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•NEUES THEMA04.05.2020, 16:57 Uhr
EDIT: FPeregrin
04.05.2020, 17:01 Uhr
04.05.2020, 17:01 Uhr
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• DDR: 30 Jahre Proteste gegen Anschlußfolgen
jW 30. April:
Schlaglichter der Konterrevolution
Die Weitsicht einer Minderheit
Vor 30 Jahren protestierten Arbeiter der DDR gegen die absehbaren Folgen des Anschlusses an die Bundesrepublik
Von Jörg Roesler
Am 18. März 1990 erfüllte sich in der DDR mit den ersten Wahlen nach westlichem Muster – den ersten freien Wahlen in Ostdeutschland, wie es stets heißt – eine der Forderungen von Bürgerrechtlern. Die waren im Herbst 1989 auf die Straße gegangen, um in der DDR eine Ablösung der SED-Herrschaft zugunsten einer parlamentarischen Demokratie zu erreichen. Zu klären war mit dem Wahlgang nicht mehr, ob der alte Staat bleiben würde, sondern auf welche Weise die von fast allen Parteien – von der Christlich-Demokratischen Union (oder Ost-CDU) bis zur Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) – angestrebte Vereinigung beider deutscher Staaten vollzogen werden würde. Die DDR-Bürger konnten sich mit ihrer Stimmabgabe entweder für Parteien entscheiden, die versprachen, alle Anstrengungen zu unternehmen, als selbstbewusste Verhandlungspartner in den Vereinigungsprozess zu starten, wie die PDS und die im Bündnis 90 zusammengefassten Bürgerrechtler das vorhatten. Oder sie konnten für Parteien stimmen, die dafür eintraten, dass die Einheit – in der Politik wie auf wirtschaftlichem Gebiet – als bloße Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik Deutschland vollzogen würde, wie es die Verfassung der Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes für den Fall der Wiederherstellung der deutschen Einheit vorsah.
Das Wahlergebnis war eindeutig. Bei einer hohen Beteiligung von 93,4 Prozent entschieden sich 48,15 Prozent der Wähler für die von der CDU geführte »Allianz für Deutschland«, d. h. für die rasche Einführung der D-Mark sowie die Anpassung der ostdeutschen Strukturen an das als vorbildlich betrachtete politische, ökonomische und soziale System der Bundesrepublik. Für Bündnis 90 stimmten nur knapp drei Prozent der ostdeutschen Wähler, für die PDS beachtliche 16 Prozent.
Die CDU hatte damit das Mandat für die Regierungsbildung. Ministerpräsident der DDR wurde am 12. April 1990 der Rechtsanwalt und seit November 1989 Vorsitzende der CDU (Ost) Lothar de Maizière. »In den nächsten acht bis zehn Wochen wollen wir die Grundlagen für die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion legen, damit diese vor der Sommerpause der Parlamentstätigkeit in Kraft treten kann«, hieß es in dessen Regierungserklärung vom 19. April 1990. De Maizière betonte da: »Die Einheit muss so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig sein wie nötig«. Das glaubte auch die SPD unterschreiben zu können, die ebenso wie die Liberalen der »großen Koalition« der letzten DDR-Regierung beitrat.
De Maizière mit sich zufrieden
Der Ministerpräsident zeigte sich Anfang Mai sehr zufrieden mit der Entwicklung, die die DDR seit den Märzwahlen unter der Koalitionsregierung genommen hatte. Der Nachfolger Hans Modrows stand allerdings von Anfang an im Schatten des Bundeskanzlers. Helmut Kohl hatte mit seinen Wahlauftritten in Dresden und anderen Städten der DDR vor den Wahlen vom März 1990 entscheidend dazu beigetragen, dass eine so große Zahl der Bürger, die sich im November/Dezember 1989 noch für eine Reformierung der DDR und gutnachbarliche Beziehungen zur BRD, nicht aber für einen Zusammenschluss beider deutscher Staaten ausgesprochen hatten, bei den Volkskammerwahlen vom 18. März für einen Anschluss an die Bundesrepublik auf der Grundlage einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion votierte. Kohls Wahlkampfversprechen, im Falle der Übernahme der Regierung in Ostberlin durch seine CDU rasch für die Vereinigung zu sorgen und binnen kurzer Zeit »blühende Landschaften« zu schaffen, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Eine Mehrheit der Bürger der DDR sah auf einmal die Chance, dass sich nun auch im Osten Lebensverhältnisse realisierten, wie man sie aus dem Westfernsehen kannte.
De Maizière war der Meinung, einen persönlichen Beitrag für die Zufriedenheit der DDR-Bürger geleistet zu haben. Danach sei es ihm gelungen, für die DDR-Bürger günstige Bedingungen beim Eintritt ins Wirtschaftswunderland geschaffen zu haben. Wenn ihn damals jemand darauf ansprach, dann kam er sofort auf den Kurs für den Umtausch von DDR-Mark in D-Mark zu sprechen, der für die Währungsunion ausgehandelt worden war. Schon Ende März, keine zwei Wochen nach den Wahlen hatte sich das größte und einflussreichste bundesdeutsche Finanzunternehmen, die Deutsche Bank, dafür ausgesprochen, für die Währungsunion Anfang Juli einen Umtauschkurs von 2:1 festzulegen. Mit anderen Worten: Die Einkommen und Ersparnisse der DDR-Bürger würden beim Umtausch halbiert. De Maizière dagegen hatte sich Mitte April in seiner Regierungserklärung für einen Umtauschkurs von 1:1 ausgesprochen. »Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1:1 oder 1:2«, sagte er vor den Abgeordneten der Volkskammer, »haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, dass die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden.« Gegen den Widerstand der Deutschen Bank und mancher westdeutscher Politiker konnte der DDR-Ministerpräsident am 2. Mai immerhin verkünden, dass für die DDR-Bürger die Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten, Pachten und Renten sowie die Ersparnisse bis zu einer Höhe von 4.000 bis 6.000 DDR-Mark im Verhältnis 1:1 umgetauscht würden.
Doch viele Arbeiter und Angestellte in den Fabriken und Werken dankten es dem Regierungschef nicht. Sie hatten, was der neue Ministerpräsident offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollte, in Vorbereitung auf den wirtschaftlichen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik mit weit mehr Problemen zu kämpfen als dem Umtauschsatz 1:1 oder 1:2.
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Schlaglichter der Konterrevolution
Die Weitsicht einer Minderheit
Vor 30 Jahren protestierten Arbeiter der DDR gegen die absehbaren Folgen des Anschlusses an die Bundesrepublik
Von Jörg Roesler
Am 18. März 1990 erfüllte sich in der DDR mit den ersten Wahlen nach westlichem Muster – den ersten freien Wahlen in Ostdeutschland, wie es stets heißt – eine der Forderungen von Bürgerrechtlern. Die waren im Herbst 1989 auf die Straße gegangen, um in der DDR eine Ablösung der SED-Herrschaft zugunsten einer parlamentarischen Demokratie zu erreichen. Zu klären war mit dem Wahlgang nicht mehr, ob der alte Staat bleiben würde, sondern auf welche Weise die von fast allen Parteien – von der Christlich-Demokratischen Union (oder Ost-CDU) bis zur Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) – angestrebte Vereinigung beider deutscher Staaten vollzogen werden würde. Die DDR-Bürger konnten sich mit ihrer Stimmabgabe entweder für Parteien entscheiden, die versprachen, alle Anstrengungen zu unternehmen, als selbstbewusste Verhandlungspartner in den Vereinigungsprozess zu starten, wie die PDS und die im Bündnis 90 zusammengefassten Bürgerrechtler das vorhatten. Oder sie konnten für Parteien stimmen, die dafür eintraten, dass die Einheit – in der Politik wie auf wirtschaftlichem Gebiet – als bloße Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik Deutschland vollzogen würde, wie es die Verfassung der Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes für den Fall der Wiederherstellung der deutschen Einheit vorsah.
Das Wahlergebnis war eindeutig. Bei einer hohen Beteiligung von 93,4 Prozent entschieden sich 48,15 Prozent der Wähler für die von der CDU geführte »Allianz für Deutschland«, d. h. für die rasche Einführung der D-Mark sowie die Anpassung der ostdeutschen Strukturen an das als vorbildlich betrachtete politische, ökonomische und soziale System der Bundesrepublik. Für Bündnis 90 stimmten nur knapp drei Prozent der ostdeutschen Wähler, für die PDS beachtliche 16 Prozent.
Die CDU hatte damit das Mandat für die Regierungsbildung. Ministerpräsident der DDR wurde am 12. April 1990 der Rechtsanwalt und seit November 1989 Vorsitzende der CDU (Ost) Lothar de Maizière. »In den nächsten acht bis zehn Wochen wollen wir die Grundlagen für die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion legen, damit diese vor der Sommerpause der Parlamentstätigkeit in Kraft treten kann«, hieß es in dessen Regierungserklärung vom 19. April 1990. De Maizière betonte da: »Die Einheit muss so schnell wie möglich kommen, aber ihre Rahmenbedingungen müssen so gut, so vernünftig und so zukunftsfähig sein wie nötig«. Das glaubte auch die SPD unterschreiben zu können, die ebenso wie die Liberalen der »großen Koalition« der letzten DDR-Regierung beitrat.
De Maizière mit sich zufrieden
Der Ministerpräsident zeigte sich Anfang Mai sehr zufrieden mit der Entwicklung, die die DDR seit den Märzwahlen unter der Koalitionsregierung genommen hatte. Der Nachfolger Hans Modrows stand allerdings von Anfang an im Schatten des Bundeskanzlers. Helmut Kohl hatte mit seinen Wahlauftritten in Dresden und anderen Städten der DDR vor den Wahlen vom März 1990 entscheidend dazu beigetragen, dass eine so große Zahl der Bürger, die sich im November/Dezember 1989 noch für eine Reformierung der DDR und gutnachbarliche Beziehungen zur BRD, nicht aber für einen Zusammenschluss beider deutscher Staaten ausgesprochen hatten, bei den Volkskammerwahlen vom 18. März für einen Anschluss an die Bundesrepublik auf der Grundlage einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion votierte. Kohls Wahlkampfversprechen, im Falle der Übernahme der Regierung in Ostberlin durch seine CDU rasch für die Vereinigung zu sorgen und binnen kurzer Zeit »blühende Landschaften« zu schaffen, hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Eine Mehrheit der Bürger der DDR sah auf einmal die Chance, dass sich nun auch im Osten Lebensverhältnisse realisierten, wie man sie aus dem Westfernsehen kannte.
