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NEUES THEMA24.11.2019, 22:03 Uhr
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• Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der DDR In der jW von morgen:

Sozialistische Wirklichkeit

Fortschritt und Perspektive

Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der DDR

Von Detlef Kannapin

Am 13. Oktober 1949 schickte der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Josef W. Stalin, an die Regierung der gerade gegründeten DDR ein Telegramm: »Die Gründung der Deutschen Demokratischen friedliebenden Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Existenz eines friedliebenden demokratischen Deutschland neben dem Bestehen der friedliebenden Sowjetunion die Möglichkeit neuer Kriege in Europa ausschließt, dem Blutvergießen in Europa ein Ende macht und die Knechtung der europäischen Länder durch die Weltimperialisten unmöglich macht.« Auch wenn es heute noch bedeutend zu früh ist, eine fundierte historische Einschätzung der DDR zu liefern, so lässt sich doch bereits aufzeigen, in welche Richtung sich eine präzise geschichtliche Einordnung der DDR aus emanzipatorischer Sicht entwickeln wird. Doch immerhin sollte bereits gegenwärtig klar sein, dass ihre Gründung entgegen allen Behauptungen von »totalitärer Diktatur« der Wendepunkt war, von dem Stalin damals gesprochen hat.

Zum Kernpunkt der DDR gehört ihre Fixierung auf Fortschritt und Perspektive, wozu entsprechende geistesgeschichtliche Grundlagen gehören. Der Begriff »geistesgeschichtlich« bezieht sich hierbei direkt und mit vollem Wissen auf Carl Schmitt, dessen Abhandlung über »die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus« von 1923 auch methodisch und inhaltlich Modellcharakter hat. Schmitts Kritik am Zustand des Parlamentarismus deckte sich in dieser Schrift oft mit derjenigen Lenins, sein rechtssoziologischer Totalitarismus war noch nicht faschistisch, und geistesgeschichtliche Traditionslinien im Sinne von Ideengeschichte aufzudecken, sollte Gegenstand jeglicher historischer Interpretation sein. Schmitt stellte ja u.a. richtig fest, dass im wissenschaftlichen Sozialismus das »Bewusstsein zum Kriterium des Fortschrittes« wird;¹ und das ist eine Erkenntnis, hinter der Wohl und Wehe jeder sozialistischen Gesellschaftsordnung verborgen liegen, selbst wenn sie von der politischen Gegenseite formuliert wird.

Marx, Engels, Lenin

Das geistige Fundament der DDR waren natürlich die Werke von Marx, Engels und Lenin. Allerdings hätte ihre Bedeutung mit fortschreitender Dauer der DDR eigentlich abnehmen müssen, proportional zur verbesserten Entwicklung des Sozialismus im Lande. Marx und Engels als philosophisch relevante Stichwortgeber, Lenin als Ausgangspunkt eigenen politischen Handelns, um von hier aus eine originäre sozialistische Theorie und Praxis zu erarbeiten – das wäre adäquater Ausdruck des notwendigen Bewusstseinsstandes gewesen. Im weiteren Verlauf kamen in der frühen DDR die Schriften Stalins, in der mittleren die von Ulbricht hinzu, aber spätestens ab Mitte der 1970er Jahre versäumte man es, die Bewusstseinsbildung politisch, ideologisch, kulturell und theoretisch wirkungsvoll den neuen Herausforderungen der sozialistischen Gesellschaftsorganisation anzupassen. Offensive Verfechter des Sozialismus in der DDR wie Peter Hacks, Wolfgang Harich, Werner Lamberz oder Konrad Wolf gerieten erst in die Minderheit und dann in die Isolation oder starben zu früh, wohingegen die Mehrheit der geistigen Führungskader von Kurt Masur bis Heiner Müller eher gelangweilt bis gleichgültig auf das Phänomen DDR herabzublicken begann.

Wenn also von den geistesgeschichtlichen Grundlagen der DDR die Rede ist, dann geht es um Antifaschismus, staatsbürgerlichen Humanismus und sozialistisches Bewusstsein. Und darum, dass die Anerkennung sogenannter Lebensleistungen nicht ohne deren institutionellen und ideellen Hintergrund (die staatliche Verfasstheit der DDR) zu begreifen ist.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Totalverheerung Europas durch den deutschen Imperialismus 1945 kam der Antifaschismus wie von selbst auf die Tagesordnung. Die Mehrheit der Deutschen allerdings war eher sauer darüber, dass sie den Krieg verloren, und die Täter darüber, dass sie gemordet und am Ende nichts dafür bekommen hatten.2 Daher musste die Verordnung des Antifaschismus durch die Alliierten für das übriggebliebene Deutschland als Sofortprogramm in Angriff genommen werden. Dies war die einzige Chance auf eine absehbare Rückkehr Deutschlands in die zivilisierte Staatengemeinschaft.

