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•NEUES THEMA16.12.2019, 15:30 Uhr
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• Italien 1969ff.: FIAT-Streiks und Operaismus
jW vorgestern:
Die Wut der Massenarbeiter
»Die Zeit der Angsthasen ist zu Ende«. Die FIAT-Streiks im Italien der 1960er und 1970er Jahre
Von Dietmar Lange
Vor 50 Jahren wurde Italien vom sogenannten heißen Herbst erschüttert. Darunter werden Auseinandersetzungen um die Erneuerung von nationalen Tarifverträgen in der Chemie-, Bau- und Metallindustrie verstanden, die von September bis Dezember 1969 mit massenhaften Streiks und großen sozialen Unruhen im gesamten Land einhergingen. Der »heiße Herbst« bildete einen vorläufigen Höhepunkt der Mobilisierungen, die mit der Studentenbewegung 1968 ihren Anfang genommen hatten und sich bald auch auf die Arbeiter in den großen Industriebetrieben ausdehnten. Die Jahre 1968 und 1969 werden in Italien daher auch als Einheit verstanden und als »Secondo biennio rosso« bezeichnet, als zweites rotes Doppeljahr, in Anlehnung an das »Biennio rosso« von 1919/20, als nach dem Ersten Weltkrieg eine revolutionäre Situation herrschte.
Die Ereignisse stehen in einem internationalen Kontext verschärfter sozialer Konflikte auch am Arbeitsplatz, was heutzutage nur allzuoft durch die Beschränkung auf die Studentenbewegung vergessen wird. Zeitgleich zum »Autunno caldo« fanden etwa auch die Septemberstreiks in Deutschland statt, als mehr als 140.000 Beschäftigte in der Montanindustrie im September 1969 spontan die Arbeit niederlegten. In Italien erreichten die Konflikte jedoch eine besonders hohe Intensität und erschütterten die sozialen Verhältnisse und die industriellen Beziehungen des Landes nachhaltig. Die Kämpfe der Jahre 1968/69 bildeten hier nur den Auftakt für ein ganzes Jahrzehnt verschärfter Konflikte in Industrie und Gesellschaft. In diesem Kontext stehen auch die Bombenanschläge auf der Piazza Fontana in Mailand und in Rom am 12. Dezember 1969 – auf dem Höhepunkt der Streikbewegung. Ihnen folgte eine Reihe weiterer Attentate in den 1970er Jahren, begangen durch rechte und neofaschistische Kreise innerhalb und außerhalb des Staatsapparates und der Sicherheitsorgane, die damit den Boden für eine repressivere »Politik der Ordnung« bis hin zum Staatsstreich zu bereiten versuchten.
Einer Fabrik kam in jenen Jahren besondere Aufmerksamkeit zu, die FIAT Mirafiori in Turin, die damals größte Automobilfabrik des Landes. Hier hatte es bereits im Frühjahr und Sommer 1969 große spontane Streiks gegeben, mit zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Stadt, und hier wurde auch der »heiße Herbst« gewissermaßen eingeleitet, als am 3. September 1969 das Unternehmen auf einen wilden Streik im Motorenwerk mit einer Aussperrung der gesamten Belegschaft reagierte. Während des heißen Herbstes waren die Erschütterungen hier besonders groß, mit riesigen Demonstrationen von Arbeitern durch die Werkhallen und wiederkehrenden auch spontanen Arbeitsniederlegungen neben den von den Gewerkschaften proklamierten Streikstunden. Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, als am 30. November 1969 das Karosseriewerk in einer spontanen Arbeitsniederlegung für eine Woche komplett stillgelegt wurde und kein einziges Auto mehr das Werk verließ. Mirafiori wurde nach 1969 zum Symbol für die endemische Unruhe des so bezeichneten »Massenarbeiters« und zum Anziehungspunkt zahlreicher linker Organisationen aus anderen Ländern, aber vor allem aus Italien selbst. Hier gab es bereits seit Beginn der 1960er Jahre eine Tradition der Fabrikintervention – angefangen mit der Gruppe um die Zeitschrift Quaderni Rossi, woraus der italienische Operaismus hervorgehen solle –, genauso wie neue Ansätze betriebsnaher Tarifpolitik innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Daher lohnt es, noch einmal einen genaueren Blick auf die Vorgänge in dieser Fabrik zu werfen wie auch auf ihre Wechselwirkung mit linker Theorie und Praxis und zuletzt auf die Auswirkungen der Streiks in einer langfristigen Perspektive.
FIAT-Mirafiori – Stadt in der Stadt
Mirafiori war mit 1,2 Millionen Quadratmetern für italienische Verhältnisse ein gigantisches Werk. Es bildete im Prinzip eine eigene Stadt in der Stadt an der südlichen Peripherie von Turin. Die ÂFIAT war der Motor für die städtische Entwicklung, nicht nur aufgrund der Größe von Mirafiori und einiger weiterer Betriebe, sondern auch aufgrund eines breiten Netzes an Zulieferern und abhängiger Zweige, wie Gummiindustrie und Maschinenbau. Bis zu 80 Prozent der Produktion Turins kreisten nach Schätzungen um die FIAT. Die Stadt war eine klassische »Company Town«, was sich auch an der Bevölkerungsentwicklung zeigt, die in den 1960er und 1970er Jahren im Rhythmus der Produktionsexpansion des Unternehmens erfolgte. Die Einwohnerzahlen stiegen von 1951 bis 1974 von 720.000 auf mehr als 1,2 Millionen, ein Wachstum, das vor allem durch Zuwanderung aus dem Süden Italiens zustande kam. Zugleich stiegen die Beschäftigtenzahlen bei Mirafiori von 17.000 auf mehr als 50.000, vor allem Ende der 1960er Jahre angeworbene Arbeitskräfte aus dem Süden.