De Maizière war der Meinung, einen persönlichen Beitrag für die Zufriedenheit der DDR-Bürger geleistet zu haben. Danach sei es ihm gelungen, für die DDR-Bürger günstige Bedingungen beim Eintritt ins Wirtschaftswunderland geschaffen zu haben. Wenn ihn damals jemand darauf ansprach, dann kam er sofort auf den Kurs für den Umtausch von DDR-Mark in D-Mark zu sprechen, der für die Währungsunion ausgehandelt worden war. Schon Ende März, keine zwei Wochen nach den Wahlen hatte sich das größte und einflussreichste bundesdeutsche Finanzunternehmen, die Deutsche Bank, dafür ausgesprochen, für die Währungsunion Anfang Juli einen Umtauschkurs von 2:1 festzulegen. Mit anderen Worten: Die Einkommen und Ersparnisse der DDR-Bürger würden beim Umtausch halbiert. De Maizière dagegen hatte sich Mitte April in seiner Regierungserklärung für einen Umtauschkurs von 1:1 ausgesprochen. »Die Diskussionen um die Währungsumstellung 1:1 oder 1:2«, sagte er vor den Abgeordneten der Volkskammer, »haben uns mit aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass wir Bedingungen vereinbaren müssen, die sichern, dass die DDR-Bürger nicht das Gefühl bekommen, zweitklassige Bundesbürger zu werden.« Gegen den Widerstand der Deutschen Bank und mancher westdeutscher Politiker konnte der DDR-Ministerpräsident am 2. Mai immerhin verkünden, dass für die DDR-Bürger die Löhne, Gehälter, Stipendien, Mieten, Pachten und Renten sowie die Ersparnisse bis zu einer Höhe von 4.000 bis 6.000 DDR-Mark im Verhältnis 1:1 umgetauscht würden.
Doch viele Arbeiter und Angestellte in den Fabriken und Werken dankten es dem Regierungschef nicht. Sie hatten, was der neue Ministerpräsident offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen wollte, in Vorbereitung auf den wirtschaftlichen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik mit weit mehr Problemen zu kämpfen als dem Umtauschsatz 1:1 oder 1:2.
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•NEUER BEITRAG04.05.2020, 16:59 Uhr
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Protestaktion am Alex
Mit Beginn des Monats Mai kam es zu ersten handfesten Protesten. Die wohl spektakulärste Aktion fand am 10. Mai auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Arbeiter aus mehr als 50 Betrieben der Branche Textil, Bekleidung und Leder aus der ganzen Republik boten an jenem Donnerstag den Passanten ihre Waren an, die der Handel in Erwartung der Westwaren, die bald darauf ungebremst einströmen würden, den Produzenten nicht mehr abnahm. Dabei hatten die auf dem Alex ausstellenden Betriebe nach Meinung ihrer Belegschaften durchaus Qualität zu bieten. Das sahen auch viele Ostberliner Passanten so, die sich seit der Öffnung der Grenze im November 1989 ein Bild von Qualität und Preis der »Westwaren« machen konnten. Sie griffen zu, als am Alex modische Damenschuhe der Firma »Goldpunkt«, Kinderschuhe aus Zepernick oder Tischdecken von der Damastweberei Oberoderwitz angeboten wurden.
Sorgen um den Absatz ihrer Produkte machten sich seit Anfang Mai nicht nur die Firmen der Textilbranche. Die Zurückhaltung der Handelsbetriebe betraf die Konsumgüter herstellenden Unternehmen in fast allen Produktionszentren der DDR zwischen Ostseeküste und Erzgebirge. »Für das zweite Halbjahr sind sämtliche Verträge storniert«, erklärte ein Vertreter derjenigen Schuh- und Lederwarenhersteller, die die Aktion am Alexanderplatz organisiert hatten, den Reportern von Neues Deutschland, Berliner Zeitung und BZ am Abend, die zur Verkaufsaktion geeilt waren: »Alle Bemühungen seit Februar, die Regierung auf die Probleme aufmerksam zu machen und rechtzeitig flexible staatliche Preismaßnahmen (es galten ja weiterhin die DDR-Festpreise; jW) herbeizuführen, hatten bisher keinen oder mangelhaften Erfolg«, beklagten sich die Produzenten. »Die Lager sind übervoll, die Lagerung im Freien steht bevor.« Was speziell Schuhe betraf, so waren die Bestände des Groß- und Einzelhandels seit Beginn des Jahres sprunghaft angestiegen. In den Lagern des Großhandels, hieß es außerdem, würden sich »zur Zeit neun Millionen Paar Herren-, Damen- und Kinderschuhe stapeln«.
Die Verkaufsaktion am Alexanderplatz konnte dieses Übel selbstredend nicht beseitigen. Sie war in erster Linie eine Protestaktion, die denen »da oben« beweisen sollte, dass die Kunden Qualitätsprodukte aus DDR-Herstellung keineswegs verschmähten. Der Straßenverkauf von Konsumgütern sollte auf die Gefahren aufmerksam machen, die der ostdeutschen Wirtschaft, nicht nur den Erzeugern von Konsumgütern, drohte, wenn die neue Regierung nicht eingriff.
Warnstreiks in der ganzen Republik
Mit den Sorgen um den fehlenden Absatz breitete sich in den Betrieben die Angst vor der Arbeitslosigkeit aus – ein Phänomen, das in der DDR unbekannt war. Es mehrten sich seit den ersten Maitagen Meldungen aus Betrieben über bevorstehende bzw. bereits vollzogene Entlassungen beträchtlichen Ausmaßes.
Angehörige der Zentrale des Bau- und Montagekombinates (BMK) Ingenieurhochbau in Berlin berichteten am 10. Mai Reportern: »Von den 700 Beschäftigten der Kombinatsverwaltung ist für 400 ab 30. Juni der Ofen aus.« Bemühungen dieser Angestellten, sich entsprechend ihrer Qualifikation eine andere Arbeit zu suchen, seien bis dahin ergebnislos verlaufen. Gegenüber den Journalisten verwiesen die BMK-Angestellten auf Aussagen des zuständigen Arbeitsamtes Berlin-Köpenick, nach denen zu dieser Zeit »auf eine Stelle 20 Bewerber kämen«. Die Betriebsgewerkschaftsleitung des BMK hatte vergeblich auf Einflussnahme ihrer Industriegewerkschaft Bau-Holz gehofft. Die ließ aber nach dem Urteil der interviewten Arbeiter »mit ihrer Unterstützung im großen und ganzen auf sich warten«. Auf Rückfragen der Reporter beim Bezirksvorstand der Gewerkschaft hieß es: »Man kenne das Problem, schließlich sei das BMK nicht der einzige Baubetrieb, in dem Entlassungen geplant werden.« Mehr Antwort und Auskunft gab es von dieser Seite nicht.
Das BMK war nur einer von vielen Fällen. Auch an anderen Produktionsstandorten in der DDR kam es am 10. Mai zu Protestaktionen. Dem Aufruf ihrer Betriebsgewerkschaftsorganisationen, in den Warnstreik zu treten, schlossen sich Tausende Werktätige der Lausitzer Textil- und Lederindustrie an. Protestiert wurde in der Erfurter Schuhfabrik »Paul Schäfer«, im VEB Kindermoden Aschersleben, in den Bekleidungsbetrieben in Zwickau und Limbach-Oberfrohna, in den Schuhfabriken Ehrenfriedersdorf, Oschatz, Leipzig, Altenburg (damals Bezirk Leipzig) und in anderen sächsischen Stadtgemeinden. Die Gefahr, dass sich der Umsatz infolge der Währungsunion minimieren würde, bestand Mitte Mai auch, wenngleich nicht so ausgeprägt wie im Bereich der Leichtindustrie, in anderen Industriezweigen. So protestierten z. B. in Halle mehr als 500 Gewerkschafter der IG Chemie-Papier-Keramik, die u. a. Arbeitsplatzbeschaffungsprogramme und den Schutz des ostdeutschen Binnenmarktes forderten.
Wirtschaftliche und soziale Probleme hatten im Monat Mai nicht nur Industrie und Bauwesen. Eine Lebensmittelwelle aus dem Westen überrollte die DDR und schob einheimische Agrarprodukte gnadenlos beiseite. In den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) erhöhten sich die Tierbestände, die Milchtanks liefen über, der Eierberg wuchs, Frühgemüse musste verfüttert werden. Allerdings fanden sich die Genossenschaftsbauern weit seltener zu Protestaktionen zusammen als die Industriearbeiter, schon gar nicht zu überregionalen Aktionen. Doch die Unzufriedenheit war auch auf den Dörfern groß. Und sicherlich konnten viele Genossenschaftler jenem Satz zustimmen, der bei den Protesten der IG Chemie-Papier-Keramik in Halle am 10. Mai gefallen war: »Wir fordern eine soziale Marktwirtschaft, wie sie uns versprochen wurde.« Die Betroffenen appellierten an die Politik, das drohende Desaster zu verhindern. Doch deren Reaktion war aus Sicht der Protestierenden unbefriedigend.
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Protestaktion am Alex
Mit Beginn des Monats Mai kam es zu ersten handfesten Protesten. Die wohl spektakulärste Aktion fand am 10. Mai auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Arbeiter aus mehr als 50 Betrieben der Branche Textil, Bekleidung und Leder aus der ganzen Republik boten an jenem Donnerstag den Passanten ihre Waren an, die der Handel in Erwartung der Westwaren, die bald darauf ungebremst einströmen würden, den Produzenten nicht mehr abnahm. Dabei hatten die auf dem Alex ausstellenden Betriebe nach Meinung ihrer Belegschaften durchaus Qualität zu bieten. Das sahen auch viele Ostberliner Passanten so, die sich seit der Öffnung der Grenze im November 1989 ein Bild von Qualität und Preis der »Westwaren« machen konnten. Sie griffen zu, als am Alex modische Damenschuhe der Firma »Goldpunkt«, Kinderschuhe aus Zepernick oder Tischdecken von der Damastweberei Oberoderwitz angeboten wurden.
Sorgen um den Absatz ihrer Produkte machten sich seit Anfang Mai nicht nur die Firmen der Textilbranche. Die Zurückhaltung der Handelsbetriebe betraf die Konsumgüter herstellenden Unternehmen in fast allen Produktionszentren der DDR zwischen Ostseeküste und Erzgebirge. »Für das zweite Halbjahr sind sämtliche Verträge storniert«, erklärte ein Vertreter derjenigen Schuh- und Lederwarenhersteller, die die Aktion am Alexanderplatz organisiert hatten, den Reportern von Neues Deutschland, Berliner Zeitung und BZ am Abend, die zur Verkaufsaktion geeilt waren: »Alle Bemühungen seit Februar, die Regierung auf die Probleme aufmerksam zu machen und rechtzeitig flexible staatliche Preismaßnahmen (es galten ja weiterhin die DDR-Festpreise; jW) herbeizuführen, hatten bisher keinen oder mangelhaften Erfolg«, beklagten sich die Produzenten. »Die Lager sind übervoll, die Lagerung im Freien steht bevor.« Was speziell Schuhe betraf, so waren die Bestände des Groß- und Einzelhandels seit Beginn des Jahres sprunghaft angestiegen. In den Lagern des Großhandels, hieß es außerdem, würden sich »zur Zeit neun Millionen Paar Herren-, Damen- und Kinderschuhe stapeln«.
