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NEUES THEMA27.07.2009, 08:49 Uhr
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• das Jahr der Entscheidung KABUL/BERLIN/WASHINGTON (23.07.2009) - Ernste Schwierigkeiten für die westlichen Besatzungstruppen am Hindukusch begleiten die jüngste Afghanistan-Offensive der Bundeswehr. Während die deutschen Soldaten ihre ersten Panzer-Angriffe nach dem Zweiten Weltkrieg führen, vermeldet Washington Rückschläge in einer wichtigen Modellregion. Demnach destabilisieren Aufständische den Distrikt Jalrez, der als Testfall für die neue US-Besatzungspraxis gilt. Wie der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten erklärt, bleibe dem Westen in Afghanistan höchstens noch ein Jahr Zeit für "erkennbare Fortschritte"; die US-Truppen und die Bevölkerung seien "müde". Berlin setzt auf Sieg, debattiert über die Entsendung zusätzlicher Truppen und plant den Bau eines entlegenen Flughafens bis Ende 2010 - angeblich zu zivilen Zwecken. Tatsächlich dienen mehr als 80 Prozent aller Flüge in Afghanistan militärischen Aufgaben. In der afghanischen Bevölkerung nimmt der Widerstand gegen die westlichen Streitkräfte nun auch außerhalb des islamistischen Spektrums zu. Die Frauenrechtsorganisation RAWA fordert dazu auf, sich gegen die Besatzer zu erheben.

Brutalisierung

Die jüngsten Kampfhandlungen der deutschen Truppen markieren einen erneuten historischen Einschnitt: Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben deutsche Soldaten Mörser und Schützenpanzer gegen feindliche Kräfte eingesetzt. In Afghanistan weitet die Bundeswehr systematisch ihren Handlungsspielraum aus; inzwischen fordern Militärs nicht nur die Entsendung weiterer Soldaten1, sondern bringen auch einen Einsatz deutscher Kampfflugzeuge ins Gespräch. Die deutschen Truppen müssten zukünftig eigene "Luftunterstützung" gegen Aufständische anfordern können, heißt es. Die Folgen der Brutalisierung zeigt der Tod eines unbewaffneten afghanischen Jugendlichen am vergangenen Wochenende; er wurde von deutschen Soldaten erschossen. Schon jetzt ist der Juli der verlustreichste Monat für die westlichen Besatzer, die in den vergangenen Tagen auch mehrere Hubschrauber und Kampfflugzeuge eingebüßt haben. Dabei eröffnen die Aufständischen immer wieder neue Fronten abseits des Gebiets im Süden des Landes, das der Westen mit der aktuellen Offensive unter Kontrolle zu bekommen sucht.

Modelldistrikt

Selbst die Modellregionen der neuen US-Besatzungsstrategie sind nicht länger sicher. Dies zeigt sich im Distrikt Jalrez rund 50 Kilometer westlich der afghanischen Hauptstadt, dem ersten Gebiet des Landes, in dem Washington die neue Besatzungsstrategie anwandte. Bis Jahresbeginn hatten Aufständische den Distrikt kontrolliert. Im Februar marschierten US-Truppen in großer Anzahl ein, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen - die Aufständischen zogen sich unverzüglich zurück. Anschließend unterstützten die US-Truppen den Aufbau einheimischer Milizen, um diese gegen die Aufständischen in Stellung zu bringen. Die Methode ist heftig umstritten; Kritiker monieren, Washington rüste hier zukünftige Warlords auf. Zudem weigerten sich manche Dörfer von Anfang an, mit den Vereinigten Staaten zu kooperieren - "ein Schlag für die Pläne der Amerikaner", urteilte die US-Presse bereits Ende Mai.2 Einen weiteren Schlag vermeldete die Presse Mitte Juli: Aufständische ermordeten den mit dem Westen kooperierenden Polizeichef des Modelldistrikts Jalrez sowie drei seiner Polizisten. Die neue Besatzungsstrategie drohe zu scheitern, heißt es in den USA.3