In der Sowjetischen Besatzungszone legte die antifaschistisch-demokratische Periode bis 1949 mit den Maßnahmen zur Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher, der Bodenreform, der Teilvergesellschaftung der Hauptindustriezweige sowie der Säuberung des Staatsapparates und der öffentlichen Verwaltung den Grundstein für die Verhinderung eines öffentlichen Wiederauflebens des Faschismus. Dem folgte nach Gründung der DDR die Erhebung des Antifaschismus in den Verfassungsrang, was alle drei DDR-Verfassungen, die von 1949 (Art.6), die von 1968 (Art.6, Abs.5) und die von 1974 (Präambel und Art.6, Abs.5) berücksichtigten. Gleichzeitig wurden öffentliche faschistische Bekenntnisse als Straftaten betrachtet und entsprechend geahndet. Zwar war damit noch nicht garantiert, dass sich faschistische Einstellungen und Überzeugungen nicht doch länger im Alltagsleben halten konnten – ihre öffentliche Artikulation war aber unmöglich und damit auch die Formierung zu politisch eingriffsbereiten Gruppierungen oder gar Parteien. Allein die Existenz der DDR hat über vier Jahrzehnte lang dafür gesorgt, dass Revanchismus und Grenzrevisionsansprüche (durch Vertriebenenverbände), Chauvinismus und Imperialismus (durch reaktionäre Klassenfraktionen) keine Politikfähigkeit erhielten.

Antifaschismus als Gradmesser

Eine der kulturellen Hauptleistungen der DDR bestand darin, den Antifaschismus als bewusstseinspolitischen Gradmesser in die Staatsräson eingeführt zu haben. Das betraf nicht nur offizielle Anlässe oder außenpolitische Bekundungen, sondern über eine intensive Gedenkstätten-, Museums-, Schul- und Kunstpolitik nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Selbst wer völlig distanziert oder desinteressiert den Belangen des Sozialismus in der DDR gegenüberstand, kam über den Lehrplan der Klassen 9 und 10 des polytechnischen Schulunterrichts in Geschichte oder Staatsbürgerkunde in jedem Fall mit antifaschistischem Bildungsgut in Kontakt, von der Vielzahl an Werken der Literatur, Fachwissenschaft, bildenden Kunst und nicht zuletzt Film und Fernsehen ganz zu schweigen. Dort wurde immer auch thematisiert, dass es Mitläufer gab, zum Teil Unbelehrbare, Missmutige oder solche, die dem Sozialismus ablehnend gegenüberstanden. Die Integrationsmaßnahmen der DDR zur Einbindung der früheren Anhänger des Faschismus mochten nicht überall von der Überzeugung begleitet gewesen sein, nun lupenreine Sozialisten erzeugt zu haben, aber für ein gesellschaftlich bedeutungsvolles Niederhalten faschistischer Ideen und Ressentiments waren sie von nicht zu unterschätzender Tragweite.

Zu diesem Zweck war es unbedingt erforderlich, einen mentalen »Austritt« aus der bisherigen deutschen Geschichte zu vollziehen und sich auf einen dezidiert antifaschistischen Standpunkt zu stellen, der auch die durchaus problematische Hinwendung zu den »Siegern der Geschichte« intendierte. An einem gewissen Punkt reichte es nicht mehr, nur »mea culpa« zu rufen und ansonsten die Opfer Opfer sein zu lassen. Hier bestand in der DDR die Aufforderung, mit Einsicht in die Notwendigkeit darauf zu beharren, dass die Konstitution der sozialistischen Gesellschaft und die Mitwirkung aller Bevölkerungsgruppen dafür sorgen sollten, den Faschismus ein für allemal als politische Option auszuschließen. Als sich in den 1980er Jahren über die Jugendkultur verstärkt Tendenzen des Neofaschismus auch in der DDR bemerkbar machten, wurde ihre Kriminalisierung nicht mit der Anstrengung verstärkter und den nachfolgenden Generationen angemessener neuer Aufklärungsarbeit verbunden, sondern sich auf dem Erreichten ausgeruht. Eine neue Generation stellte bekanntlich andere Fragen an die Geschichte, sie zuzulassen wurde größtenteils versäumt. Ihre substantielle Beantwortung unter sozialistischen Vorzeichen wäre sicher durchaus möglich gewesen, wenn die DDR länger Bestand gehabt hätte.

Schon mit den Revolutionsfeiern 1948 und im Goethe-Jahr 1949 machte die aufstrebende sozialistische Ordnung deutlich, dass für sie die kulturelle Hebung des Gesamtniveaus in der Gesellschaft essentieller Bestandteil der kommenden Umgestaltung war. Darin folgte die DDR dem Paradigma Lenins, der für den Erfolg der russischen Revolution die Kulturfrage als wesentlich ansah. Zum einen ging es darum, Bildung für alle zu organisieren, die alten bürgerlichen Bildungsprivilegien zu beseitigen und später die Herausforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu bewältigen. Dass dies bis Anfang/Mitte der 1970er Jahre, immer unter Klassenkampfbedingungen wohlgemerkt, soweit funktionierte, dass Produktion, Arbeitskräftequalifikation und Lebensstandard internationalen Ansprüchen mehr als genügten, hatte seine entscheidende Ursache in der Bildungsrevolution unter Walter Ulbricht, was selbst von wenig berufener oder freundlicher Seite zwischenzeitlich anerkannt werden musste.3