Die Verkaufsaktion am Alexanderplatz konnte dieses Übel selbstredend nicht beseitigen. Sie war in erster Linie eine Protestaktion, die denen »da oben« beweisen sollte, dass die Kunden Qualitätsprodukte aus DDR-Herstellung keineswegs verschmähten. Der Straßenverkauf von Konsumgütern sollte auf die Gefahren aufmerksam machen, die der ostdeutschen Wirtschaft, nicht nur den Erzeugern von Konsumgütern, drohte, wenn die neue Regierung nicht eingriff.
Warnstreiks in der ganzen Republik
Mit den Sorgen um den fehlenden Absatz breitete sich in den Betrieben die Angst vor der Arbeitslosigkeit aus – ein Phänomen, das in der DDR unbekannt war. Es mehrten sich seit den ersten Maitagen Meldungen aus Betrieben über bevorstehende bzw. bereits vollzogene Entlassungen beträchtlichen Ausmaßes.
Angehörige der Zentrale des Bau- und Montagekombinates (BMK) Ingenieurhochbau in Berlin berichteten am 10. Mai Reportern: »Von den 700 Beschäftigten der Kombinatsverwaltung ist für 400 ab 30. Juni der Ofen aus.« Bemühungen dieser Angestellten, sich entsprechend ihrer Qualifikation eine andere Arbeit zu suchen, seien bis dahin ergebnislos verlaufen. Gegenüber den Journalisten verwiesen die BMK-Angestellten auf Aussagen des zuständigen Arbeitsamtes Berlin-Köpenick, nach denen zu dieser Zeit »auf eine Stelle 20 Bewerber kämen«. Die Betriebsgewerkschaftsleitung des BMK hatte vergeblich auf Einflussnahme ihrer Industriegewerkschaft Bau-Holz gehofft. Die ließ aber nach dem Urteil der interviewten Arbeiter »mit ihrer Unterstützung im großen und ganzen auf sich warten«. Auf Rückfragen der Reporter beim Bezirksvorstand der Gewerkschaft hieß es: »Man kenne das Problem, schließlich sei das BMK nicht der einzige Baubetrieb, in dem Entlassungen geplant werden.« Mehr Antwort und Auskunft gab es von dieser Seite nicht.
Das BMK war nur einer von vielen Fällen. Auch an anderen Produktionsstandorten in der DDR kam es am 10. Mai zu Protestaktionen. Dem Aufruf ihrer Betriebsgewerkschaftsorganisationen, in den Warnstreik zu treten, schlossen sich Tausende Werktätige der Lausitzer Textil- und Lederindustrie an. Protestiert wurde in der Erfurter Schuhfabrik »Paul Schäfer«, im VEB Kindermoden Aschersleben, in den Bekleidungsbetrieben in Zwickau und Limbach-Oberfrohna, in den Schuhfabriken Ehrenfriedersdorf, Oschatz, Leipzig, Altenburg (damals Bezirk Leipzig) und in anderen sächsischen Stadtgemeinden. Die Gefahr, dass sich der Umsatz infolge der Währungsunion minimieren würde, bestand Mitte Mai auch, wenngleich nicht so ausgeprägt wie im Bereich der Leichtindustrie, in anderen Industriezweigen. So protestierten z. B. in Halle mehr als 500 Gewerkschafter der IG Chemie-Papier-Keramik, die u. a. Arbeitsplatzbeschaffungsprogramme und den Schutz des ostdeutschen Binnenmarktes forderten.
Wirtschaftliche und soziale Probleme hatten im Monat Mai nicht nur Industrie und Bauwesen. Eine Lebensmittelwelle aus dem Westen überrollte die DDR und schob einheimische Agrarprodukte gnadenlos beiseite. In den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) erhöhten sich die Tierbestände, die Milchtanks liefen über, der Eierberg wuchs, Frühgemüse musste verfüttert werden. Allerdings fanden sich die Genossenschaftsbauern weit seltener zu Protestaktionen zusammen als die Industriearbeiter, schon gar nicht zu überregionalen Aktionen. Doch die Unzufriedenheit war auch auf den Dörfern groß. Und sicherlich konnten viele Genossenschaftler jenem Satz zustimmen, der bei den Protesten der IG Chemie-Papier-Keramik in Halle am 10. Mai gefallen war: »Wir fordern eine soziale Marktwirtschaft, wie sie uns versprochen wurde.« Die Betroffenen appellierten an die Politik, das drohende Desaster zu verhindern. Doch deren Reaktion war aus Sicht der Protestierenden unbefriedigend.
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Politik sitzt aus
Der zweifellos einflussreichste Adressat der Forderungen, Bundeskanzler Kohl, nahm zu den Problemen nicht direkt Stellung. Er drängte vielmehr auf eine Beschleunigung der laufenden Verhandlungen für den Staatsvertrag über eine Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion. Gewiss, so Kohl, es gebe in Ostdeutschland vorübergehend »Umstellungsprobleme« und »Schwierigkeiten«. Diese seien jedoch mit Hilfe der Anwendung der Methoden einer »blühenden Wirtschaft, der bundesdeutschen, zu meistern«. Innerhalb relativ kurzer Zeit würden nach Abschluss des Staatsvertrages und dessen Inkrafttreten Anfang Juli bald auch »die Länder in der DDR blühende Landschaften sein«.
De Maizière machte es sich nicht ganz so einfach wie der Chef der West-CDU. Doch noch im Mai glaubte er, das von vielen DDR-Bürgern befürchtete Ungemach mit dem von ihm angestrebten Umtausch von DDR-Mark in D-Mark im Verhältnis 1:1 beseitigen zu können. Auch die mitregierende Ost-SPD zeigte gegenüber den Protestierenden wenig Verständnis. Selbst ihr populärstes Mitglied, die Ministerin für Arbeit und Soziales, Regine Hildebrandt, bezeichnete in einem Interview die meisten Forderungen, die aus den Betrieben kamen, als »abwegig«. Beim desolaten Zustand der Wirtschaft der DDR müsse vielmehr versucht werden, »das Wenige, was wir haben, gerecht zu verteilen«. Streiks hielt sie ausdrücklich für unangebracht.
Aber immerhin forderte die Ministerin Sofortmaßnahmen gegen die Flut von westlichen Produkten, mit denen die DDR überschwemmt wurde, damit rentable Betriebe überleben könnten. Über das von den Streikenden und ihren Gewerkschaftern angesprochene Problem der zu Ladenhütern gewordenen DDR-Produkte machte sie sich allerdings keine großen Sorgen: »Nach dem 2. Juli werden in der DDR viele Leute sehr wenig Geld haben. Und diese Leute werden Waren aus der DDR-Produktion kaufen, weil sie eben billiger sind«.
Diese Auffassung teilte man an der Spitze der PDS nicht. Doch kam auch von dort kaum ermutigender Zuspruch. Die Führungsriege der demokratischen Sozialisten war auf ihrer Klausurtagung am 13./14. Mai noch damit beschäftigt, eine Antwort auf Grundsatzfragen zu finden, die in Statut und Programm der erneuerten Partei ihren Niederschlag finden sollten. Dazu gehörte beispielsweise: »Wo steht die Partei des Demokratischen Sozialismus? Welche Schritte sind bei ihrer Erneuerung zu gehen?«
Auch die Vertreter der Bürgerbewegung beschäftigten sich vorrangig mit der weiteren politischen Ausgestaltung der DDR und wenig mit der Planung der notwendigen wirtschaftlichen bzw. wirtschaftspolitischen Veränderungen. Eines ihrer prominentesten Mitglieder, der Jurist Peter-Michael Diestel hatte diesbezüglich in einem Interview, das er Mitte Mai der Süddeutschen Zeitung gab, lediglich die auf eine weitere Beschleunigung der Verhandlungen über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion drängende De-Maizière-Regierung darauf hingewiesen, dass es sich im Osten Deutschlands um ein »völlig unorganisiertes, im Aufbau befindliches, noch nicht leistungsfähiges System« handele, das vor allem eines brauche: Zeit, sich zu entwickeln und auszuprägen.
Konnten sich die bei der Organisierung der Warnstreiks und anderen Protestaktionen von der Politik weitgehend allein gelassenen Betriebsbelegschaften auf ihre Gewerkschaften stützen? Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) befand sich seit den Volkskammerwahlen vom März in desolatem Zustand, vielerorts faktisch in Auflösung. Sein politisches Ende kam am 9. Mai. Der FDGB, ohnehin nur noch als Dachverband existierend, verschwand. An seine Stelle trat vorläufig ein lockerer Bund der Vorsitzenden der Industriegewerkschaften, geführt von einem dreiköpfigen Sprecherrat. Der Forderung einer Reihe von Betriebsgewerkschaftsleitungen nach einem Generalstreik schloss sich der Sprecherrat nicht an. Die Gewerkschaften seien »nicht angetreten, um die gegenwärtige Lage noch weiter zu destabilisieren«, hieß es in seiner Stellungnahme am 10. Mai.
Nachträgliche Verleumdung
Die unzureichende politische und geringe organisatorische Unterstützung der Streikenden auf überbetrieblicher Ebene war wohl die entscheidende Ursache dafür, dass die weit verbreiteten und vielseitigen Protestaktionen ostdeutscher Betriebsbelegschaften bei den in der »Noch-DDR« Verantwortung tragenden Politikern kaum etwas bewirkten, im Westen Deutschlands kaum bemerkt wurden und in der offiziellen Geschichtsschreibung über das Zustandekommen der deutschen Einheit praktisch keinen Platz gefunden haben. Vielmehr wird heute in Rückblicken auf den übereilten wirtschaftlichen Zusammenschluss beider deutscher Staaten viel über die begeisterte Zustimmung der DDR-Bevölkerung geschrieben, teilweise die Verantwortung für das rasche Vereinigungstempo sogar ganz dem Osten zugeschrieben. Nicht etwa Kanzler Kohl sei Schuld an dem ökonomischen und sozialen Desaster gewesen, das Ostdeutschland im Ergebnis der rücksichtslos vorangetriebenen Vereinigung erfahren habe, sondern die DDR-Bevölkerung in ihrem Drängen, so rasch wie möglich an die bundesdeutschen Fleischtöpfe zu gelangen. Ganz in diesem Sinne hat der Publizist Matthias Geis im März 2020 in einem umfangreichen Beitrag in der als seriös geltenden Wochenzeitung Die Zeit behauptet: »Es waren die DDR-Bürger, die die schnelle D-Mark erzwangen, um endlich am westlichen Konsum teilhaben zu können. Sie stellten aber nicht die Frage, wer dann noch die Ostprodukte haben wollte, für die man selbst keine D-Mark mehr verschwenden würde. Und wer dann die Arbeitsplätze in den ostdeutschen Fabriken finanzieren würde. Dass man die Bedürfnisse nun endlich befriedigen könnte, bedrohte die eigene Existenz.«
Es spricht für die Zeit, dass sie drei Wochen später mehrere Zuschriften von Lesern zum Artikel von Geis veröffentlichte, in denen diese sich über dessen Darstellung der Ereignisse von Frühjahr 1990 empörten und die mehrheitliche Zustimmung der DDR-Bürger zu Kohls Plänen, die auch sie nicht leugneten, mit deren Bereitschaft, an Kohls Versprechen von den »blühenden Landschaft« zu glauben, erklärten. Die Ostdeutschen, hieß es in einer der kritischen Leserzuschriften, seien »einem Verführer aufgesessen«.