Extrem müde

Dabei gelten die politischen Spielräume in Washington mittlerweile als eng. "Die Truppen sind müde, und das amerikanische Volk ist extrem müde", erklärt US-Verteidigungsminister Robert Gates.4 Nach beinahe acht Jahren Krieg müsse man "im nächsten Frühling oder frühen Sommer Fortschritte" erzielt haben, um ein weiteres Schwinden der Zustimmung zum Afghanistan-Krieg in den Vereinigten Staaten zu verhindern. Zwar sei der Westen nicht in der Lage, den Krieg innerhalb eines Jahres für sich zu entscheiden. Wenn er aber "Fortschritte vorweisen" könne und auch "keine erheblichen Todesopfer zu verzeichnen habe", "dann können wir mehr Zeit auf der Uhr in Washington gewinnen".

Infrastruktur

Angesichts dessen intensiviert Berlin seine Anstrengungen. Jüngstes Ergebnis ist der Beschluss, in der südafghanischen Provinz Uruzgan einen Flughafen auszubauen. Uruzgan gilt als äußerst traditionelle und zudem recht unzugängliche, also schwer kontrollierbare Provinz. Die deutsche "Entwicklungs"-Organisation GTZ hat inzwischen begonnen, Uruzgan von der Provinzhauptstadt aus mit einer Straße zu erschließen - und so die westliche Kontrolle zu intensivieren. Zudem wird die GTZ nun den Flughafen der Provinzhauptstadt ausbauen, um die Zugänglichkeit der Region zu steigern - angeblich zu zivilen Zwecken. Erst kürzlich hat die Bundesregierung allerdings mitgeteilt, dass den rund 55.000 zivilen Flugbewegungen in Afghanistan im Jahr 2008 laut ISAF-Statistiken etwa 315.000 militärische Flugbewegungen gegenüberstehen. 85 Prozent der Flüge in Afghanistan dienen damit unmittelbar den westlichen Truppen zur Stabilisierung ihrer Besatzung. Der neue Flughafen in Uruzgan soll schon bald voll betriebsfähig sein - spätestens Ende 2010.5

Gegen die Besatzer

Während der Westen seine Offensive gegen die Aufständischen verstärkt, nimmt der Widerstand gegen die Besatzer auch außerhalb des islamistischen Spektrums deutlich zu. Die "sogenannte 'neue' Strategie der Obama-Administration" und die Aufstockung der westlichen Truppen in Afghanistan erwiesen sich als noch "viel kriegstreiberischer als Bush", urteilt die afghanische Frauenrechtsorganisation RAWA.6 "Der einzige Weg, wie unsere Bevölkerung den Besatzungskräften und ihren gehorsamen Dienern entkommen kann, ist, sich gegen sie zu erheben", schreibt RAWA in einem Aufruf und nennt als Ziel: "Weder die Besatzer noch die bestialischen Taliban und die kriminelle Nordallianz; lang lebe ein freies und demokratisches Afghanistan!" Wie ein "freies und demokratisches Afghanistan" erkämpft werden soll, lässt RAWA offen. Dass es mit den westlichen Besatzern zu erreichen sei, schließt die Organisation jedoch nach all ihren bisherigen Erfahrungen aus.


Anmerkungen:
1 Harald Kujat: Die Bundeswehr muss in Afghanistan in die Offensive gehen; Sächsische Zeitung 06.07.2009
2 Afghan Valley Offers Test for Obama Strategy; The New York Times 31.05.2009
3 Explosion Kills Afghan Police Chief and 3 Officers; The New York Times 13.07.2009
4 Gates: "Das amerikanische Volk ist extrem müde"; Welt Online 22.07.2009
5 Gemeinsame Projekte im Süden Afghanistans; Link ...jetzt anmelden! 22.07.2009
6 Let's rise against the war crimes of US and its fundamentalist lackeys!; Link ...jetzt anmelden! 07.05.2009

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