Das Werk symbolisierte auf besondere Weise das fordistische Produktionsmodell, wie es sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hatte. Dieses zeichnete sich durch eine Zergliederung des Arbeitsprozesses in einzelne Arbeitsschritte und ihre Mechanisierung mit Hilfe des Fließbandes aus. Der Arbeitsprozess selbst wurde auf diese Weise in den technischen Anlagen »objektiviert«, die KonÂtrolle über Arbeitsabläufe und Arbeitsgeschwindigkeit von den Arbeitern auf das Management und die Planungsabteilungen übertragen. In der formalen Betriebsorganisation hatte das Management über alle Produktionsabläufe die totale Kontrolle. Begleitet und durchgesetzt wurde dies von einer rigiden Fabrikdisziplin, die als »wissenschaftliche Betriebsführung« tayloristischer Prägung verbämt Produktionsvorgaben des Managements mit angeblich »objektiven« Methoden der Arbeitszeitmessung legitimierte. Von den Zeitgenossen wurden diese Arbeitsverhältnisse in Anlehnung an damalige neomarxistische Debatten als »Entfremdung« des Arbeiters von seiner Arbeit beschrieben. Also Entfremdung nicht nur von seinem Arbeitsprodukt, das Eigentum eines anderen war, sondern auch von der ausführenden Tätigkeit selbst, die durch den Produktionsprozess determiniert wurde. Dies spiegelt sich durchaus auch in den Aussagen der Arbeiter in damaligen Interviews wider. Bei den Älteren löste der durch das Fließband organisierte Arbeitsprozess vor allem Angst und Unsicherheit angesichts des Kontrollverlustes aus. Die Jüngeren zeigten vermehrte Gleichgültigkeit, Ablehnung, teilweise eine regelrechte Abscheu vor der Arbeit.
Auch die Entscheidung über Arbeitszeiten, Einstufung in Lohngruppen und Entlohnung in Form von Betriebsprämien lag weitgehend beim Management. Anders als im Fordismus der »New Deal«-Ära waren die Gewerkschaften in Italien von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Es gab zwar eine betriebliche Interessenvertretung, die Commissione Interna (die ähnlich dem deutschen Betriebsrat nach Gewerkschaftslisten gewählt wurde), allerdings weigerte sich das Unternehmen institutionalisierte Aushandlungs- und Beteiligungsformen zu akzeptieren, die über periodische Anhörungen und die Behandlung von individuellen Fällen hinausgingen. Die industriellen Beziehungen bei der FIAT entsprachen daher stärker einem traditionellen paternalistischen »Herr im Haus«-System, in dem über gute Beziehungen zu Vorgesetzten, gelben Gewerkschaftern und Management individuelle Erleichterungen und Aufstiegschancen möglich waren, aber keine Kollektivverhandlungen über die betrieblichen Abläufe und die Personalpolitik.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Kontrolle des Managements über den Produktionsprozess nicht so umfassend war, wie es die formale Betriebsorganisation suggerierte. Störungen und Ausfälle konnten darin nicht berücksichtigt werden, da es sich um keine konstanten und damit berechenbaren Größen handelte. Vor allem aber modifizierten die Arbeiter die Abläufe beständig selbst, um die Belastung zu reduzieren. Sie waren daher keineswegs lediglich ein ohnmächtiges Glied im Getriebe. Die Subjektivität der Arbeiter, ihre Eigeninitiative, blieb ein entscheidendes Moment im Produktionsprozess. Vor allem die mittlere und untere Betriebshierarchie musste damit einen adäquaten Umgang finden. Die auf dieser Ebene tätigen Arbeiter mussten die Vorgaben aus den Planungsabteilungen mit den realen Vorgängen in den Produktionsabteilungen und Werkstätten eigenverantwortlich in Übereinstimmung bringen, etwa durch ein höheres Tempo der Bänder nach Ausfällen. Dies beinhaltete auch eigene Methoden der Personalführung. Sie bestanden im Kern in einer Bevorzugung eines Teiles der Arbeiter, den die Meister für besonders loyal hielten. Zugleich wurde versucht widerständige Potentiale durch Einschüchterung, Versetzung und Isolation niederzuhalten. Für die Arbeiter nahm dies die Form eines klientelistischen und paternalistischen Systems an, mit undurchschaubaren Vergünstigungen und Beförderungen. Die realen Produktionsabläufe erlebten sie hingegen als »Desorganisation« und »Chaos«, vor allem in Phasen besonders intensiver Produktionssteigerungen.
Es bleibt aber festzuhalten, dass für das Management dieses »Chaos« und diese »Desorganisation« solange kein Problem darstellten, wie seine Vorgaben erfüllt wurden. Die formale Betriebsorganisation war daher mehr als nur ein realitätsfernes Schema. Sie diente insbesondere zur Legitimation der durch das Management gesetzten Normen. Die Widersprüche wurden dabei auf Kosten der Arbeiter mit Hilfe der Meister verdeckt.
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Die Wut der Massenarbeiter
»Die Zeit der Angsthasen ist zu Ende«. Die FIAT-Streiks im Italien der 1960er und 1970er Jahre
Von Dietmar Lange
Vor 50 Jahren wurde Italien vom sogenannten heißen Herbst erschüttert. Darunter werden Auseinandersetzungen um die Erneuerung von nationalen Tarifverträgen in der Chemie-, Bau- und Metallindustrie verstanden, die von September bis Dezember 1969 mit massenhaften Streiks und großen sozialen Unruhen im gesamten Land einhergingen. Der »heiße Herbst« bildete einen vorläufigen Höhepunkt der Mobilisierungen, die mit der Studentenbewegung 1968 ihren Anfang genommen hatten und sich bald auch auf die Arbeiter in den großen Industriebetrieben ausdehnten. Die Jahre 1968 und 1969 werden in Italien daher auch als Einheit verstanden und als »Secondo biennio rosso« bezeichnet, als zweites rotes Doppeljahr, in Anlehnung an das »Biennio rosso« von 1919/20, als nach dem Ersten Weltkrieg eine revolutionäre Situation herrschte.
Die Ereignisse stehen in einem internationalen Kontext verschärfter sozialer Konflikte auch am Arbeitsplatz, was heutzutage nur allzuoft durch die Beschränkung auf die Studentenbewegung vergessen wird. Zeitgleich zum »Autunno caldo« fanden etwa auch die Septemberstreiks in Deutschland statt, als mehr als 140.000 Beschäftigte in der Montanindustrie im September 1969 spontan die Arbeit niederlegten. In Italien erreichten die Konflikte jedoch eine besonders hohe Intensität und erschütterten die sozialen Verhältnisse und die industriellen Beziehungen des Landes nachhaltig. Die Kämpfe der Jahre 1968/69 bildeten hier nur den Auftakt für ein ganzes Jahrzehnt verschärfter Konflikte in Industrie und Gesellschaft. In diesem Kontext stehen auch die Bombenanschläge auf der Piazza Fontana in Mailand und in Rom am 12. Dezember 1969 – auf dem Höhepunkt der Streikbewegung. Ihnen folgte eine Reihe weiterer Attentate in den 1970er Jahren, begangen durch rechte und neofaschistische Kreise innerhalb und außerhalb des Staatsapparates und der Sicherheitsorgane, die damit den Boden für eine repressivere »Politik der Ordnung« bis hin zum Staatsstreich zu bereiten versuchten.