Das stimmt tatsächlich für die Mehrheit von ihnen, nicht aber für jene entschlossene Minderheit, die im Mai durch Warnstreiks und vielfältige andere Protestaktionen auf die im Falle des Vollzugs einer überstürzten Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unvermeidbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Existenz der Betriebe und die Arbeitsplätze ihrer Belegschaften aufmerksam gemacht hatte. Auf ihre Warnstreiks hatten die Politiker – auch diejenigen von der Opposition – wie die Gewerkschaften ablehnend reagiert. Trotz ihres Misserfolgs: Die Arbeiter und Angestellten, die im Frühjahr 1990 in so vielfältigen Formen protestierten, sollte die Geschichtsschreibung nicht vergessen.
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Politik sitzt aus
Der zweifellos einflussreichste Adressat der Forderungen, Bundeskanzler Kohl, nahm zu den Problemen nicht direkt Stellung. Er drängte vielmehr auf eine Beschleunigung der laufenden Verhandlungen für den Staatsvertrag über eine Wirtschafts- Währungs- und Sozialunion. Gewiss, so Kohl, es gebe in Ostdeutschland vorübergehend »Umstellungsprobleme« und »Schwierigkeiten«. Diese seien jedoch mit Hilfe der Anwendung der Methoden einer »blühenden Wirtschaft, der bundesdeutschen, zu meistern«. Innerhalb relativ kurzer Zeit würden nach Abschluss des Staatsvertrages und dessen Inkrafttreten Anfang Juli bald auch »die Länder in der DDR blühende Landschaften sein«.
De Maizière machte es sich nicht ganz so einfach wie der Chef der West-CDU. Doch noch im Mai glaubte er, das von vielen DDR-Bürgern befürchtete Ungemach mit dem von ihm angestrebten Umtausch von DDR-Mark in D-Mark im Verhältnis 1:1 beseitigen zu können. Auch die mitregierende Ost-SPD zeigte gegenüber den Protestierenden wenig Verständnis. Selbst ihr populärstes Mitglied, die Ministerin für Arbeit und Soziales, Regine Hildebrandt, bezeichnete in einem Interview die meisten Forderungen, die aus den Betrieben kamen, als »abwegig«. Beim desolaten Zustand der Wirtschaft der DDR müsse vielmehr versucht werden, »das Wenige, was wir haben, gerecht zu verteilen«. Streiks hielt sie ausdrücklich für unangebracht.
Aber immerhin forderte die Ministerin Sofortmaßnahmen gegen die Flut von westlichen Produkten, mit denen die DDR überschwemmt wurde, damit rentable Betriebe überleben könnten. Über das von den Streikenden und ihren Gewerkschaftern angesprochene Problem der zu Ladenhütern gewordenen DDR-Produkte machte sie sich allerdings keine großen Sorgen: »Nach dem 2. Juli werden in der DDR viele Leute sehr wenig Geld haben. Und diese Leute werden Waren aus der DDR-Produktion kaufen, weil sie eben billiger sind«.
Diese Auffassung teilte man an der Spitze der PDS nicht. Doch kam auch von dort kaum ermutigender Zuspruch. Die Führungsriege der demokratischen Sozialisten war auf ihrer Klausurtagung am 13./14. Mai noch damit beschäftigt, eine Antwort auf Grundsatzfragen zu finden, die in Statut und Programm der erneuerten Partei ihren Niederschlag finden sollten. Dazu gehörte beispielsweise: »Wo steht die Partei des Demokratischen Sozialismus? Welche Schritte sind bei ihrer Erneuerung zu gehen?«
Auch die Vertreter der Bürgerbewegung beschäftigten sich vorrangig mit der weiteren politischen Ausgestaltung der DDR und wenig mit der Planung der notwendigen wirtschaftlichen bzw. wirtschaftspolitischen Veränderungen. Eines ihrer prominentesten Mitglieder, der Jurist Peter-Michael Diestel hatte diesbezüglich in einem Interview, das er Mitte Mai der Süddeutschen Zeitung gab, lediglich die auf eine weitere Beschleunigung der Verhandlungen über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion drängende De-Maizière-Regierung darauf hingewiesen, dass es sich im Osten Deutschlands um ein »völlig unorganisiertes, im Aufbau befindliches, noch nicht leistungsfähiges System« handele, das vor allem eines brauche: Zeit, sich zu entwickeln und auszuprägen.
Konnten sich die bei der Organisierung der Warnstreiks und anderen Protestaktionen von der Politik weitgehend allein gelassenen Betriebsbelegschaften auf ihre Gewerkschaften stützen? Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) befand sich seit den Volkskammerwahlen vom März in desolatem Zustand, vielerorts faktisch in Auflösung. Sein politisches Ende kam am 9. Mai. Der FDGB, ohnehin nur noch als Dachverband existierend, verschwand. An seine Stelle trat vorläufig ein lockerer Bund der Vorsitzenden der Industriegewerkschaften, geführt von einem dreiköpfigen Sprecherrat. Der Forderung einer Reihe von Betriebsgewerkschaftsleitungen nach einem Generalstreik schloss sich der Sprecherrat nicht an. Die Gewerkschaften seien »nicht angetreten, um die gegenwärtige Lage noch weiter zu destabilisieren«, hieß es in seiner Stellungnahme am 10. Mai.
Nachträgliche Verleumdung
Die unzureichende politische und geringe organisatorische Unterstützung der Streikenden auf überbetrieblicher Ebene war wohl die entscheidende Ursache dafür, dass die weit verbreiteten und vielseitigen Protestaktionen ostdeutscher Betriebsbelegschaften bei den in der »Noch-DDR« Verantwortung tragenden Politikern kaum etwas bewirkten, im Westen Deutschlands kaum bemerkt wurden und in der offiziellen Geschichtsschreibung über das Zustandekommen der deutschen Einheit praktisch keinen Platz gefunden haben. Vielmehr wird heute in Rückblicken auf den übereilten wirtschaftlichen Zusammenschluss beider deutscher Staaten viel über die begeisterte Zustimmung der DDR-Bevölkerung geschrieben, teilweise die Verantwortung für das rasche Vereinigungstempo sogar ganz dem Osten zugeschrieben. Nicht etwa Kanzler Kohl sei Schuld an dem ökonomischen und sozialen Desaster gewesen, das Ostdeutschland im Ergebnis der rücksichtslos vorangetriebenen Vereinigung erfahren habe, sondern die DDR-Bevölkerung in ihrem Drängen, so rasch wie möglich an die bundesdeutschen Fleischtöpfe zu gelangen. Ganz in diesem Sinne hat der Publizist Matthias Geis im März 2020 in einem umfangreichen Beitrag in der als seriös geltenden Wochenzeitung Die Zeit behauptet: »Es waren die DDR-Bürger, die die schnelle D-Mark erzwangen, um endlich am westlichen Konsum teilhaben zu können. Sie stellten aber nicht die Frage, wer dann noch die Ostprodukte haben wollte, für die man selbst keine D-Mark mehr verschwenden würde. Und wer dann die Arbeitsplätze in den ostdeutschen Fabriken finanzieren würde. Dass man die Bedürfnisse nun endlich befriedigen könnte, bedrohte die eigene Existenz.«
Es spricht für die Zeit, dass sie drei Wochen später mehrere Zuschriften von Lesern zum Artikel von Geis veröffentlichte, in denen diese sich über dessen Darstellung der Ereignisse von Frühjahr 1990 empörten und die mehrheitliche Zustimmung der DDR-Bürger zu Kohls Plänen, die auch sie nicht leugneten, mit deren Bereitschaft, an Kohls Versprechen von den »blühenden Landschaft« zu glauben, erklärten. Die Ostdeutschen, hieß es in einer der kritischen Leserzuschriften, seien »einem Verführer aufgesessen«.
Das stimmt tatsächlich für die Mehrheit von ihnen, nicht aber für jene entschlossene Minderheit, die im Mai durch Warnstreiks und vielfältige andere Protestaktionen auf die im Falle des Vollzugs einer überstürzten Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion unvermeidbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen für die Existenz der Betriebe und die Arbeitsplätze ihrer Belegschaften aufmerksam gemacht hatte. Auf ihre Warnstreiks hatten die Politiker – auch diejenigen von der Opposition – wie die Gewerkschaften ablehnend reagiert. Trotz ihres Misserfolgs: Die Arbeiter und Angestellten, die im Frühjahr 1990 in so vielfältigen Formen protestierten, sollte die Geschichtsschreibung nicht vergessen.
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•NEUER BEITRAG27.05.2020, 14:48 Uhr
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DDR: die alternativen Treuhand-Konzepte
Es gehört ebenfalls hierher: Die vom die räuberischste Lösung suchenden dt. Imp. untergebutterten alternativen Treuhand-Konzepte der Konterrevolution '89/'90. jW gestern:
Anteil oder Enteignung
In der Diskussion um das zweite Treuhandkonzept wurde 1990 auch die Übertragung der Betriebe an die Beschäftigten ins Spiel gebracht. Über heute fast vergessene Vorschläge
Von Jörg Roesler
Es gibt kaum eine in der »Wendezeit« geschaffene Institution, die heute unter den ehemaligen DDR-Bürgern einen so schlechten Ruf genießt, wie die Treuhandanstalt (THA). Dies resultiert vor allem aus deren Umgang mit dem Volkseigentum und den Privatisierungen, wie sie unter den Regierungen von Lothar de Maizière und Helmut Kohl innerhalb von sechs Wochen im Mai und Juni 1990 ohne die Berücksichtigung der vielseitigen öffentlich diskutierten Vorschläge, ausgehandelt und mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ab Juli 1990 auch durchgesetzt wurde.