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Bürgerliches Erbe

Zum anderen sollte ein staatsbürgerlicher Humanismus etabliert werden, der alle progressiven Elemente der bürgerlichen Kultur in den sozialistischen Kanon mit aufnahm. Dies umfasste die literarische Klassik ebenso wie die klassische Musik, den Aufbau von Kulturhäusern und Bibliotheken, die Pflege historischer Bauten und die Weiterentwicklung geistiger Strömungen aus sämtlichen fortschrittlichen Traditionen der deutschen und internationalen Geistesgeschichte. Dass dabei vieles auch sehr umstritten war (Hegel, Formalismus, Kleist, Moderne, Avantgarde etc.) und zu oft politisch restriktiv gehandhabt wurde, änderte an der Grundrichtung wenig: Jede Bürgerin und jeder Bürger der DDR sollte gleichermaßen die Möglichkeit erhalten, sich die ganze Bandbreite der Kultur erschließen zu können. Man fluchte vielleicht über den kollektiven Ausflug der Brigade ins Theater zu Schillers »Kabale und Liebe«, aber war man erst einmal da, dann bekam man die große Kunst auch mit und freute sich. Grundsatz wurde, dass proletarische Kultur von Kultur und nicht unmittelbar von Proletariat kommt. Zwischen 1954 und 1958 leitete der Dichter Johannes R. Becher das neugeschaffene Ministerium für Kultur der DDR und plädierte in seiner Doppeleigenschaft als Schriftsteller und Funktionär für die Vervollkommnung des poetischen Prinzips während der Aneignung einer neuen Lebensweise, die nicht auf der Zerstörung des bürgerlichen Erbes, sondern auf dessen produktiver Verarbeitung beruhen sollte und darüber hinaus die neu gewonnene Staatlichkeit der Werktätigen als deutliche Manifestation ihres eigenen Wirkens begriff.4 Fortschritt und Perspektive wurden nicht einfach nur proklamiert, sondern erschienen infolge der spürbaren Lebensveränderungen auch als lohnenswert. Andere DDR-Kulturpolitiker wie Alexander Abusch, Alfred Kurella, Hans Bentzien oder Klaus Gysi argumentierten ähnlich – bis hin zu einem sozialistischen Humanismusdiskurs, der die Potentiale des ganzheitlich gebildeten Menschen auslotete.5 Freilich sahen viele Künstler die ambivalente Position der Kulturpolitiker zwischen Aufsichtspflicht und Förderung der Kreativität meist nicht und vermuteten auch da Zensur und Verbot (die zu oft vorkamen), wo in der Regel der jeweilige Status des Sozialismus anhand der Werke zur Debatte stand.
Kalender: Viva la Habana 2020

Weitaus weniger souverän ging die DDR mit den Einflüssen der westlichen populären Kultur um, die zunächst vom Kino, später vom Fernsehen und letztlich von der Popmusik auf das sozialistische Gemeinwesen ausgingen. Zweifellos lagen die kapitalistischen Medien- und Ideen­arrangeure letztendlich mit der These richtig, dass die Produkte ihrer professionellen Kultur- und Bewusstseinsindustrie einen wesentlichen Beitrag zur Legitimationsunterhöhlung des Sozialismus leisteten. Hier hätte eine realistische Einschätzung der Akzeptanz solcher Kulturformen auch im Sozialismus eine praktische Verbindung bzw. Vermittlung mit den erreichten Kulturleistungen erfordert, was aber nur sehr zögerlich und eigentlich zu spät geschah.

Zum 20. Jahrestag der DDR veröffentlichte die Redaktion der Deutschen Zeitschrift für Philosophie 1969 ein Sonderheft mit dem Titel »Philosophie und Sozialismus«. Darin hieß es in der Einleitung: »Das sozialistische Bewusstsein, das geistige Leben überhaupt, wird zur wichtigsten Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung.«6 Hier wurde eine hochwichtige Einsicht gelassen ausgesprochen. Denn nach Abschluss des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus mit der Entstehung der Grundstoffindustrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft bestand die entscheidende Aufgabe ab Mitte der 1960er Jahre darin, die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und Spezialisierung für die Herausbildung und Verstetigung einer neuen Lebensweise auf Basis sozialistischer Einstellungen und Verhaltensweisen zu nutzen. Frida Hockaufs Leitsatz von 1953: »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben«, musste um einem neuen Leitsatz ergänzt werden: »So wie wir heute leben, werden wir morgen Verantwortung dafür tragen.« Eigenverantwortlichkeit und gesellschaftliche Verantwortung verlangten eine komplizierte Synthese aus Lenins sprichwörtlicher Köchin, die den Staat leiten kann, den Sorgen einfacher Arbeitskollektive um den Schutz der gemeinschaftlichen Güter, ohne davon persönlich einen Vorteil zu erhoffen, und der gesellschaftlichen Teilhabe am Regierungshandeln, wovon die Verfassungsdiskussion 1968 das sicherlich prägnanteste gelungene Beispiel war. Die verstärkte Rolle des subjektiven Faktors in der Gesellschaft, die Umsetzung des sozialistischen Realismus als bewusstseinsförderndes Gesamtorganisationsprinzip (nicht als ästhetischer Stil allein) sowie die anstehende Flexibilisierung staatlicher Entscheidungsstrukturen mischten sich zu einer komplexen Aufgabenstellung, die die Mitarbeit aller sozialen Klassen, Gruppen und Schichten erforderte.