Einer Fabrik kam in jenen Jahren besondere Aufmerksamkeit zu, die FIAT Mirafiori in Turin, die damals größte Automobilfabrik des Landes. Hier hatte es bereits im Frühjahr und Sommer 1969 große spontane Streiks gegeben, mit zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Stadt, und hier wurde auch der »heiße Herbst« gewissermaßen eingeleitet, als am 3. September 1969 das Unternehmen auf einen wilden Streik im Motorenwerk mit einer Aussperrung der gesamten Belegschaft reagierte. Während des heißen Herbstes waren die Erschütterungen hier besonders groß, mit riesigen Demonstrationen von Arbeitern durch die Werkhallen und wiederkehrenden auch spontanen Arbeitsniederlegungen neben den von den Gewerkschaften proklamierten Streikstunden. Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, als am 30. November 1969 das Karosseriewerk in einer spontanen Arbeitsniederlegung für eine Woche komplett stillgelegt wurde und kein einziges Auto mehr das Werk verließ. Mirafiori wurde nach 1969 zum Symbol für die endemische Unruhe des so bezeichneten »Massenarbeiters« und zum Anziehungspunkt zahlreicher linker Organisationen aus anderen Ländern, aber vor allem aus Italien selbst. Hier gab es bereits seit Beginn der 1960er Jahre eine Tradition der Fabrikintervention – angefangen mit der Gruppe um die Zeitschrift Quaderni Rossi, woraus der italienische Operaismus hervorgehen solle –, genauso wie neue Ansätze betriebsnaher Tarifpolitik innerhalb der Gewerkschaftsbewegung. Daher lohnt es, noch einmal einen genaueren Blick auf die Vorgänge in dieser Fabrik zu werfen wie auch auf ihre Wechselwirkung mit linker Theorie und Praxis und zuletzt auf die Auswirkungen der Streiks in einer langfristigen Perspektive.
FIAT-Mirafiori – Stadt in der Stadt
Mirafiori war mit 1,2 Millionen Quadratmetern für italienische Verhältnisse ein gigantisches Werk. Es bildete im Prinzip eine eigene Stadt in der Stadt an der südlichen Peripherie von Turin. Die ÂFIAT war der Motor für die städtische Entwicklung, nicht nur aufgrund der Größe von Mirafiori und einiger weiterer Betriebe, sondern auch aufgrund eines breiten Netzes an Zulieferern und abhängiger Zweige, wie Gummiindustrie und Maschinenbau. Bis zu 80 Prozent der Produktion Turins kreisten nach Schätzungen um die FIAT. Die Stadt war eine klassische »Company Town«, was sich auch an der Bevölkerungsentwicklung zeigt, die in den 1960er und 1970er Jahren im Rhythmus der Produktionsexpansion des Unternehmens erfolgte. Die Einwohnerzahlen stiegen von 1951 bis 1974 von 720.000 auf mehr als 1,2 Millionen, ein Wachstum, das vor allem durch Zuwanderung aus dem Süden Italiens zustande kam. Zugleich stiegen die Beschäftigtenzahlen bei Mirafiori von 17.000 auf mehr als 50.000, vor allem Ende der 1960er Jahre angeworbene Arbeitskräfte aus dem Süden.
Das Werk symbolisierte auf besondere Weise das fordistische Produktionsmodell, wie es sich in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hatte. Dieses zeichnete sich durch eine Zergliederung des Arbeitsprozesses in einzelne Arbeitsschritte und ihre Mechanisierung mit Hilfe des Fließbandes aus. Der Arbeitsprozess selbst wurde auf diese Weise in den technischen Anlagen »objektiviert«, die KonÂtrolle über Arbeitsabläufe und Arbeitsgeschwindigkeit von den Arbeitern auf das Management und die Planungsabteilungen übertragen. In der formalen Betriebsorganisation hatte das Management über alle Produktionsabläufe die totale Kontrolle. Begleitet und durchgesetzt wurde dies von einer rigiden Fabrikdisziplin, die als »wissenschaftliche Betriebsführung« tayloristischer Prägung verbämt Produktionsvorgaben des Managements mit angeblich »objektiven« Methoden der Arbeitszeitmessung legitimierte. Von den Zeitgenossen wurden diese Arbeitsverhältnisse in Anlehnung an damalige neomarxistische Debatten als »Entfremdung« des Arbeiters von seiner Arbeit beschrieben. Also Entfremdung nicht nur von seinem Arbeitsprodukt, das Eigentum eines anderen war, sondern auch von der ausführenden Tätigkeit selbst, die durch den Produktionsprozess determiniert wurde. Dies spiegelt sich durchaus auch in den Aussagen der Arbeiter in damaligen Interviews wider. Bei den Älteren löste der durch das Fließband organisierte Arbeitsprozess vor allem Angst und Unsicherheit angesichts des Kontrollverlustes aus. Die Jüngeren zeigten vermehrte Gleichgültigkeit, Ablehnung, teilweise eine regelrechte Abscheu vor der Arbeit.