Fast vergessen ist heutzutage, dass bereits seit den ersten Monaten des Jahres unter der Regierung von Hans Modrow eine erste Treuhandanstalt existiert hatte, in der Geschichtsliteratur auch als »Ur-THA« bezeichnet. Noch weniger bekannt ist, dass es nach der Abwahl der Regierung Modrow Mitte März 1990 eine öffentliche Diskussion darüber gab, wie die weitere Arbeit der Treuhandanstalt unter der neugebildeten Regierung de Maizière gestaltet werden sollte. Wenn in der einschlägigen Literatur über das Zustandekommen der deutschen Einheit gerne so getan wird, als ob die Arbeit dieser zweiten THA die unter den gegebenen Umständen einzig mögliche Variante der Weiterentwicklung der Treuhandarbeit war, so sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass es – vor allem bezüglich des Umgangs mit dem Volkseigentum – noch bis in den Juni hinein andere Konzepte gegeben hat als das schlussendlich ab Juli 1990 bis Dezember 1994 vom Bundeskanzler umgesetzte.
Die Ausgangslage
Nach dem überraschenden Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 – für die CDU entschieden sich mehr als 40 Prozent der ostdeutschen Wähler – und nachdem der Vorsitzende der CDU (Ost) Lothar de Maizière Hans Modrow (PDS) als DDR-Ministerpräsidenten abgelöst hatte, verlor auch das Eigentumskonzept für die volkseigenen Betriebe (VEB), das von der Regierung Modrow unter Wirtschaftsministerin Christa Luft entwickelt worden war, seine Gültigkeit. Dieses Konzept hatte vorgesehen, in der angestrebten »sozialistischen Marktwirtschaft« etwa die Hälfte der VEB zu verkaufen, eventuell mit Preisnachlässen. Im Rahmen dieser Aktion war auch die vollständige Rückgabe der 1972 von der DDR-Regierung verstaatlichten Klein- und Mittelbetriebe vorgesehen. Die übrigen Produktionsstätten sollten erst einmal staatliches Gemeineigentum in einer dafür gegründeten Treuhandanstalt bleiben, Grund und Boden sollten es generell bleiben.
Die Diskussion, was mit den bisherigen VEB unter den neuen politischen Rahmenbedingungen geschehen sollte, brachte bis Mai/Juni 1990 eine Fülle interessanter Vorschläge hervor – vor allem im Osten, aber auch im Westen Deutschlands. Der spätere Finanzsenator Elmar Pieroth war einer derjenigen, die verlangten, dass die ostdeutschen Betriebe, sofern sie nicht von den früheren Eigentümern zurückgekauft werden konnten oder diese es nicht wollten, von leitenden Angestellten mit Hilfe der Banken in Privateigentum umgewandelt oder über Bürgeraktien zum Vorzugskurs den Mitarbeitern zum Kauf angeboten werden sollten. Die am Runden Tisch vertretenen Bürgerbewegungen verlangten die vollständige Verteilung des Volkseigentums an die Bürger der DDR. Die größte Aufmerksamkeit gewann in der Diskussion zeitweise der Vorschlag der Verteilung von Anteilsscheinen am von der THA verwalteten Eigentum an die DDR-Bürger. Die ostdeutschen linken Politiker, die in erster Linie die entsprechenden Vorschläge machten, versprachen sich von den Anteilsübertragungen an Betriebsbelegschaften bzw. vom Verkauf der Aktien an die ostdeutsche Bevölkerung in erster Linie, dass das Volkseigentum aus seiner Anonymität herausgeführt würde und die Bürger stärker an den Ergebnissen ihrer Arbeit interessiert sein würden.
Wie sah das der einfache DDR-Bürger? Gemäß einer vom in Ostberlin beheimateten »Institut für sozialwissenschaftliche Forschung« im März 1990 durchgeführten Befragung zur Privatisierung der Betriebe und Kombinate sprachen sich 68 Prozent dafür aus, das Volkseigentum zu erhalten, es hinsichtlich der Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes allerdings wirksamer zu gestalten und daneben andere Eigentumsformen zuzulassen bzw. zu entwickeln. Bei diesen aus den VEB entstehenden Unternehmen sollte es sich vorrangig um mittlere und kleinere Betriebe handeln. Von zwei Dritteln der Ostdeutschen wurde demnach ein Konzept befürwortet, das gemischtes Eigentum an den Betrieben vorsah, wie das auch den linken Parteien und Bewegungen in der DDR im Frühjahr 1990 vorschwebte.
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Anteil oder Enteignung
In der Diskussion um das zweite Treuhandkonzept wurde 1990 auch die Übertragung der Betriebe an die Beschäftigten ins Spiel gebracht. Über heute fast vergessene Vorschläge
Von Jörg Roesler
Es gibt kaum eine in der »Wendezeit« geschaffene Institution, die heute unter den ehemaligen DDR-Bürgern einen so schlechten Ruf genießt, wie die Treuhandanstalt (THA). Dies resultiert vor allem aus deren Umgang mit dem Volkseigentum und den Privatisierungen, wie sie unter den Regierungen von Lothar de Maizière und Helmut Kohl innerhalb von sechs Wochen im Mai und Juni 1990 ohne die Berücksichtigung der vielseitigen öffentlich diskutierten Vorschläge, ausgehandelt und mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ab Juli 1990 auch durchgesetzt wurde.
Fast vergessen ist heutzutage, dass bereits seit den ersten Monaten des Jahres unter der Regierung von Hans Modrow eine erste Treuhandanstalt existiert hatte, in der Geschichtsliteratur auch als »Ur-THA« bezeichnet. Noch weniger bekannt ist, dass es nach der Abwahl der Regierung Modrow Mitte März 1990 eine öffentliche Diskussion darüber gab, wie die weitere Arbeit der Treuhandanstalt unter der neugebildeten Regierung de Maizière gestaltet werden sollte. Wenn in der einschlägigen Literatur über das Zustandekommen der deutschen Einheit gerne so getan wird, als ob die Arbeit dieser zweiten THA die unter den gegebenen Umständen einzig mögliche Variante der Weiterentwicklung der Treuhandarbeit war, so sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass es – vor allem bezüglich des Umgangs mit dem Volkseigentum – noch bis in den Juni hinein andere Konzepte gegeben hat als das schlussendlich ab Juli 1990 bis Dezember 1994 vom Bundeskanzler umgesetzte.
Die Ausgangslage
Nach dem überraschenden Ergebnis der Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 – für die CDU entschieden sich mehr als 40 Prozent der ostdeutschen Wähler – und nachdem der Vorsitzende der CDU (Ost) Lothar de Maizière Hans Modrow (PDS) als DDR-Ministerpräsidenten abgelöst hatte, verlor auch das Eigentumskonzept für die volkseigenen Betriebe (VEB), das von der Regierung Modrow unter Wirtschaftsministerin Christa Luft entwickelt worden war, seine Gültigkeit. Dieses Konzept hatte vorgesehen, in der angestrebten »sozialistischen Marktwirtschaft« etwa die Hälfte der VEB zu verkaufen, eventuell mit Preisnachlässen. Im Rahmen dieser Aktion war auch die vollständige Rückgabe der 1972 von der DDR-Regierung verstaatlichten Klein- und Mittelbetriebe vorgesehen. Die übrigen Produktionsstätten sollten erst einmal staatliches Gemeineigentum in einer dafür gegründeten Treuhandanstalt bleiben, Grund und Boden sollten es generell bleiben.
Die Diskussion, was mit den bisherigen VEB unter den neuen politischen Rahmenbedingungen geschehen sollte, brachte bis Mai/Juni 1990 eine Fülle interessanter Vorschläge hervor – vor allem im Osten, aber auch im Westen Deutschlands. Der spätere Finanzsenator Elmar Pieroth war einer derjenigen, die verlangten, dass die ostdeutschen Betriebe, sofern sie nicht von den früheren Eigentümern zurückgekauft werden konnten oder diese es nicht wollten, von leitenden Angestellten mit Hilfe der Banken in Privateigentum umgewandelt oder über Bürgeraktien zum Vorzugskurs den Mitarbeitern zum Kauf angeboten werden sollten. Die am Runden Tisch vertretenen Bürgerbewegungen verlangten die vollständige Verteilung des Volkseigentums an die Bürger der DDR. Die größte Aufmerksamkeit gewann in der Diskussion zeitweise der Vorschlag der Verteilung von Anteilsscheinen am von der THA verwalteten Eigentum an die DDR-Bürger. Die ostdeutschen linken Politiker, die in erster Linie die entsprechenden Vorschläge machten, versprachen sich von den Anteilsübertragungen an Betriebsbelegschaften bzw. vom Verkauf der Aktien an die ostdeutsche Bevölkerung in erster Linie, dass das Volkseigentum aus seiner Anonymität herausgeführt würde und die Bürger stärker an den Ergebnissen ihrer Arbeit interessiert sein würden.
Wie sah das der einfache DDR-Bürger? Gemäß einer vom in Ostberlin beheimateten »Institut für sozialwissenschaftliche Forschung« im März 1990 durchgeführten Befragung zur Privatisierung der Betriebe und Kombinate sprachen sich 68 Prozent dafür aus, das Volkseigentum zu erhalten, es hinsichtlich der Befriedigung der Bedürfnisse des Volkes allerdings wirksamer zu gestalten und daneben andere Eigentumsformen zuzulassen bzw. zu entwickeln. Bei diesen aus den VEB entstehenden Unternehmen sollte es sich vorrangig um mittlere und kleinere Betriebe handeln. Von zwei Dritteln der Ostdeutschen wurde demnach ein Konzept befürwortet, das gemischtes Eigentum an den Betrieben vorsah, wie das auch den linken Parteien und Bewegungen in der DDR im Frühjahr 1990 vorschwebte.
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•NEUER BEITRAG27.05.2020, 14:50 Uhr
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»Marktwirtschaftlicher Urknall«
Unterstützung für eine derartige Neuregulierung der Eigentumsverhältnisse der DDR, d.h. für eine Vielfalt an Eigentumsformen an Stelle von nur staatlichem bzw. nur privatem Eigentum in der Industrie fand sich auch in bundesdeutschen Wirtschaftskreisen, unter Ökonomen wie auch bei prominenten Konzernchefs. In diesem Sinne hatte sich der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« in einem Sondergutachten zur Transformation der DDR-Wirtschaft zwar für die Entflechtung der Kombinate und die grundsätzliche Privatisierung der VEB entschieden, sich jedoch gegen eine »Überführung der Betriebe in eine staatsfreie Wirtschaft« ausgesprochen. Unter Privatisierung verstanden die »Wirtschaftsweisen« gemäß ihrem Konzept lediglich die Beseitigung des rein staatlichen Eigentums. Sie befürworteten jedoch den anteiligen Verkauf der aus den VEB hervorgegangenen Kapitalgesellschaften an die DDR-Bürger bzw. die Überlassung der Unternehmen an ihre Belegschaften mittels Erwerb von Anteilsscheinen, wie auch die Bildung von Joint Ventures, von gemischten staatlich-privaten Unternehmen. Die Verwirklichung derartiger Vorschläge verlange Zeit und ein stufenweises Vorgehen bei der Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse.