Durchgekommen

Bis weit in die 1970er Jahre konnte von dieser Mitarbeit noch gezehrt werden, obwohl aus wenig nachvollziehbaren Gründen die Parteiführung unter Erich Honecker die Intensivierung bewusstseinsbildender Tätigkeiten vernachlässigte. Die geistigen Grundlagen der DDR, sinnfällig gemacht im »historisch-materialistischen Begreifen des gesellschaftlichen Fortschritts«,7 um den Individuen ein entsprechendes Ziel und die perspektivische Hoffnung auf Erreichen dieses Ziels (lebendige Gestaltung des eigenen Gemeinwesens frei von sozialen Zwängen der Selbsterhaltung) anzubieten, wurden nach und nach als selbstverständlich angesehen, ohne sich die Gefahr zu vergegenwärtigen, dass auch nichtantagonistische innere Widersprüche im Sozialismus erneut zu Widersprüchen unter Einflussnahme und Lenkung der bürgerlichen Gesellschaft werden könnten. Anhand des Defa-Spielfilms »Die besten Jahre« (1965, Regie: Günther Rücker) über den gesellschaftspolitischen Aufstieg des Neulehrers Ernst Machner (Horst Drinda) illus­trierte der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase in eindeutigen Worten, worum es bei der Pflege des Sozialismus durch ihre Erbauer und Nutznießer eigentlich gegangen ist – ums Ganze: »Wie ist er durchgekommen? Nicht mit Glanz und Gloria. Nicht mit dem fertigen Plan der Zukunft in der Tasche. Mit Schweiß. Mit Pervitin-Tabletten. Mit sehr langsam wachsendem Selbstvertrauen. Mit einem Herzknacks. Aber dennoch: Machner, der einmal nichts wollte als sich satt essen und Tuche weben und der, als er kaum Lehrer war, schon eine Schule leiten musste und den man, als er sich an die Dorfschule gerade gewöhnt hatte, als Rektor in ein Gymnasium schickte, der die Bücher einen Tag vor seinen Schülern las und der von Französisch nichts verstand und Englisch falsch aussprach und der nun auf das Ministerium losmarschiert und schon weiß, dass die gerade fertigen Lehrpläne schon morgen nicht ausreichen werden, Machner ist durchgekommen. Und indem darüber berichtet wird, erfahren wir etwas von dem offenen Geheimnis, warum wir alle durchgekommen sind, und mit uns dieses nüchterne und phantastische Unternehmen DDR.«8

Zu den größten Mythen der jüngeren Zeitgeschichte gehört die Legende, dass die Selbstabschaffung des Sozialismus 1989/90 durch Demonstrationen einer orientierungslosen Opposition und die Öffnung der deutsch-deutschen Grenze durch den holprigen Zettelvortrag eines mediokren Parteibürokraten hervorgerufen worden sein soll. Ganz im Gegensatz dazu konnte der Zusammenbruch eines ganzen Weltsystems, das weder militärisch noch politisch, noch sozial besiegbar war (selbst ökonomisch hätte es für ein Weiterleben durchaus gereicht), nicht ohne Initiative und Vorleistung der dort herrschenden Klassen und Gruppierungen geschehen. Die Frage, warum die kommunistischen Parteien des Ostens die Arbeit am kommunistischen Projekt eingestellt und statt dessen den Kapitalismus restituiert haben, ist nur, wie der Kunstphilosoph Boris Groys betont hat, im Kontext der materialistischen Dialektik zu beantworten.9 Zu einem gewissen Zeitpunkt, der mangels Quellenabsicherung weiterhin schwer zu datieren ist, vermutlich aber in die Stagnationsphase der Breschnew-Ära (1964–1982) fällt, weil ab da die Entscheidungen der KPdSU widersprüchlich und international fragwürdig werden, scheint es für die Parteibürokratie attraktiver gewesen zu sein, statt die Bewusstseinsentwicklung voranzutreiben, ihren Frieden mit dem Weltkapital zu machen. Von da an mutierten viele Parteiverantwortliche zu Marktgläubigen, und nichts drückte die Defizite der bewusstseinsmäßigen Schulung der letzten DDR-Jahre besser aus als der Satz des stellvertretenden Kommandeurs für Politische Arbeit der Artillerieabteilung 3 des NVA-Regimentes 5, als er bei seinem SED-Austritt im Oktober 1989 ausrief: »Jetzt nützt mir die Partei nichts mehr.«


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NEUER BEITRAG24.11.2019, 22:06 Uhr
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Frei zur Wiederholung