Auch die Entscheidung über Arbeitszeiten, Einstufung in Lohngruppen und Entlohnung in Form von Betriebsprämien lag weitgehend beim Management. Anders als im Fordismus der »New Deal«-Ära waren die Gewerkschaften in Italien von allen Entscheidungsprozessen ausgeschlossen. Es gab zwar eine betriebliche Interessenvertretung, die Commissione Interna (die ähnlich dem deutschen Betriebsrat nach Gewerkschaftslisten gewählt wurde), allerdings weigerte sich das Unternehmen institutionalisierte Aushandlungs- und Beteiligungsformen zu akzeptieren, die über periodische Anhörungen und die Behandlung von individuellen Fällen hinausgingen. Die industriellen Beziehungen bei der FIAT entsprachen daher stärker einem traditionellen paternalistischen »Herr im Haus«-System, in dem über gute Beziehungen zu Vorgesetzten, gelben Gewerkschaftern und Management individuelle Erleichterungen und Aufstiegschancen möglich waren, aber keine Kollektivverhandlungen über die betrieblichen Abläufe und die Personalpolitik.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass die Kontrolle des Managements über den Produktionsprozess nicht so umfassend war, wie es die formale Betriebsorganisation suggerierte. Störungen und Ausfälle konnten darin nicht berücksichtigt werden, da es sich um keine konstanten und damit berechenbaren Größen handelte. Vor allem aber modifizierten die Arbeiter die Abläufe beständig selbst, um die Belastung zu reduzieren. Sie waren daher keineswegs lediglich ein ohnmächtiges Glied im Getriebe. Die Subjektivität der Arbeiter, ihre Eigeninitiative, blieb ein entscheidendes Moment im Produktionsprozess. Vor allem die mittlere und untere Betriebshierarchie musste damit einen adäquaten Umgang finden. Die auf dieser Ebene tätigen Arbeiter mussten die Vorgaben aus den Planungsabteilungen mit den realen Vorgängen in den Produktionsabteilungen und Werkstätten eigenverantwortlich in Übereinstimmung bringen, etwa durch ein höheres Tempo der Bänder nach Ausfällen. Dies beinhaltete auch eigene Methoden der Personalführung. Sie bestanden im Kern in einer Bevorzugung eines Teiles der Arbeiter, den die Meister für besonders loyal hielten. Zugleich wurde versucht widerständige Potentiale durch Einschüchterung, Versetzung und Isolation niederzuhalten. Für die Arbeiter nahm dies die Form eines klientelistischen und paternalistischen Systems an, mit undurchschaubaren Vergünstigungen und Beförderungen. Die realen Produktionsabläufe erlebten sie hingegen als »Desorganisation« und »Chaos«, vor allem in Phasen besonders intensiver Produktionssteigerungen.
Es bleibt aber festzuhalten, dass für das Management dieses »Chaos« und diese »Desorganisation« solange kein Problem darstellten, wie seine Vorgaben erfüllt wurden. Die formale Betriebsorganisation war daher mehr als nur ein realitätsfernes Schema. Sie diente insbesondere zur Legitimation der durch das Management gesetzten Normen. Die Widersprüche wurden dabei auf Kosten der Arbeiter mit Hilfe der Meister verdeckt.
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•NEUER BEITRAG16.12.2019, 15:32 Uhr
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Die Streiks von 1968/69
Das änderte sich vor allem mit den Streikbewegungen 1968/69. Noch in den 1950er und 1960er Jahren galten die FIAT-Arbeiter als schwer mobilisierbar. Es herrschte ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und der Angst vor den Vorgesetzten. Bei Streiks beteiligte sich meist – bis auf eine erste große Auseinandersetzung während nationaler Tarifstreiks 1962 – nur eine verschwindende Minderheit. Die FIAT-Arbeiter galten lange aufgrund der höheren Löhne als privilegiert und als »Angsthasen«. Ende der 1960er Jahre kam es jedoch zu einer Zuspitzung der Situation. Der anhaltende Boom führte zu einer extremen Intensivierung im Produktionsprozess, zugleich wuchsen die sozialen Spannungen in der Stadt aufgrund des massenhaften Zustroms neuer Arbeitskräfte, auf die der Wohnungsmarkt und die städtische Infrastruktur nicht vorbereitet waren, während die Studentenbewegung ab 1968 damit begann, die Hierarchien in Universität und Gesellschaft erfolgreich herauszufordern.
Im Frühjahr und Sommer 1969 entwickelten sich Auseinandersetzungen um Qualifizierung und Eingruppierung in einigen eher spezifischen Abteilungen des Werkes, wie den Wartungswerkstätten, zu einem wahren Flächenbrand, als auch die meist aus dem Süden eingewanderten Arbeiter an den Montagebändern des Karosseriewerkes spontan die Arbeit niederlegten. Die Gewerkschaften waren hier kaum präsent und versuchten zunächst sogar, die Streiks zu verhindern, da sie mit der Unternehmensleitung zugunsten einiger Zugeständnisse ein Stillhalteabkommen bis zu den Tarifverhandlungen im Herbst geschlossen hatten. Das führte zum Teil auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Streikenden und betrieblichen Gewerkschaftsfunktionären. Eine wichtige Rolle spielte hierbei das Eingreifen der Studentenbewegung, die durch die Verbreitung von Flugblättern und gemeinsame Versammlungen mit den Arbeitern bei der Kommunikation und der Ausdehnung des Ausstands halfen. Die Werkstore wurden bei Schichtwechsel zu Versammlungs- und Diskussionsorten, in einer nahe gelegenen Bar und später in der Universitätsklinik tagte eine Versammlung, an der sich neben den Studenten auch mehrere hundert Arbeiter beteiligten. Höhepunkt war schließlich die »Schlacht auf dem Corso Traiano« am 3. Juli 1969, als eine Demonstration aus dem Werk heraus gegen hohe Mieten und die Wohnungsnot von der Polizei angegriffen wurde. Stundenlang, bis in die Nacht hinein, lieferten sich Arbeiter in den umliegenden Vierteln mit der Staatsgewalt Straßenschlachten.
Der endgültige Bruch mit der bisherigen Situation erfolgte schließlich im »heißen Herbst«. Über Monate hinweg kam das Werk nicht zur Ruhe, große Demonstrationen zogen durch die Abteilungen und brachten die Produktion zum Erliegen. Diese Aktionen waren entscheidend, da sie vor allem die Macht der Vorarbeiter und Meister über die Arbeiter brachen und so die Fabrikhierarchie nachhaltig erschütterten. Ein Arbeiter erinnerte sich, »sobald sie ihre Abteilung verlassen hatten, sobald sie außerhalb der Kontrolle ihres Meisters waren, verwandelten sich die Arbeiter von Angsthasen zu Löwen«.¹
Ein ausgestopftes Kaninchen an einem Stock hängend wurde zum Markenzeichen bei den Demonstrationen der FIAT-Arbeiter. Es diente sowohl als Drohung gegenüber Streikbrechern (die weiterhin als Conigli, Kaninchen oder auch Angsthasen, bezeichnet wurden) wie auch als Zeichen der Überwindung der eigenen Angst.