Kaum einer der prominenten bundesdeutschen Wirtschaftsvertreter hat das seinerzeit deutlicher ausgesprochen als der AEG-Vorsitzende Heinz Dürr. In einem Interview im Spiegel (6.11.1989) wandte er sich in seiner Argumentation explizit auch gegen andersartige Vorstellungen mancher Manager. Bei der in Ostdeutschland zweifellos anstehenden Transformation, »kann es nicht heißen, bundesdeutsche Verhältnisse zu kopieren«. Dürr warnte davor, »nur so einfach draufloszuwirtschaften und an die unsichtbare Hand des Marktes zu glauben«. Das angestrebte Ziel, so der AEG-Vorsitzende, »kann wohl nur in mehreren Etappen erreicht werden«. Denn die Umstellung des Wirtschaftssystems brauche Zeit.
Heinz Dürr scheint geahnt zu haben, wie etliche seiner Zunft die Belegschaften der ostdeutschen Betriebe zu behandeln beabsichtigten, als er ihnen riet: »Wir sollten nicht überheblich sein und unseren Kollegen in der DDR jegliche Marketing- und Führungsfähigkeit absprechen. (...) Denn die Facharbeiter, Kaufleute und Ingenieure im anderen deutschen Staat sind nicht weniger fähig und fleißig als die in der Bundesrepublik.«
Die Ratschläge Dürrs und einiger anderer westdeutscher Fachleute, so prominent sie bzw. die Institutionen, für die sie sprachen, auch waren, stießen in der Bundesregierung auf taube Ohren. Unter den Mitgliedern der Bundesregierung kümmerte sich vor allem Finanzminister Theodor Waigel (CSU) um die im Osten Deutschlands anzustrebende Eigentumsordnung. Die Beteiligung der Bürger oder Belegschaften an ihren Betrieben lehnte er ab: »Mit dem Offenbarungseid des Kommunismus haben auch alle Wunschvorstellungen von einem angeblich idealen Kompromiss der Ordnungssysteme, von einer ›gemischten Wirtschaft‹ abgedankt.« (Bayernkurier, 29.9.1990) Diesbezüglich könne es, so Waigel, keine Kompromisse geben. »Auch 50, 60 oder 80 Prozent Marktwirtschaft«, ließ der Bundesfinanzminister verlauten, könnten nicht funktionieren, »sondern bedeuten immer einen Verlust an Freiheit und wirtschaftlicher Effizienz.«
Die von der Ost-CDU geführte Regierung de Maizière hatte ihre Vorstellungen, wie die Treuhandanstalt mit dem Volkseigentum umgehen sollte, in ihrer Regierungserklärung zunächst noch nicht so eindeutig formuliert. Sie stellte der THA die vage Aufgabe, ihre Arbeit so zu gestalten, »dass damit ein Instrument zur Beeinflussung der Entflechtung volkseigener Betriebe und zur Überführung in geeignete Rechtsformen geschaffen wird«.
In der Praxis folgte die letzte DDR-Regierung dann allerdings vor allem den Vorschlägen des unternehmerfreundlichen Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln. In dessen »Vorteile der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands« betitelten, 1990 unter Leitung des ordoliberalen Kölner Universitätsprofessors Hans Willgerodt ausgearbeiteten Gutachten wurde die möglichst rasche und vollständige Privatisierung der volkseigenen Betriebe an Unternehmer bzw. an Unternehmen, die sich in der Marktwirtschaft bereits bewährt hätten, als Voraussetzung dafür bezeichnet, dass es in Ostdeutschland einen »marktwirtschaftlichen Urknall« geben könne, dass »die Motivation zur Leistung wiederbelebt werden wird«.
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»Marktwirtschaftlicher Urknall«
Unterstützung für eine derartige Neuregulierung der Eigentumsverhältnisse der DDR, d.h. für eine Vielfalt an Eigentumsformen an Stelle von nur staatlichem bzw. nur privatem Eigentum in der Industrie fand sich auch in bundesdeutschen Wirtschaftskreisen, unter Ökonomen wie auch bei prominenten Konzernchefs. In diesem Sinne hatte sich der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« in einem Sondergutachten zur Transformation der DDR-Wirtschaft zwar für die Entflechtung der Kombinate und die grundsätzliche Privatisierung der VEB entschieden, sich jedoch gegen eine »Überführung der Betriebe in eine staatsfreie Wirtschaft« ausgesprochen. Unter Privatisierung verstanden die »Wirtschaftsweisen« gemäß ihrem Konzept lediglich die Beseitigung des rein staatlichen Eigentums. Sie befürworteten jedoch den anteiligen Verkauf der aus den VEB hervorgegangenen Kapitalgesellschaften an die DDR-Bürger bzw. die Überlassung der Unternehmen an ihre Belegschaften mittels Erwerb von Anteilsscheinen, wie auch die Bildung von Joint Ventures, von gemischten staatlich-privaten Unternehmen. Die Verwirklichung derartiger Vorschläge verlange Zeit und ein stufenweises Vorgehen bei der Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse.
Kaum einer der prominenten bundesdeutschen Wirtschaftsvertreter hat das seinerzeit deutlicher ausgesprochen als der AEG-Vorsitzende Heinz Dürr. In einem Interview im Spiegel (6.11.1989) wandte er sich in seiner Argumentation explizit auch gegen andersartige Vorstellungen mancher Manager. Bei der in Ostdeutschland zweifellos anstehenden Transformation, »kann es nicht heißen, bundesdeutsche Verhältnisse zu kopieren«. Dürr warnte davor, »nur so einfach draufloszuwirtschaften und an die unsichtbare Hand des Marktes zu glauben«. Das angestrebte Ziel, so der AEG-Vorsitzende, »kann wohl nur in mehreren Etappen erreicht werden«. Denn die Umstellung des Wirtschaftssystems brauche Zeit.
Heinz Dürr scheint geahnt zu haben, wie etliche seiner Zunft die Belegschaften der ostdeutschen Betriebe zu behandeln beabsichtigten, als er ihnen riet: »Wir sollten nicht überheblich sein und unseren Kollegen in der DDR jegliche Marketing- und Führungsfähigkeit absprechen. (...) Denn die Facharbeiter, Kaufleute und Ingenieure im anderen deutschen Staat sind nicht weniger fähig und fleißig als die in der Bundesrepublik.«
Die Ratschläge Dürrs und einiger anderer westdeutscher Fachleute, so prominent sie bzw. die Institutionen, für die sie sprachen, auch waren, stießen in der Bundesregierung auf taube Ohren. Unter den Mitgliedern der Bundesregierung kümmerte sich vor allem Finanzminister Theodor Waigel (CSU) um die im Osten Deutschlands anzustrebende Eigentumsordnung. Die Beteiligung der Bürger oder Belegschaften an ihren Betrieben lehnte er ab: »Mit dem Offenbarungseid des Kommunismus haben auch alle Wunschvorstellungen von einem angeblich idealen Kompromiss der Ordnungssysteme, von einer ›gemischten Wirtschaft‹ abgedankt.« (Bayernkurier, 29.9.1990) Diesbezüglich könne es, so Waigel, keine Kompromisse geben. »Auch 50, 60 oder 80 Prozent Marktwirtschaft«, ließ der Bundesfinanzminister verlauten, könnten nicht funktionieren, »sondern bedeuten immer einen Verlust an Freiheit und wirtschaftlicher Effizienz.«
Die von der Ost-CDU geführte Regierung de Maizière hatte ihre Vorstellungen, wie die Treuhandanstalt mit dem Volkseigentum umgehen sollte, in ihrer Regierungserklärung zunächst noch nicht so eindeutig formuliert. Sie stellte der THA die vage Aufgabe, ihre Arbeit so zu gestalten, »dass damit ein Instrument zur Beeinflussung der Entflechtung volkseigener Betriebe und zur Überführung in geeignete Rechtsformen geschaffen wird«.
In der Praxis folgte die letzte DDR-Regierung dann allerdings vor allem den Vorschlägen des unternehmerfreundlichen Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln. In dessen »Vorteile der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands« betitelten, 1990 unter Leitung des ordoliberalen Kölner Universitätsprofessors Hans Willgerodt ausgearbeiteten Gutachten wurde die möglichst rasche und vollständige Privatisierung der volkseigenen Betriebe an Unternehmer bzw. an Unternehmen, die sich in der Marktwirtschaft bereits bewährt hätten, als Voraussetzung dafür bezeichnet, dass es in Ostdeutschland einen »marktwirtschaftlichen Urknall« geben könne, dass »die Motivation zur Leistung wiederbelebt werden wird«.
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•NEUER BEITRAG27.05.2020, 14:51 Uhr
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Die Realität
Die Vorhersage des Kölner Instituts hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Die überstürzte und fast lückenlose Überführung der VEB der DDR in Privateigentum, der Verzicht auf für die Realisierung eines behutsamen Eigentumswechsels erforderliche Stufenprogramme, führte im Osten zu raschen Produktionsrückgängen, gefolgt von Unternehmenspleiten und Massenentlassungen von Beschäftigten. Die Anzahl der Arbeiter und Angestellten ging insgesamt auf dem Gebiet, das ab Oktober 1990 als »neue Bundesländer« bezeichnet wurde, deutlich zurück – von 8,4 Millionen im 3. Quartal 1990 auf 7,9 Millionen bis zum Ende des Jahres und 7,1 Millionen bis Mitte 1991. Erstmals seit 40 Jahren breitete sich in Ostdeutschland Arbeitslosigkeit aus: Die Zahl der Arbeitslosen stieg Monat für Monat, bis September 1990 fast auf eine halbe Million. Seit Anfang Mai 1990, als für aufmerksame Beschäftigte in der DDR erkennbar wurde, dass die bevorstehende Zwangsvereinigung nicht nur volle Läden bringen, sondern dass sie für eine erhebliche Zahl von Arbeitern und Angestellten bezüglich »Arbeit und Brot« auch negative Folgen haben könnte, gab es in den betroffenen Betrieben handfeste Proteste gegen das Ungemach, das den Belegschaften durch die Art und Weise der Eigentumsumwandlungen, über deren Details Kohl und de Maizière noch verhandelten, drohte.