Die Entscheidung über die Selbstabschaffung des Sozialismus hat nicht nur Gründe, die in der Weltmarktunterwerfung und der technologischen Niederhaltung der sozialistischen Staaten zu suchen sind, sondern sie führt auch zu dem paradoxen Resultat, dass UdSSR, DDR und andere Länder des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe nicht aus systemischen Gründen gescheitert sind. Der anfangs betonte Wendepunkt in der Geschichte Europas ist ja nicht dadurch aufgehoben, dass der Staat namens DDR nicht mehr existiert, sondern er lebt geistesgeschichtlich fort, weil das Gründungsereignis als solches überhaupt stattgefunden hat. Hinzu kommt, dass die antiutopische Gestalt des Sozialismus als Handlungsmotivation seine ureigenen Ansprüche, Fortschritt zu gewähren und seine Perspektive wirklich einzulösen, für eine gewisse Zeit auszufüllen vermochte. Damit erbrachte er im wahrsten Sinne des Wortes den handgreiflichen Beweis dafür, dass die Beseitigung des Kapitalismus möglich und notwendig ist. Von dieser Warte aus gesehen, gilt lediglich die erste Etappe der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung als vollendet, die kommunistische Perspektive hat ihre historische Form gewonnen und damit ihre »irdische Inkarnation«, die »somit zu einer Wiederholung freigestellt« ist.10 Die positive Erinnerung an die geistesgeschichtlichen Grundlagen des »nüchternen und phantastischen Unternehmens DDR« kann dabei helfen, die zukünftige Solidargemeinschaft der Gleichen und Freien verbessert vorzubereiten.

Anmerkungen

1 Carl Schmitt: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Berlin 2017, S. 75

Vgl. Georg Seeßlen: Natural Born Nazis. Faschismus in der populären Kultur. Band 2, Berlin 1996, S. 113

Vgl. z. B. Ernst Richert: Die DDR-Elite oder Unsere Partner von morgen?, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 21 f.

4 Vgl. Johannes R. Becher: Über Literatur und Kunst, Berlin 1962, S. 23–25, S.430 f.

5 Vgl. dazu (wenn auch mit abwertendem Unterton) Horst Groschopp: Der ganze Mensch. Die DDR und der Humanismus. Ein Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte, Marburg 2013, S. 338–460

6 Zum 20. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderheft 1969: Philosophie und Sozialismus, S. 8

7 Vgl. Georg Mende/Rudolf Gehrke: Die geistigen Grundlagen der Deutschen Demokratischen Republik, in: Ebenda, S. 16

8 Wolfgang Kohlhaase: »Die besten Jahre«, in: Filmwissenschaftliche Mitteilungen 1/1966, S. 214. Der Film ist seit Juli 2019 als DVD erhältlich: Link ...jetzt anmelden!

9 Boris Groys: Das kommunistische Postskriptum, Frankfurt am Main 2006, S. 80

10 Ebenda, S. 96


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NEUER BEITRAG16.03.2020, 14:22 Uhr
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Nietzsche in der DDR Ich setzte unter dem Titel "Nietzsche in der DDR" den Thread "Geistesgeschichtliche Grundlagen der DDR" fort, dies aus zwei Gründen: a) Wieder ist Detlef Kannapin der Autor. b) Das Thema setzt sich hier gewissermaßen als exemplarische Studie zum Verfall eben dieser geistesgeschichtlichen Grundlage fort.

jW heute:

Genealogie des Verfalls

Wolfgang Harich war in der DDR weitgehend isoliert. Unerbittlich stritt er gegen die dortige Rehabilitierung Friedrich Nietzsches – vergeblich

Von Detlef Kannapin

Die zweite Hälfte der DDR wird einmal in die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung als die Phase eingehen, in der politische Fehlentscheidungen, dubiose Verwicklungen, merkwürdige Arrangements und fadenscheinige Ausflüchte in ihrer ganzen Tragik zur Selbstabschaffung des Systems beitrugen.

Während nur eine Minderheit der politischen Fehlentscheidungen in Berlin getroffen wurde, zeigte sich allerdings in den geistigen Grundströmungen der späten DDR das ganze Ausmaß dessen, was mit dem Verlust von Prinzipienfestigkeit, der Selbstaufgabe sozialistischer Standards und einem Aufweichen politisch-moralischer Grundüberzeugungen über fast zwei Jahrzehnte hin angerichtet werden konnte: die Vorbereitung auf eine Kapitulation. Die Schlaglichter zur Entschlüsselung dieses hausgemachten Übernahmeangebotes an die Kapitalfraktionen warf vor gut zwanzig Jahren der Dramatiker Peter Hacks auf konzentrierten vier Seiten seiner Schrift »Zur Romantik« unter dem prägnanten Titel »Hermlin empfiehlt«.¹