Die Streikbewegungen können dabei als Klassenbildungsprozess beschrieben werden. In dessen Zentrum standen die von den Operaisten so bezeichneten Massenarbeiter, die zumeist aus dem Süden Italiens zugewanderten un- und angelernten Arbeiter an den Bändern. Sie entwickelten im Zuge der Auseinandersetzungen eigene kulturelle Praktiken und Rituale und setzten neue Organisations- und Kampfformen durch. Das zeigte sich besonders an der Ausbreitung interner Demonstrationen und versammlungsdemokratischer Formen der Streikführung, die sowohl an Vorbilder aus der Studentenbewegung als auch an Protestformen der Landarbeiter im Süden anknüpften.
Dazu gehörte aber auch die Durchsetzung von Forderungen nach gleichen Lohnerhöhungen für alle und kollektiver Übergänge in höhere Lohngruppen, womit die Status- und Lohndifferenzen zugunsten der Bandarbeiter nivelliert wurden. Mirafiori wurde davon aufgrund der Masse und Konzentration von un- und angelernten Arbeitern auf dem Fabrikgelände besonders erfasst.
Operaismus
Theoretisch antizipiert wurden viele Aspekte dieser Entwicklung bereits seit Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre von dissidenten Kreisen im Umfeld der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, vor allem von einer Gruppe um das Zeitschriftenprojekt Quaderni Rossi (Rote Hefte).
Die Gruppe hatte nicht nur durch die Kritik an gängigen Vorstellungen in der Linken über die Neutralität des technischen Produktionsprozesses und einen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus auf sich aufmerksam gemacht. Sie verfolgte auch neue methodische Ansätze, wie die Conricerca (auf deutsch Mituntersuchung, häufig auch mit »militante Untersuchung« übersetzt). Darunter wurden Untersuchungen zum Arbeitsprozess verstanden, die zugleich der Organisierung und Mobilisierung dienen und an denen die Arbeiter aktiven Anteil haben sollten und nicht bloß Objekte waren. Ziel der Gruppe war zunächst eine Vermittlung der politischen Praxis in den linken Parteien und Gewerkschaften mit den Vorgängen in den Betrieben, wobei der Primat auf der Perspektive der Arbeiterinnen und Arbeiter lag. Die Gruppe selbst spaltete sich bereits 1963. Aus ihren Nachfolgeorganisationen ging der später so bezeichnete Operaismus hervor, der sich nun durch die Postulierung einer »Arbeiterautonomie« nicht nur gegenüber dem Kapital, sondern auch gegenüber den Institutionen der Arbeiterbewegung auszeichnete. Als Träger der Arbeiterautonomie wurden die aus dem Süden eingewanderten »Massenarbeiter« wahrgenommen, die von den alten Facharbeitern dominierten Parteien und Gewerkschaften galten hingegen nur noch als Integrationsinstrumente des Kapitals. Diese Sichtweise wurde schließlich auch von den Gruppen der Neuen Linken übernommen, die aus der Studentenbewegung hervorgingen und 1969 einigen Einfluss unter den FIAT-Arbeitern gewinnen sollten.
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Die Streiks von 1968/69
Das änderte sich vor allem mit den Streikbewegungen 1968/69. Noch in den 1950er und 1960er Jahren galten die FIAT-Arbeiter als schwer mobilisierbar. Es herrschte ein Klima des gegenseitigen Misstrauens und der Angst vor den Vorgesetzten. Bei Streiks beteiligte sich meist – bis auf eine erste große Auseinandersetzung während nationaler Tarifstreiks 1962 – nur eine verschwindende Minderheit. Die FIAT-Arbeiter galten lange aufgrund der höheren Löhne als privilegiert und als »Angsthasen«. Ende der 1960er Jahre kam es jedoch zu einer Zuspitzung der Situation. Der anhaltende Boom führte zu einer extremen Intensivierung im Produktionsprozess, zugleich wuchsen die sozialen Spannungen in der Stadt aufgrund des massenhaften Zustroms neuer Arbeitskräfte, auf die der Wohnungsmarkt und die städtische Infrastruktur nicht vorbereitet waren, während die Studentenbewegung ab 1968 damit begann, die Hierarchien in Universität und Gesellschaft erfolgreich herauszufordern.
Im Frühjahr und Sommer 1969 entwickelten sich Auseinandersetzungen um Qualifizierung und Eingruppierung in einigen eher spezifischen Abteilungen des Werkes, wie den Wartungswerkstätten, zu einem wahren Flächenbrand, als auch die meist aus dem Süden eingewanderten Arbeiter an den Montagebändern des Karosseriewerkes spontan die Arbeit niederlegten. Die Gewerkschaften waren hier kaum präsent und versuchten zunächst sogar, die Streiks zu verhindern, da sie mit der Unternehmensleitung zugunsten einiger Zugeständnisse ein Stillhalteabkommen bis zu den Tarifverhandlungen im Herbst geschlossen hatten. Das führte zum Teil auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den Streikenden und betrieblichen Gewerkschaftsfunktionären. Eine wichtige Rolle spielte hierbei das Eingreifen der Studentenbewegung, die durch die Verbreitung von Flugblättern und gemeinsame Versammlungen mit den Arbeitern bei der Kommunikation und der Ausdehnung des Ausstands halfen. Die Werkstore wurden bei Schichtwechsel zu Versammlungs- und Diskussionsorten, in einer nahe gelegenen Bar und später in der Universitätsklinik tagte eine Versammlung, an der sich neben den Studenten auch mehrere hundert Arbeiter beteiligten. Höhepunkt war schließlich die »Schlacht auf dem Corso Traiano« am 3. Juli 1969, als eine Demonstration aus dem Werk heraus gegen hohe Mieten und die Wohnungsnot von der Polizei angegriffen wurde. Stundenlang, bis in die Nacht hinein, lieferten sich Arbeiter in den umliegenden Vierteln mit der Staatsgewalt Straßenschlachten.