Die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten hielten ungeachtet des von den Protestierenden geäußerten Unmuts über die Totalprivatisierung an einer raschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ab dem 1. Juli 1990 kompromisslos fest. Erst anderthalb Jahre später, als zu befürchten war, dass die Zahl der Gewerbeabmeldungen, die im Osten im Laufe des Jahres 1990 281.000 betragen hatte, auch 1991 vergleichbar hoch sein würde (tatsächlich beliefen sie sich 1991 insgesamt auf 291.000), setzte sich auch in Regierungskreisen die Erkenntnis durch, dass »das Wagnis des völligen Neuaufbaus« im Osten so kaum gelingen könnte, dass die umfassende Privatisierung des Volkseigentums keine »J-Kurve« eines nach starkem, aber kurzem Einbruch steilen Wirtschaftsaufstiegs bewirken würde und dass die totale Privatisierung – in der Regel durch Aufkauf ostdeutscher Betriebe durch westdeutsche Konzerne – in den neuen Bundesländern nicht das notwendige Wirtschaftswachstum zur Folge haben könne.
Erst dann war man seitens der Bundesregierung zu Kompromissen in der Eigentumsfrage bereit. Nunmehr erhielt die Privatisierungsvariante des »Management-Buy-out« (MBO, bezeichnet die Übernahme eines Betriebs durch das Management; jW) neben dem Betriebsverkauf eine ernsthafte Chance. Der daraufhin von der Treuhandanstalt betriebenen Propagierung des MBO lag die im Laufe des Jahres 1990 gewonnene Erkenntnis zugrunde, dass kapitalkräftige Großunternehmen aus dem Westen den ostdeutschen Markt vor allem als Absatzgebiet für ihre Stamm- und Filialbetriebe betrachteten und nicht bereit waren, im Osten Deutschlands vorhandene Unternehmen aufzukaufen, um sie dafür zu nutzen, unmittelbar in die Region zu liefern. Im Ergebnis dieser strategischen Überlegungen blieb eine große Anzahl der von der Treuhandanstalt zum Verkauf angebotenen Betriebe für die bundesdeutschen Konzerne uninteressant. Sie konnten von der THA kaum verkauft werden. Zumindest ein Teil dieser Betriebe musste jedoch aus der Sicht des Funktionierens der ostdeutschen Regionalwirtschaft erhalten bleiben. Diese Aufgabe – Erhalt, Modernisierung und Wiederankurbelung der Produktion in den neuen Bundesländern – so Überlegungen innerhalb der Bundesregierung im Frühjahr 1991 – könnte mittels MBO, wie auch durch Management-Buy-in (MBI) bewerkstelligt werden.
Beim MBI erwarb ein mit der Funktionsweise der Marktwirtschaft vertrauter Manager aus dem Westen den Betrieb und übernahm die Leitung und Reorganisation des Unternehmens. MBI wie MBO blieben auf Klein- und Mittelstandsbetriebe beschränkt. Die Nutzung dieser Privatisierungsformen durch die Treuhandanstalt setzte in den in Frage kommenden Industriezweigen die Aufspaltung der Kombinate in kleinteilige Strukturen voraus, was in vielen Industriezweigen zeitweise zur wichtigsten Aufgabe der THA auf dem Gebiet der Organisationsstruktur wurde.
Angesichts der prekären Wirtschaftslage in den »neuen Bundesländern« – im zweiten Halbjahr 1990 belief sich die Produktion im verarbeitenden Gewerbe nur noch auf 51 Prozent des Umfangs von 1989, im Textilgewerbe auf 42 Prozent und in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie auf 41 Prozent – bemühte sich die Treuhandanstalt ab dem Frühjahr 1991, die Umwandlung ostdeutscher Industriebetriebe in Management-Buy-outs in der verarbeitenden Industrie rasch voranzutreiben und organisierte zu diesem Zweck MBO-Kongresse im Mai und September 1991. Auf dem dritten MBO-Kongress im März 1992 konstatierte die THA mit Befriedigung, dass nunmehr jedes fünfte der in der Ex-DDR zu privatisierenden Unternehmen von Firmenmitarbeitern übernommen worden war.
Die vorhergesagten unmittelbaren wirtschaftlich positiven Effekte dieser Eigentumspolitik blieben allerdings weiterhin aus. Lediglich ein bescheidener Erfolg war zu verzeichnen: In der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, wo die meisten MBO- und MBI-Projekte realisiert werden konnten, vollzog sich die Produktionsentwicklung seit dem Sommer 1991 günstiger als in den vorangegangenen Monaten, schneller auch als in der übrigen verarbeitenden Industrie.
Angesichts der bei der Privatisierung in der ostdeutschen Industrie insgesamt eingetretenen gewaltigen Verluste bei Produktion und Beschäftigung ist es berechtigt, die Frage zu stellen, ob bei einer anderen Art der Anpassung der Eigentums- und Organisationsstruktur der ostdeutschen Industriebetriebe an die Gebote der Marktwirtschaft die Verluste – wenigstens bis zu einem gewissen Grade – hätten vermieden werden können. Mit anderen Worten: Hätten die großen Transformationsverluste in Ostdeutschland verhindert werden können, wenn an Stelle der von Kohl und Waigel verordneten Schocktherapie der Übergang mit Hilfe anhand eines Stufenprogramms über einen längeren Zeitraum vollzogen worden wäre, so wie das Modrow und Luft geplant hatten und wie das auch eine Reihe prominenter bundesdeutscher Wirtschaftsvertreter und -wissenschaftler, darunter auch der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«, in Denkschriften geraten hatte?
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Die Realität
Die Vorhersage des Kölner Instituts hat sich bekanntlich nicht erfüllt. Die überstürzte und fast lückenlose Überführung der VEB der DDR in Privateigentum, der Verzicht auf für die Realisierung eines behutsamen Eigentumswechsels erforderliche Stufenprogramme, führte im Osten zu raschen Produktionsrückgängen, gefolgt von Unternehmenspleiten und Massenentlassungen von Beschäftigten. Die Anzahl der Arbeiter und Angestellten ging insgesamt auf dem Gebiet, das ab Oktober 1990 als »neue Bundesländer« bezeichnet wurde, deutlich zurück – von 8,4 Millionen im 3. Quartal 1990 auf 7,9 Millionen bis zum Ende des Jahres und 7,1 Millionen bis Mitte 1991. Erstmals seit 40 Jahren breitete sich in Ostdeutschland Arbeitslosigkeit aus: Die Zahl der Arbeitslosen stieg Monat für Monat, bis September 1990 fast auf eine halbe Million. Seit Anfang Mai 1990, als für aufmerksame Beschäftigte in der DDR erkennbar wurde, dass die bevorstehende Zwangsvereinigung nicht nur volle Läden bringen, sondern dass sie für eine erhebliche Zahl von Arbeitern und Angestellten bezüglich »Arbeit und Brot« auch negative Folgen haben könnte, gab es in den betroffenen Betrieben handfeste Proteste gegen das Ungemach, das den Belegschaften durch die Art und Weise der Eigentumsumwandlungen, über deren Details Kohl und de Maizière noch verhandelten, drohte.
Die Regierungschefs der beiden deutschen Staaten hielten ungeachtet des von den Protestierenden geäußerten Unmuts über die Totalprivatisierung an einer raschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ab dem 1. Juli 1990 kompromisslos fest. Erst anderthalb Jahre später, als zu befürchten war, dass die Zahl der Gewerbeabmeldungen, die im Osten im Laufe des Jahres 1990 281.000 betragen hatte, auch 1991 vergleichbar hoch sein würde (tatsächlich beliefen sie sich 1991 insgesamt auf 291.000), setzte sich auch in Regierungskreisen die Erkenntnis durch, dass »das Wagnis des völligen Neuaufbaus« im Osten so kaum gelingen könnte, dass die umfassende Privatisierung des Volkseigentums keine »J-Kurve« eines nach starkem, aber kurzem Einbruch steilen Wirtschaftsaufstiegs bewirken würde und dass die totale Privatisierung – in der Regel durch Aufkauf ostdeutscher Betriebe durch westdeutsche Konzerne – in den neuen Bundesländern nicht das notwendige Wirtschaftswachstum zur Folge haben könne.
Erst dann war man seitens der Bundesregierung zu Kompromissen in der Eigentumsfrage bereit. Nunmehr erhielt die Privatisierungsvariante des »Management-Buy-out« (MBO, bezeichnet die Übernahme eines Betriebs durch das Management; jW) neben dem Betriebsverkauf eine ernsthafte Chance. Der daraufhin von der Treuhandanstalt betriebenen Propagierung des MBO lag die im Laufe des Jahres 1990 gewonnene Erkenntnis zugrunde, dass kapitalkräftige Großunternehmen aus dem Westen den ostdeutschen Markt vor allem als Absatzgebiet für ihre Stamm- und Filialbetriebe betrachteten und nicht bereit waren, im Osten Deutschlands vorhandene Unternehmen aufzukaufen, um sie dafür zu nutzen, unmittelbar in die Region zu liefern. Im Ergebnis dieser strategischen Überlegungen blieb eine große Anzahl der von der Treuhandanstalt zum Verkauf angebotenen Betriebe für die bundesdeutschen Konzerne uninteressant. Sie konnten von der THA kaum verkauft werden. Zumindest ein Teil dieser Betriebe musste jedoch aus der Sicht des Funktionierens der ostdeutschen Regionalwirtschaft erhalten bleiben. Diese Aufgabe – Erhalt, Modernisierung und Wiederankurbelung der Produktion in den neuen Bundesländern – so Überlegungen innerhalb der Bundesregierung im Frühjahr 1991 – könnte mittels MBO, wie auch durch Management-Buy-in (MBI) bewerkstelligt werden.
Beim MBI erwarb ein mit der Funktionsweise der Marktwirtschaft vertrauter Manager aus dem Westen den Betrieb und übernahm die Leitung und Reorganisation des Unternehmens. MBI wie MBO blieben auf Klein- und Mittelstandsbetriebe beschränkt. Die Nutzung dieser Privatisierungsformen durch die Treuhandanstalt setzte in den in Frage kommenden Industriezweigen die Aufspaltung der Kombinate in kleinteilige Strukturen voraus, was in vielen Industriezweigen zeitweise zur wichtigsten Aufgabe der THA auf dem Gebiet der Organisationsstruktur wurde.