»Reaktionärste Erscheinung«

Gemeint war Stephan Hermlin, Vorzeigedichterfunktionär der DDR mit besten Kontakten ins Politbüro der SED. Die Zeitschrift der Akademie der Künste, Sinn und Form, hat nun im ersten Heft des Jahres 2020 vier Briefe des Philosophen Wolfgang Harich an eben jenen Stephan Hermlin aus den Jahren 1986 bis 1988 abgedruckt, die sich alle mit Friedrich Nietzsche beschäftigen, jenem Denker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, der mit vollem Recht als ein Wegbereiter des Faschismus in Deutschland und Europa bezeichnet werden kann. Harich wehrte sich in den Briefen an Hermlin gegen eine unfruchtbare und schädliche Einreihung von Nietzsche in den zu pflegenden oder wenigstens zu beachtenden Erbkanon der DDR, während bedeutendere Dichter und Denker des bürgerlichen und sozialistischen Humanismus in der Gedenk- und Publikationspolitik sträflich vernachlässigt würden. Der Herausgeber der sehr umfangreichen Nachlassschriften Harichs, Andreas Heyer, verfasste dafür eine orientierende Vorbemerkung.²

Diese Veröffentlichung rief den Redakteur Arno Widmann von der Berliner Zeitung auf den Plan, der behauptete, Harich hätte Nietzsche in der DDR verbieten wollen und Heyer würde mit seiner Vorbemerkung zu den Briefen dessen »Reinwaschung« betreiben. In klassisch-bürgerlicher Manier kam Widmann nicht eine Sekunde lang auf die Idee, darüber nachzudenken, welche Inhalte von Nietzsche transportiert worden sind und warum diese in einer sozialistischen Gesellschaft keinen Platz haben. Statt dessen ging es ihm um die Meinungsbildung, die Verbote ausschlösse, und darum, dass die DDR »keine Gesellschaft mehr« war, »in der sich für marxistisch haltende Eliten um Deutungshoheit und Macht stritten«.³ Letzteres stimmte zwar, aber aus anderen Gründen als den von Widmann angenommenen. Niemand wollte sich in den 1980er Jahren in der DDR über Nietzsche streiten, viele wollten ihn haben. Er war auch nicht verboten, sondern schlummerte in den Bibliotheken als Artefakt überwundener Vergangenheit. Anfang der 1970er Jahre begannen einige französische Philosophen, ihn wiederzuentdecken. Diese Renaissance durchlief zunächst die BRD und stieß danach auf eine empfängnisbereite DDR-Intellektuellenschicht, die, ohne jemals eine erschöpfende Wahrnehmung des gesamten Reichtums der sozialistischen und kommunistischen Literatur in Erwägung gezogen zu haben, um so bereitwilliger dem neuen Nietzsche-Kultus huldigte. Hier hinein passte auch das Verdikt einer Vorkämpferin der Beschäftigung mit Nietzsche »ohne Scheuklappen«, der Kulturwissenschaftlerin Renate Reschke, die im Sender Deutschlandfunk Kultur am 3. November 2019 unwidersprochen und wahrheitswidrig stehenlassen konnte, dass Harich »mit seinem Einfluss« angeblich die Publikation ihrer Habilitationsschrift über Nietzsche verhindert hätte.⁴

Betrachtet man hingegen die Quellen, so ergibt sich eine Symptomatik des Verfalls sozialistischer Grundsätze im letzten Jahrzehnt der DDR, der, ausgehend von Leitungskadern und angeblichen Leistungsträgern der repräsentativen Öffentlichkeit, die Kapitulation vor dem Westen in ideeller Hinsicht vorbereitete. Mit dem nunmehr zwölften Band der »Schriften aus dem Nachlass« Wolfgang Harichs, der sämtliche Schriften und Korrespondenzen des Philosophen zu und über Nietzsche beinhaltet, liegt für die objektive Betrachtung ein Kompendium vor, das die bislang vorherrschenden Unklarheiten beseitigt und Harich als den zeigt, der er war: ein durchaus unbequemer, aber höchst bedeutender marxistischer Philosoph, dessen Urteile über eine Tageswirkung weit hinausgreifen. Zwei ausführliche Einleitungen Heyers bieten auch für Leserinnen und Leser ohne spezialisiertes Hintergrundwissen die nötige historische Einordnung.⁵ Ãœberhaupt ist nachdrücklich darauf zu verweisen, dass die gesamte Editionsleistung des Herausgebers (insgesamt sind 16 Bände geplant) ihres Gleichen sucht und der marxistischen Philosophie ein Klassiker des 20. Jahrhunderts zurückgegeben wurde.