Der endgültige Bruch mit der bisherigen Situation erfolgte schließlich im »heißen Herbst«. Über Monate hinweg kam das Werk nicht zur Ruhe, große Demonstrationen zogen durch die Abteilungen und brachten die Produktion zum Erliegen. Diese Aktionen waren entscheidend, da sie vor allem die Macht der Vorarbeiter und Meister über die Arbeiter brachen und so die Fabrikhierarchie nachhaltig erschütterten. Ein Arbeiter erinnerte sich, »sobald sie ihre Abteilung verlassen hatten, sobald sie außerhalb der Kontrolle ihres Meisters waren, verwandelten sich die Arbeiter von Angsthasen zu Löwen«.¹
Ein ausgestopftes Kaninchen an einem Stock hängend wurde zum Markenzeichen bei den Demonstrationen der FIAT-Arbeiter. Es diente sowohl als Drohung gegenüber Streikbrechern (die weiterhin als Conigli, Kaninchen oder auch Angsthasen, bezeichnet wurden) wie auch als Zeichen der Überwindung der eigenen Angst.
Die Streikbewegungen können dabei als Klassenbildungsprozess beschrieben werden. In dessen Zentrum standen die von den Operaisten so bezeichneten Massenarbeiter, die zumeist aus dem Süden Italiens zugewanderten un- und angelernten Arbeiter an den Bändern. Sie entwickelten im Zuge der Auseinandersetzungen eigene kulturelle Praktiken und Rituale und setzten neue Organisations- und Kampfformen durch. Das zeigte sich besonders an der Ausbreitung interner Demonstrationen und versammlungsdemokratischer Formen der Streikführung, die sowohl an Vorbilder aus der Studentenbewegung als auch an Protestformen der Landarbeiter im Süden anknüpften.
Dazu gehörte aber auch die Durchsetzung von Forderungen nach gleichen Lohnerhöhungen für alle und kollektiver Übergänge in höhere Lohngruppen, womit die Status- und Lohndifferenzen zugunsten der Bandarbeiter nivelliert wurden. Mirafiori wurde davon aufgrund der Masse und Konzentration von un- und angelernten Arbeitern auf dem Fabrikgelände besonders erfasst.
Operaismus
Theoretisch antizipiert wurden viele Aspekte dieser Entwicklung bereits seit Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre von dissidenten Kreisen im Umfeld der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, vor allem von einer Gruppe um das Zeitschriftenprojekt Quaderni Rossi (Rote Hefte).
Die Gruppe hatte nicht nur durch die Kritik an gängigen Vorstellungen in der Linken über die Neutralität des technischen Produktionsprozesses und einen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus auf sich aufmerksam gemacht. Sie verfolgte auch neue methodische Ansätze, wie die Conricerca (auf deutsch Mituntersuchung, häufig auch mit »militante Untersuchung« übersetzt). Darunter wurden Untersuchungen zum Arbeitsprozess verstanden, die zugleich der Organisierung und Mobilisierung dienen und an denen die Arbeiter aktiven Anteil haben sollten und nicht bloß Objekte waren. Ziel der Gruppe war zunächst eine Vermittlung der politischen Praxis in den linken Parteien und Gewerkschaften mit den Vorgängen in den Betrieben, wobei der Primat auf der Perspektive der Arbeiterinnen und Arbeiter lag. Die Gruppe selbst spaltete sich bereits 1963. Aus ihren Nachfolgeorganisationen ging der später so bezeichnete Operaismus hervor, der sich nun durch die Postulierung einer »Arbeiterautonomie« nicht nur gegenüber dem Kapital, sondern auch gegenüber den Institutionen der Arbeiterbewegung auszeichnete. Als Träger der Arbeiterautonomie wurden die aus dem Süden eingewanderten »Massenarbeiter« wahrgenommen, die von den alten Facharbeitern dominierten Parteien und Gewerkschaften galten hingegen nur noch als Integrationsinstrumente des Kapitals. Diese Sichtweise wurde schließlich auch von den Gruppen der Neuen Linken übernommen, die aus der Studentenbewegung hervorgingen und 1969 einigen Einfluss unter den FIAT-Arbeitern gewinnen sollten.
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Arbeiterkontrolle und Fabrikrat
Allerdings wurde dabei die Fähigkeit der Gewerkschaften zur Anpassung an die Bewegung erheblich unterschätzt. Auch hier gab es bereits seit Beginn der 1960er Jahre eine Strömung, insbesondere in den Metallgewerkschaften des Nordens, die auf eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung im Rahmen einer betriebsnahen Tarifpolitik setzte. Dabei sollten die Arbeitsbedingungen zum Ausgangspunkt für weitergehende Forderungen und Reformen der Betriebsorganisation werden, die sich entlang des Produktionsprozesses gliedern sollten. Im Zentrum stand das Konzept der »Arbeiterkontrolle«, verstanden als Kontrolle der Arbeitenden über ihre Arbeitsbedingungen und den Produktionsprozess am Arbeitsplatz. Abgegrenzt wurde sich von sozialpartnerschaftlichen Modellen der Mitbestimmung, wie sie der DGB in Deutschland vertrat und heute noch vertritt, da dies die Arbeiter für die Erfüllung des Profitzwecks der Unternehmen mitverantwortlich machen würde.
Erste Ansätze der betriebsnahen Tarifpolitik Anfang der 1960er Jahre blieben noch auf die Verhandlung von Betriebsprämien und Arbeitszeiten beschränkt. Der Durchbruch erfolgte auch hier mit dem »heißen Herbst«. Während der Streiks im Herbst und Winter 1969 wurden in den Abteilungen und an den Bändern Delegierte von den Arbeitsgruppen gewählt, die in einem neukonstituierten Fabrikrat zusammenkamen.
Nach den Tarifauseinandersetzungen löste dieser Fabrikrat die Commissione Interna als betriebliche Interessenvertretung ab. Ein wesentlicher Unterschied bestand darin, dass die Delegierten bzw. der Fabrikrat nicht nach Gewerkschaftslisten gewählt wurden, sondern von den Beschäftigten am Arbeitsplatz, unabhängig von einer Gewerkschaftszugehörigkeit. Sie sollten auf diese Weise sicherstellen, dass der Produktionszyklus in seinen unterschiedlichen Phasen adäquat in der betrieblichen Interessenvertretung repräsentiert wurde, und dienten zugleich als Vermittlungsglied zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der Streikbewegung der »Massenarbeiter«. Anders als in vielen linken Erzählungen kolportiert, war dies keine einseitige Integration der spontanen Kämpfe in die Gewerkschaftslogik. Denn auf diese Weise fanden auch die Forderungen und Streikformen der »Massenarbeiter«, wie gleiche Lohnerhöhungen und Streiks mit Demonstrationen durch die Abteilungen, Eingang ins Gewerkschaftsrepertoire, auch gegen Widerstände in den Gewerkschaftsapparaten und vor allem der »Betriebsratsfürsten« der alten Commissione Interna.
