicht einen viel direkteren Weg und sparen sich die ganze Kiste mit Urbanisierung und so - ist ja schliesslich ein nicht nur unberdingt positiver Prozess, finde ich, heute zieht es hier wieder viele aufs Dorf...