»Der entlaufene Dingo«

Zur Erinnerung: Wolfgang Harich (1923–1995) war zunächst in Berlin und der frühen DDR ein erfolgreicher Publizist, Dozent für Philosophie an der Humboldt-Universität, Lektor im Aufbau-Verlag und zeitweise Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie. Im Zuge des Ungarn-Aufstandes von 1956 wurde er mit Walter Janka und anderen wegen der »Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe« im März 1957 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, von denen er bis Ende 1964 acht Jahre absaß. Nach seiner Freilassung blieb er zunächst in der DDR und arbeitete an der Ludwig-Feuerbach-Ausgabe des Akademie-Verlages mit. Darüber hinaus konnte er einzelne kleinere Monographien, so über Jean Paul (1968, 1974), über Anarchismus (1971) und über »Kommunismus ohne Wachstum« (1975) veröffentlichen. Nach der letzten, nur im Westen erschienenen Arbeit über die wachsende Bedeutung der Ökologie für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, war er zunehmend isoliert und hatte in der DDR kaum noch Möglichkeiten, mit seinem Wissen in die Lenkungsdebatten einzugreifen. Zur Isolation beigetragen haben dürfte seine vehemente Verteidigung der Klassikeradaptionen gegen verflachende und pessimistische Umarbeitungen anlässlich der »Macbeth«-Bearbeitung von Heiner Müller aus dem Jahre 1973, die sich gleichzeitig gegen die Renaissance der Romantik wendete und damit früh erahnen ließ, was auch einer sozialistischen Gesellschaft passieren kann, in der die Grundübel kapitalistischer Geisteshaltungen unwiderlegt reproduziert werden.⁶

Als Harich merkte, dass er in der DDR überhaupt nicht mehr gehört wurde, stellte er einen Antrag auf Ausreise in die BRD, der von den Behörden abgelehnt wurde. Statt dessen erhielt er 1978 die Möglichkeit, mit Hilfe der eigentümlichen Konstruktion eines Dauervisums die DDR zu verlassen und sich im Ausland aufzuhalten, ohne seinen Status als Bürger der DDR zu verlieren – eine Regelung, von der eine Reihe von Geistesarbeitern und Künstlern in den 1980er Jahren Gebrauch machte. Nach Aufenthalten in der BRD, Österreich, Spanien und der Schweiz kehrte er 1981 in die DDR zurück. Und nun begann das Nietzsche-Drama.


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NEUER BEITRAG16.03.2020, 14:25 Uhr
EDIT: FPeregrin
16.03.2020, 14:26 Uhr
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»Mehr Respekt vor Lukács!«

Bereits im Sommer 1982 legte Harich in einer internen Nietzsche-Denkschrift für den Akademie-Verlag seine Bedenken bezüglich einer intensiveren, vor allem auch öffentlichen Beschäftigung mit Friedrich Nietzsche in der DDR vor. Er hielt es nicht für ratsam, aus sozialistischer Sicht auf einen Zug aufzuspringen, der unweigerlich in Richtung Aushöhlung antifaschistischer und sozialistischer Positionen fahren würde, sofern man die Grundannahmen und Erkenntnisse der marxistischen Nietzsche-Rezeption preisgäbe und auf »Differenzierungen« hinarbeite, die bei aller Eindeutigkeit der Quellenlage keinerlei produktive Leistungen hervorbringen könnten – es sei denn auf Kosten sozialistischer Erkenntniswerte. Misstrauisch musste Harich zudem machen, dass mit dem ungarischen Philosophen Georg Lukács, der seit dem Revisionismusvorwurf von 1957 in der DDR nie wirklich inhaltlich rehabilitiert worden war, eine wesentliche Stütze der Nietzsche-Kritik erneut angegriffen zu werden drohte.

Im weiteren Verlauf der 1980er Jahre wurden in Einzelstudien immer mal wieder Nadelstiche zur »Öffnung« des Nietzsche-Bildes vorgenommen. An vorderster Front dabei, neben Philosophiehistorikern und Literaturwissenschaftlern, auch die besagte Renate Reschke, die zwischenzeitlich sogar international auftrat und für eine positive Neubewertung Nietzsches warb. Als in Heft 5/1986 von Sinn und Form, also an prominenter Stelle, eine Nietzsche-Apologie des Philosophiehistorikers Heinz Pepperle erschien, war für Harich das Maß voll. Es gelang ihm, nach mehrfacher Intervention bei maßgeblichen Größen der SED (Hermlin, Kurt Hager), seinen Text »Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?« ebenfalls in Sinn und Form unterzubringen – neben einem Aufsatz mit dem Titel »Mehr Respekt vor Lukács!«, der in Österreich veröffentlicht wurde, die einzige Publikation Harichs in der DDR zwischen 1974 und 1990.⁷ Das war allerdings in mehrfacher Hinsicht ein vergiftetes Geschenk. Obwohl Harich die wesentlichen Aspekte einer Wegbereitung Nietzsches für den deutschen und italienischen Faschismus prägnant benannte und dafür plädierte, die marxistischen Erkenntnisse über Nietzsche nicht zu verwerfen, sondern zu vertiefen, sorgten sein Hang zur polemischen Zuspitzung und eine entscheidende redaktionelle Kürzung dafür, dass Harich unversehens am Pranger der Dogmatik landete.