Die Delegierten konnten sich unter den Arbeitern nicht zuletzt deshalb durchsetzen, weil der Fabrikrat ein wirksames Instrument zur Kontrolle der Arbeitsbedingungen wurde. Die ersten Delegierten waren bei Mirafiori bereits nach den Streiks im Frühjahr und Sommer 1969 zur Überwachung der Bandgeschwindigkeiten eingeführt worden. Anfangs beschränkten sie sich darauf, die Einhaltung der durch das Management gesetzten Normen zu überprüfen, später stellten sie die Normen selbst erfolgreich in Frage – wobei sie sich die Widersprüche zwischen formaler und informeller Betriebsorganisation zunutze machen konnten. Allein schon darauf zu pochen, die offiziellen Normen zu veröffentlichen und einzuhalten, verhinderte willkürliche Produktionsbeschleunigungen und führte zu einer signifikanten Senkung der Arbeitsbelastung. Daneben fanden zu Beginn der 1970er Jahre aber auch weitere Auseinandersetzungen auf Abteilungs- und Werkstattebene statt, bei denen die Delegierten eine wichtige Rolle spielten, etwa zu Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz sowie der Qualifikation und Eingruppierung in die Lohngruppen.
Auf diese Weise gelang es, die einseitige Festlegung der Determinanten des Arbeitsprozesses durch die Direktion einzuschränken bzw. wesentliche Mechanismen der Disziplinierung und der Kontrolle über die Arbeitskraft zu entschärfen.
Resultat der Streikbewegungen
Die Streikbewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren zugleich Ausdruck und Motor gesellschaftlicher Veränderungen, in der historischen Forschung oft als Wertewandel beschrieben. Sie veränderten nicht zuletzt die Einstellung der Arbeiter zur fordistisch-tayloristischen Arbeitsdisziplin. Die Beschäftigten waren nicht länger bereit, sich diesem maschinellen Regime zu unterwerfen. Auch beklagten sie sich nicht mehr nur über die Arbeitsbelastung, sondern stellten sie mit wachsendem Selbstbewusstsein in Frage. Hinzu kamen jedoch auch Zugeständnisse von seiten der Unternehmensleitung. Diese war vor dem Hintergrund eines boomenden Marktes darum bemüht, das Verhältnis zu ihren Arbeitern wieder zu stabilisieren, um Produktionsunterbrechungen zu vermeiden. Sie versuchte mögliche Auseinandersetzungen zu unterlaufen, indem sie Kommissionen zum Akkord, zum Gesundheitsschutz und zur Qualifikation einrichtete. Kurzfristig trug dies zur Entschärfung bei. Mittelfristig wurden auf diese Weise neue Regeln und Gewohnheiten anerkannt, die die Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung auf Kosten der Arbeiter einschränkten. Zwar zähmte diese Strategie der Institutionalisierung das Widerstandspotential im Werk ein wenig, sie verringerte jedoch zugleich die Flexibilität, mit der das Unternehmen den Einsatz seiner Arbeitskräfte gestalten konnte.
Daher lässt sich festhalten, dass die Streikbewegungen das fordistisch-tayloristische Produktionsmodell, wie es Mirafiori im besonderen Maße repräsentierte, in eine tiefe Krise stürzten. Eine Krise, deren Ursache sich eben nicht allein auf Lohnforderungen reduzieren lässt. Ihre Überwindung sollte jedoch anders aussehen, als es sich die Protagonisten vorgestellt hatten. Die Gründe dafür sind sicherlich nicht alleine im Betrieb zu suchen. Doch deuteten sich bereits vor der im Sommer 1973 einsetzenden Weltwirtschaftskrise einige Tendenzen bei der FIAT an, die sich danach noch verstärken sollten. Hierzu gehört die Automatisierung von Teilen des Produktionsprozesses, bei denen die Produktionsmacht der Arbeiter besonders groß war. Zu diesen technologischen Strategien kamen räumliche hinzu – Dezentralisierung der Produktion, Aufsplittung in kleinere, leichter zu kontrollierende Einheiten. Dies sollte sich im Verlauf der 1970er Jahre noch verstärken und bereitete die große Niederlage der Gewerkschaften bei der FIAT 1980 vor. Damals wurden mit einem Schlag 24.000 Arbeiter entlassen, darunter viele Delegierte. Als die Gewerkschaftsspitze nach 35 Tagen Streik auf einer Versammlung der Delegierten trotz offensichtlicher Mehrheit der Gegenstimmen den Abbruch der Arbeitsniederlegung verkündete, war dies das Ende des Fabrikrats und mit ihm eines beeindruckenden Experiments der Arbeiterkontrolle in einem der größten Automobilbetriebe Europas.
Anmerkung
1 Erinnerungen von Luciano Parlanti in: Gabriele Polo: I tamburi di Mirafiori. Testimonianze operaie attorno all’autunno caldo alla Fiat, Turin 1989, S. 63
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Arbeiterkontrolle und Fabrikrat
Allerdings wurde dabei die Fähigkeit der Gewerkschaften zur Anpassung an die Bewegung erheblich unterschätzt. Auch hier gab es bereits seit Beginn der 1960er Jahre eine Strömung, insbesondere in den Metallgewerkschaften des Nordens, die auf eine Erneuerung der Gewerkschaftsbewegung im Rahmen einer betriebsnahen Tarifpolitik setzte. Dabei sollten die Arbeitsbedingungen zum Ausgangspunkt für weitergehende Forderungen und Reformen der Betriebsorganisation werden, die sich entlang des Produktionsprozesses gliedern sollten. Im Zentrum stand das Konzept der »Arbeiterkontrolle«, verstanden als Kontrolle der Arbeitenden über ihre Arbeitsbedingungen und den Produktionsprozess am Arbeitsplatz. Abgegrenzt wurde sich von sozialpartnerschaftlichen Modellen der Mitbestimmung, wie sie der DGB in Deutschland vertrat und heute noch vertritt, da dies die Arbeiter für die Erfüllung des Profitzwecks der Unternehmen mitverantwortlich machen würde.