Angesichts der prekären Wirtschaftslage in den »neuen Bundesländern« – im zweiten Halbjahr 1990 belief sich die Produktion im verarbeitenden Gewerbe nur noch auf 51 Prozent des Umfangs von 1989, im Textilgewerbe auf 42 Prozent und in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie auf 41 Prozent – bemühte sich die Treuhandanstalt ab dem Frühjahr 1991, die Umwandlung ostdeutscher Industriebetriebe in Management-Buy-outs in der verarbeitenden Industrie rasch voranzutreiben und organisierte zu diesem Zweck MBO-Kongresse im Mai und September 1991. Auf dem dritten MBO-Kongress im März 1992 konstatierte die THA mit Befriedigung, dass nunmehr jedes fünfte der in der Ex-DDR zu privatisierenden Unternehmen von Firmenmitarbeitern übernommen worden war.
Die vorhergesagten unmittelbaren wirtschaftlich positiven Effekte dieser Eigentumspolitik blieben allerdings weiterhin aus. Lediglich ein bescheidener Erfolg war zu verzeichnen: In der Nahrungs- und Genussmittelindustrie, wo die meisten MBO- und MBI-Projekte realisiert werden konnten, vollzog sich die Produktionsentwicklung seit dem Sommer 1991 günstiger als in den vorangegangenen Monaten, schneller auch als in der übrigen verarbeitenden Industrie.
Angesichts der bei der Privatisierung in der ostdeutschen Industrie insgesamt eingetretenen gewaltigen Verluste bei Produktion und Beschäftigung ist es berechtigt, die Frage zu stellen, ob bei einer anderen Art der Anpassung der Eigentums- und Organisationsstruktur der ostdeutschen Industriebetriebe an die Gebote der Marktwirtschaft die Verluste – wenigstens bis zu einem gewissen Grade – hätten vermieden werden können. Mit anderen Worten: Hätten die großen Transformationsverluste in Ostdeutschland verhindert werden können, wenn an Stelle der von Kohl und Waigel verordneten Schocktherapie der Übergang mit Hilfe anhand eines Stufenprogramms über einen längeren Zeitraum vollzogen worden wäre, so wie das Modrow und Luft geplant hatten und wie das auch eine Reihe prominenter bundesdeutscher Wirtschaftsvertreter und -wissenschaftler, darunter auch der »Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung«, in Denkschriften geraten hatte?
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Alternative Entwicklungen
Um beim Versuch, diese Frage zu beantworten, nicht ins Spekulieren zu geraten, ist es im Sinne der Untersuchungsmethode der kontrafaktischen Geschichtsschreibung (Historiographie, die sich mit Fragen zu möglichen alternativen historischen Entwicklungen beschäftigt; jW) zweckmäßig, einen Blick auf diejenigen Länder in Osteuropa zu werfen, die in etwa zeitgleich mit der DDR die Umwandlung ihrer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft betrieben, dabei allerdings nicht eine Schock, sondern eine Stufenvariante vorzogen – so wie das etwa die Regierungen von Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei taten.
Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Siebert, in den 1990er Jahren Mitglied des erwähnten Sachverständigenrats und auch in der »Group of Economic Analyses« bei der EU-Kommission tätig, hat Ende 1992 einen Vergleich der, wie er es nannte, »Anpassungsrezession« in den neuen Bundesländern mit denjenigen in den Transformationsländern Osteuropas vorgenommen und festgestellt: »Wir beobachten einen ähnlichen, wenn auch bei weitem (!) nicht so starken Produktionseinbruch in den osteuropäischen Ländern, wo die industrielle Produktion um etwa 30 Prozentpunkte fiel«. In Ostdeutschland belief sich der Rückgang auf 53 Prozentpunkte gegenüber dem Zeitraum vor 1990.
Aus den Ergebnissen dieses Vergleichs lässt sich schlussfolgern, dass die Ex-DDR-Bürger, wenn sich die Verfechter der Stufenvariante einer Transformation hätten durchsetzen können, weitaus besser gefahren wären, als dies bei Anwendung der Schockvariante geschehen ist. Der eingetretene Schaden für die ostdeutsche Wirtschaft wird besonders deutlich, wenn man das in den 1990er Jahren in den »neuen Bundesländern« erreichte Wirtschaftsniveau an dem der alten Bundesländer misst. Ein derartiger deutsch-deutscher Vergleich ist historisch durchaus berechtigt, denn Bundeskanzler Kohl hatte bei seinen Wahlauftritten in der DDR vor den Märzwahlen 1990 den Ostdeutschen unter der Verwendung der Metapher »blühende Landschaften« die Angleichung des Wirtschaftsniveaus im Osten an das des Westens Deutschlands versprochen. Setzt man das im jeweiligen Jahr in der Bundesrepublik erarbeitete Bruttoprodukt je Einwohner gleich 100, dann lag das Wirtschaftsniveau im Osten gemäß Angaben des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft 1989, im letzten vollständigen Wirtschaftsjahr der DDR bei etwas mehr als der Hälfte (55%) des westdeutschen. 1991, im zweiten Transformationsjahr sackte dieser Vergleichswert auf ein Drittel des bundesdeutschen Niveaus ab. Erst 1995 wurde der Wert von 1989 wieder erreicht. Im Jahre 2018 lag er Vergleichswert laut Aussage der Zeit bei rund 73 Prozent des Niveaus der alten Bundesländer.
Besonders dieser, wie gesagt, historisch durchaus berechtigte Vergleich wirft ein deutliches Licht auf die negativen Folgen des radikalen Eigentumswechsels, wie man ihn in beiden deutschen Staaten auf Regierungsebene nach der Aufnahme der Amtsgeschäfte der Regierung de Maizière im Mai/Juni 1990 vorbereitete und ab Juli mit Hilfe der für diese Aufgabe umstrukturierten Treuhandanstalt zu realisieren begann und dessen ökonomische und soziale Folgen für die Ostdeutschen bis heute zu spüren sind. Eine Politik der Treuhand, die den DDR-Bürgern bzw. Ex-DDR-Bürgern ermöglicht hätte, in einem beträchtlichen Maße als Eigentümer auf die Entwicklung jener Betriebe Einfluss zu nehmen, die sie nach 1945 wieder instand gesetzt hatten, hätte zweifellos die Transformationsverluste in der Ex-DDR deutlich vermindert. Vielleicht wäre dann sogar – wenn auch nicht nach Ablauf der im Mai 1990 vom Bundeskanzler verkündeten Frist von drei bis vier Jahren, so doch wenigstes nach drei Jahrzehnten – das von Helmut Kohl mit »blühenden Landschaften« bezeichnete Wirtschaftsniveau in den neuen Bundesländern tatsächlich erreicht worden.
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Alternative Entwicklungen
Um beim Versuch, diese Frage zu beantworten, nicht ins Spekulieren zu geraten, ist es im Sinne der Untersuchungsmethode der kontrafaktischen Geschichtsschreibung (Historiographie, die sich mit Fragen zu möglichen alternativen historischen Entwicklungen beschäftigt; jW) zweckmäßig, einen Blick auf diejenigen Länder in Osteuropa zu werfen, die in etwa zeitgleich mit der DDR die Umwandlung ihrer Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft betrieben, dabei allerdings nicht eine Schock, sondern eine Stufenvariante vorzogen – so wie das etwa die Regierungen von Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei taten.
Der Wirtschaftswissenschaftler Horst Siebert, in den 1990er Jahren Mitglied des erwähnten Sachverständigenrats und auch in der »Group of Economic Analyses« bei der EU-Kommission tätig, hat Ende 1992 einen Vergleich der, wie er es nannte, »Anpassungsrezession« in den neuen Bundesländern mit denjenigen in den Transformationsländern Osteuropas vorgenommen und festgestellt: »Wir beobachten einen ähnlichen, wenn auch bei weitem (!) nicht so starken Produktionseinbruch in den osteuropäischen Ländern, wo die industrielle Produktion um etwa 30 Prozentpunkte fiel«. In Ostdeutschland belief sich der Rückgang auf 53 Prozentpunkte gegenüber dem Zeitraum vor 1990.
Aus den Ergebnissen dieses Vergleichs lässt sich schlussfolgern, dass die Ex-DDR-Bürger, wenn sich die Verfechter der Stufenvariante einer Transformation hätten durchsetzen können, weitaus besser gefahren wären, als dies bei Anwendung der Schockvariante geschehen ist. Der eingetretene Schaden für die ostdeutsche Wirtschaft wird besonders deutlich, wenn man das in den 1990er Jahren in den »neuen Bundesländern« erreichte Wirtschaftsniveau an dem der alten Bundesländer misst. Ein derartiger deutsch-deutscher Vergleich ist historisch durchaus berechtigt, denn Bundeskanzler Kohl hatte bei seinen Wahlauftritten in der DDR vor den Märzwahlen 1990 den Ostdeutschen unter der Verwendung der Metapher »blühende Landschaften« die Angleichung des Wirtschaftsniveaus im Osten an das des Westens Deutschlands versprochen. Setzt man das im jeweiligen Jahr in der Bundesrepublik erarbeitete Bruttoprodukt je Einwohner gleich 100, dann lag das Wirtschaftsniveau im Osten gemäß Angaben des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft 1989, im letzten vollständigen Wirtschaftsjahr der DDR bei etwas mehr als der Hälfte (55%) des westdeutschen. 1991, im zweiten Transformationsjahr sackte dieser Vergleichswert auf ein Drittel des bundesdeutschen Niveaus ab. Erst 1995 wurde der Wert von 1989 wieder erreicht. Im Jahre 2018 lag er Vergleichswert laut Aussage der Zeit bei rund 73 Prozent des Niveaus der alten Bundesländer.
Besonders dieser, wie gesagt, historisch durchaus berechtigte Vergleich wirft ein deutliches Licht auf die negativen Folgen des radikalen Eigentumswechsels, wie man ihn in beiden deutschen Staaten auf Regierungsebene nach der Aufnahme der Amtsgeschäfte der Regierung de Maizière im Mai/Juni 1990 vorbereitete und ab Juli mit Hilfe der für diese Aufgabe umstrukturierten Treuhandanstalt zu realisieren begann und dessen ökonomische und soziale Folgen für die Ostdeutschen bis heute zu spüren sind. Eine Politik der Treuhand, die den DDR-Bürgern bzw. Ex-DDR-Bürgern ermöglicht hätte, in einem beträchtlichen Maße als Eigentümer auf die Entwicklung jener Betriebe Einfluss zu nehmen, die sie nach 1945 wieder instand gesetzt hatten, hätte zweifellos die Transformationsverluste in der Ex-DDR deutlich vermindert. Vielleicht wäre dann sogar – wenn auch nicht nach Ablauf der im Mai 1990 vom Bundeskanzler verkündeten Frist von drei bis vier Jahren, so doch wenigstes nach drei Jahrzehnten – das von Helmut Kohl mit »blühenden Landschaften« bezeichnete Wirtschaftsniveau in den neuen Bundesländern tatsächlich erreicht worden.
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