WARSZAWA/BERLIN (29.03.2010) - Einundzwanzig Opferorganisationen aus vier Staaten fordern von den historischen Erben der "Deutschen Reichsbahn", "sich der eigenen (NS-) Geschichte zu stellen" und die Bahn-Deportierten angemessen zu ehren. Anlaß einer am Wochenende in Warschau verabschiedeten Erklärung ist der bevorstehende 65. Jahrestag der deutschen Kapitulation am 8./9. Mai 1945. Bis zum Sieg der Anti-Hitler-Koalition hatte die "Deutsche Reichsbahn" etwa 3 Millionen Menschen in die Zwangs- und Vernichtungslager deportiert. Ohne die "Deutsche Reichsbahn" wären "die Morde, die Ausbeutung und die unmenschlichen Leiden der Opfer unmöglich gewesen", heißt es in der Erklärung der Überlebenden aus Weißrussland, Polen, Russland und der Ukraine. "Für unseren Weg in Vertreibung, Gefangenschaft und Vernichtung hat die 'Deutsche Reichsbahn' Kilometer für Kilometer Gebühren erhoben." Das NS-Unternehmen, das in den Nachkriegsbesitz der Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist, habe sich "an den Massenverbrechen (...) bereichert." Daher bestehe eine "moralische und finanzielle Pflicht", den bedürftigen Überlebenden der "Reichsbahn"-Verbrechen zu helfen. Der Appell richtet sich an die Deutsche Bahn AG und deren Eigentümerin, die durch den Bundesminister für Verkehr (Peter Ramsauer, CSU) und den Bundesminister für Finanzen (Wolfgang Schäuble, CDU) vertreten wird.
Die Bundesregierung lehnt jegliche Zahlung an die Überlebenden abZu den Unterzeichnern der Warschauer Erklärung gehören die "Weißrussische Vereinigung ehemaliger minderjähriger NS-Häftlinge", die polnische "Vereinigung der Jüdischen Kombattanten und Geschädigten im Zweiten Weltkrieg", die "Vereinigung der Sinti und Roma in Polen", die "Organisation der Kriegskinder in Polen", der "Internationale Verband der minderjährigen NS-Opfer", der "Ukrainische Verband der Juden - Ehemalige Ghetto- und Konzentrationslagerhäftlinge" sowie weitere Opferverbände, die mehrere Hunderttausend Mitglieder vertreten [1]. Viele von ihnen, die als Jugendliche verschleppt wurden und heute in hohem Alter sind, kamen niemals in den Genuss deutscher Zahlungen und verbringen ihre letzten Tage unter schwierigen sozialen Verhältnissen.
Rollende SärgeAuf diese vergessenen Opfer der "Reichsbahn"-Beihilfe zum Massenmord hatte der deutsche Verein "Zug der Erinnerung" im vergangenen November mit einem Gutachten hingewiesen [2]. Nach den Berechnungen des privaten Vereins kassierte die "Deutsche Reichsbahn" pro Deportationskilometer 2 Reichspfennige und nahm Millionensummen ein. Die in großem Stil betriebene Verbrechensbeihilfe begann spätestens 1938, als Tausende polnische Staatsbürger auf dem Schienenweg nach Osten abgeschoben wurden und endete in den letzten Märztagen des Jahres 1945 bei "Reichsbahn"-Transporten nach Terezin (Theresienstadt). Das von der "Deutschen Reichsbahn" und den ihr angeschlossenen Logistikunternehmen (Generaldirektion Ostbahn / Gedob) zu verantwortende Deportationsgeschehen spielte sich auf dem Schienennetz sämtlicher okkupierter Staaten ab und reichte von Oslo bis Athen. "Die Wagen der 'Deutschen Reichsbahn' wurden für Hunderttausende zu rollenden Särgen", heißt es in der Warschauer Erklärung.
Humanitäre GesteDas vom "Zug der Erinnerung" vorgelegte Gutachten belegt kriminelle "Reichsbahn"-Einnahmen, die in heutiger Währung 445 Millionen Euro betragen - nach Auskunft der Herausgeber ein minimaler, konservativ angesetzte Betrag ohne Berücksichtigung der seit Mai 1945 zu zahlenden Zinsen. Wie die Unterzeichner der Warschauer Erklärung mitteilen, beziehen sie sich auf diesen Gutachtenwert und erwarten von der Deutschen Bahn AG eine entsprechende "humanitäre Geste".