Erste Ansätze der betriebsnahen Tarifpolitik Anfang der 1960er Jahre blieben noch auf die Verhandlung von Betriebsprämien und Arbeitszeiten beschränkt. Der Durchbruch erfolgte auch hier mit dem »heißen Herbst«. Während der Streiks im Herbst und Winter 1969 wurden in den Abteilungen und an den Bändern Delegierte von den Arbeitsgruppen gewählt, die in einem neukonstituierten Fabrikrat zusammenkamen.
Nach den Tarifauseinandersetzungen löste dieser Fabrikrat die Commissione Interna als betriebliche Interessenvertretung ab. Ein wesentlicher Unterschied bestand darin, dass die Delegierten bzw. der Fabrikrat nicht nach Gewerkschaftslisten gewählt wurden, sondern von den Beschäftigten am Arbeitsplatz, unabhängig von einer Gewerkschaftszugehörigkeit. Sie sollten auf diese Weise sicherstellen, dass der Produktionszyklus in seinen unterschiedlichen Phasen adäquat in der betrieblichen Interessenvertretung repräsentiert wurde, und dienten zugleich als Vermittlungsglied zwischen der Gewerkschaftsbewegung und der Streikbewegung der »Massenarbeiter«. Anders als in vielen linken Erzählungen kolportiert, war dies keine einseitige Integration der spontanen Kämpfe in die Gewerkschaftslogik. Denn auf diese Weise fanden auch die Forderungen und Streikformen der »Massenarbeiter«, wie gleiche Lohnerhöhungen und Streiks mit Demonstrationen durch die Abteilungen, Eingang ins Gewerkschaftsrepertoire, auch gegen Widerstände in den Gewerkschaftsapparaten und vor allem der »Betriebsratsfürsten« der alten Commissione Interna.
Die Delegierten konnten sich unter den Arbeitern nicht zuletzt deshalb durchsetzen, weil der Fabrikrat ein wirksames Instrument zur Kontrolle der Arbeitsbedingungen wurde. Die ersten Delegierten waren bei Mirafiori bereits nach den Streiks im Frühjahr und Sommer 1969 zur Überwachung der Bandgeschwindigkeiten eingeführt worden. Anfangs beschränkten sie sich darauf, die Einhaltung der durch das Management gesetzten Normen zu überprüfen, später stellten sie die Normen selbst erfolgreich in Frage – wobei sie sich die Widersprüche zwischen formaler und informeller Betriebsorganisation zunutze machen konnten. Allein schon darauf zu pochen, die offiziellen Normen zu veröffentlichen und einzuhalten, verhinderte willkürliche Produktionsbeschleunigungen und führte zu einer signifikanten Senkung der Arbeitsbelastung. Daneben fanden zu Beginn der 1970er Jahre aber auch weitere Auseinandersetzungen auf Abteilungs- und Werkstattebene statt, bei denen die Delegierten eine wichtige Rolle spielten, etwa zu Gesundheitsrisiken am Arbeitsplatz sowie der Qualifikation und Eingruppierung in die Lohngruppen.
Auf diese Weise gelang es, die einseitige Festlegung der Determinanten des Arbeitsprozesses durch die Direktion einzuschränken bzw. wesentliche Mechanismen der Disziplinierung und der Kontrolle über die Arbeitskraft zu entschärfen.
Resultat der Streikbewegungen
Die Streikbewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren zugleich Ausdruck und Motor gesellschaftlicher Veränderungen, in der historischen Forschung oft als Wertewandel beschrieben. Sie veränderten nicht zuletzt die Einstellung der Arbeiter zur fordistisch-tayloristischen Arbeitsdisziplin. Die Beschäftigten waren nicht länger bereit, sich diesem maschinellen Regime zu unterwerfen. Auch beklagten sie sich nicht mehr nur über die Arbeitsbelastung, sondern stellten sie mit wachsendem Selbstbewusstsein in Frage. Hinzu kamen jedoch auch Zugeständnisse von seiten der Unternehmensleitung. Diese war vor dem Hintergrund eines boomenden Marktes darum bemüht, das Verhältnis zu ihren Arbeitern wieder zu stabilisieren, um Produktionsunterbrechungen zu vermeiden. Sie versuchte mögliche Auseinandersetzungen zu unterlaufen, indem sie Kommissionen zum Akkord, zum Gesundheitsschutz und zur Qualifikation einrichtete. Kurzfristig trug dies zur Entschärfung bei. Mittelfristig wurden auf diese Weise neue Regeln und Gewohnheiten anerkannt, die die Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung auf Kosten der Arbeiter einschränkten. Zwar zähmte diese Strategie der Institutionalisierung das Widerstandspotential im Werk ein wenig, sie verringerte jedoch zugleich die Flexibilität, mit der das Unternehmen den Einsatz seiner Arbeitskräfte gestalten konnte.
Daher lässt sich festhalten, dass die Streikbewegungen das fordistisch-tayloristische Produktionsmodell, wie es Mirafiori im besonderen Maße repräsentierte, in eine tiefe Krise stürzten. Eine Krise, deren Ursache sich eben nicht allein auf Lohnforderungen reduzieren lässt. Ihre Überwindung sollte jedoch anders aussehen, als es sich die Protagonisten vorgestellt hatten. Die Gründe dafür sind sicherlich nicht alleine im Betrieb zu suchen. Doch deuteten sich bereits vor der im Sommer 1973 einsetzenden Weltwirtschaftskrise einige Tendenzen bei der FIAT an, die sich danach noch verstärken sollten. Hierzu gehört die Automatisierung von Teilen des Produktionsprozesses, bei denen die Produktionsmacht der Arbeiter besonders groß war. Zu diesen technologischen Strategien kamen räumliche hinzu – Dezentralisierung der Produktion, Aufsplittung in kleinere, leichter zu kontrollierende Einheiten. Dies sollte sich im Verlauf der 1970er Jahre noch verstärken und bereitete die große Niederlage der Gewerkschaften bei der FIAT 1980 vor. Damals wurden mit einem Schlag 24.000 Arbeiter entlassen, darunter viele Delegierte. Als die Gewerkschaftsspitze nach 35 Tagen Streik auf einer Versammlung der Delegierten trotz offensichtlicher Mehrheit der Gegenstimmen den Abbruch der Arbeitsniederlegung verkündete, war dies das Ende des Fabrikrats und mit ihm eines beeindruckenden Experiments der Arbeiterkontrolle in einem der größten Automobilbetriebe Europas.
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