Aggressive StrategieFast zeitgleich mit der Veröffentlichung der Warschauer Erklärung legte die Deutsche Bahn AG ihre aktuelle Konzernbilanz vor. Demnach beträgt der im Krisenjahr 2009 erzielte Umsatz des weltweit fast größten Logistikers 29,3 Milliarden Euro, das Ergebnis vor Steuern und Zinsen 1,7 Milliarden Euro. Allein 600 Millionen Euro flossen dem Unternehmen aus dem Verkauf von Immobilien und durch die Auflösung von Rückstellungen zu. Im laufenden Jahr will die DB AG ihr Ergebnis um etwa 20 Prozent steigern - und plant den Aufkauf konkurrierender Logistiker in Europa und Übersee. Dazu gehört der britische Anbieter "Arriva". Ebenfalls im Gespräch ist der Einstieg in das Kanal-Konsortium "Eurostar", das die Schienenverbindungen zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien betreibt. Wie der Präsident der französischen Staatsbahn SNCF beklagt, verfolgt die DB AG auf sämtlichen Gebieten eine "aggressive Strategie" [3].
LiquideIm November 2009 setzte sich die DB AG in einem Bieterverfahren im Emirat Katar durch und wurde mit einem 17-Milliarden-Auftrag belohnt. In der vergangenen Woche erhielt die staatseigene DB den Zuschlag für Bahnplanungen in Abu Dhabi [4]. Damit wird die Expansionspolitik des vormaligen Konzernvorstands Mehdorn auch unter seinem Nachfolger Rüdiger Grube ungebrochen fortgesetzt. In welchem Umfang die DB AG liquide ist, zeigt das bei Veröffentlichung der Konzernbilanz ins Gespräch gebrachte Investitionsvolumen, das in den kommenden 4 Jahren für Fahrzeuge, Fahrwege und Bahnhöfe zur Verfügung steht. Es handelt sich um mindestens 40 Milliarden Euro.
SchändlichAngesichts der Gigantomanie, die im Berliner DB-Hochhaus das Handeln bestimmt, scheinen die Unterzeichner der Warschauer Erklärung sehr bescheiden. Dies wird auch im Vergleich zu Klageverfahren deutlich, die von Überlebenden der Massendeportationen in Ungarn angestrengt werden [5]. Die ungarischen Nachfolger der Verbrechensbeihilfe, die für Hunderttausende an der Selektionsrampe von Auschwitz endete, werden um die Zahlung von rund 700 Millionen Euro gebeten. Wie die ungarische Presse rät, sollte die Budapester Regierung "die Sache ehrenvoll angehen" und sich "schnellstmöglich über die Einrichtung eines Fonds in einem Vergleich mit den Klägern einigen (...) So könnte den noch lebenden Opfern schnell wenigstens eine kleine Entschädigung zukommen; von Wiedergutmachung kann man leider ohnehin nicht sprechen. Jede Verzögerung oder Verteidigung von Sachverhalten, die nicht zu verteidigen sind, wäre schändlich und letztlich nur eine Verlängerung des Verbrechens von damals."
GerechtigkeitAuf Klagen gegen die DB AG wollen die Unterzeichner der Warschauer Erklärung vorerst verzichten und rufen die deutsche Öffentlichkeit zu Aktivitäten auf: "Wir appellieren an die deutsche und internationale Öffentlichkeit, sich an die Seite der Überlebenden zu stellen und für Aussöhnung und Gerechtigkeit einzutreten."
» Warschauer Erklärung vom 26.03.2010.Anmerkungen:
1 Text und Unterzeichner der Warschauer Erklärung vom 26.03.2010
2 http://zug-der-erinnerung.eu/download/gutachten/Gutachten_Vorwort_DE.pdf
3 Piratage: la SNCF accuse la D. Bahn. Le Figaro, 12.12.2008
4 Bahn ergattert Großauftrag für Schienennetz am Golf. Der Spiegel, 28.03.2010
5 Sie wussten, was sie taten. Pester Lloyd, 15.02.2010