»Prophet des Hitlerismus«

Für Harich waren die entscheidenden Momente der historischen und philosophischen Einschätzung Nietzsches seit langem geklärt. Nietzsche war der geistige Wegbereiter des Faschismus, weil er am Beginn der imperialistischen Periode alle reaktionären Elemente der Geistesproduktion in seinem Denken bündelte: unversöhnlicher Kampf gegen den Sozialismus und die Demokratie, Militarismus und Kriegstheologie, als Europäertum verkleideter Chauvinismus, Ausbeutungsbefürwortung, Herrenmoral, Frauenfeindlichkeit, Irrationalismus, Mythenproduktion und ein standpunktloses Schwanken zwischen Anti- und Philosemitismus. Die »Kunst« in Nietzsches Denken bestand darin, dass er in aphoristischer Manier von allen eben aufgezählten Kriterien auch immer das Gegenteil behaupten konnte, ohne am Ziel seiner Denkausrichtung Abstriche machen zu müssen. Zumal die vorgetäuschten Relativierungen, als Kulturkritik verpackt, ja keinesfalls das einstmals menschenfeindlich Gedachte ungeschehen machen konnten, da die als »Umwertung der Werte« formulierten Auffassungen niemals den Rahmen der aristokratischen Überhebung Nietzsches verließen. Die Analogien zur faschistischen Ideologie bestehen nicht nur in den inhaltlichen Kernaussagen, sondern auch im methodischen Zugriff. Nietzsche und die Faschisten klaubten alles zusammen, was sie an reaktionärem Gedankengut in Kapitalismus und Imperialismus fanden, und setzten es so zusammen, dass für alle, außer für Kommunisten/Sozialisten, Minderheiten und Frauen, etwas vermeintlich Anschlussfähiges dabei war, auch oder gerade, wenn es sich formallogisch oder inhaltlich-rational widersprach. Allerdings hätte man diese Konstellation auch durchschauen und aktiv gegen seine Weiterwirkung argumentieren können.

Die Voraussetzungen dafür waren, wie Harich ganz deutlich machte, durch die Studien von Franz Mehring (1891, 1897, 1899), Hans Günther (1935) und Georg Lukács (1934, 1943, 1954) mehr als gegeben. Während Mehring schon sehr früh erkannte, dass Nietzsche als »Sozialphilosoph des Kapitalismus« den Sozialismus als Hauptfeind auserkoren hatte, zeigten Günther und Lukács auf unterschiedlichen Wegen auf, warum und wie Nietzsche zum geistigen Wegbereiter des Faschismus werden konnte.⁸ Für Günther lief die Essenz von Nietzsches Weltanschauung auf die Komplementarität von Kriegsverherrlichung, den sogenannten »Tugenden der Herrenmenschen« sowie einer grundsätzlichen Bestialisierung von Denken und Handeln hinaus.⁹ Für Lukács bedeuteten Nietzsches Beschwörungen von Ausbeutung und Sklaventum, die geistige Erzeugung eines pseudohistorischen Mythos und ebenfalls die Befürwortung einer »Herrenrasse« als Kulturträgerin des »Abendlandes« aus den Vorstellungen des Barbarentums unleugbare Kriterien für seine Funktion als »Prophet des Hitlerismus«.¹⁰ Das gesamte dritte Kapitel von »Die Zerstörung der Vernunft« war darüber hinaus Nietzsche als umfassendem »Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode« gewidmet und brachte auch ein entscheidendes Kernargument für die Wirkung Nietzsches zur Sprache. Nach Lukács war es nämlich weniger der Stil Nietzsches an sich, der zu dessen angeblicher Attraktivität beitrug (und der im übrigen im Vergleich zu den großen Stilisten seiner Zeit wie Theodor Fontane, Julius Rodenberg oder dem jungen Karl Kraus eher hausbacken und geschwätzig ist), sondern dessen Suggestion eines »Rebellentums«, das vielen Intellektuellen das Gefühl gab, auch im Festhalten an reaktionären Grundüberzeugungen viel revolutionärer zu erscheinen als alle anderen, sogar als die Revolutionäre selber.¹¹ Hieraus speiste sich der eigentliche Furor, dem viele Nietzsche-Freunde und Verteidiger bis heute aufsitzen: die Ãœberheblichkeit eigener »Geistigkeit« im Angesicht der unverstandenen objektiven Wirklichkeit und ihrer problematischen soziologischen Bedingungen für die darin agierenden Individuen und Subjekte.

Harichs Plädoyer, statt Nietzsche unkritisch zu konsolidieren, doch besser die Erkenntnisse der marxistischen Nietzsche-Forschung aufzubereiten und zu verbessern, hatte also sehr gute Gründe. Und er fasste zusammen: »Eine Gesellschaft kann kulturell kaum tiefer sinken, als wenn sie die Kenntnis seiner (Nietzsches – D. K.) Elaborate zu den Kriterien ihrer Allgemeinbildung rechnet.«¹² Durch eine redaktionelle Kürzung am Schluss seines Aufsatzes geriet Harich noch mehr in den Verdacht, zu Zensur und Vernichtung aufzurufen. Seine satirischen Anspielungen auf große Gedenkzeremonien für Nietzsche in der DDR mit Westtouristen und Brimborium fielen weg, so dass der Schlusssatz »Ins Nichts mit ihm!« nur noch als Anweisung zu administrativem Handeln gedeutet werden konnte.¹³


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»Anachronistischer Müll«

Was er natürlich sollte: Ende November 1987, kurz nach der Veröffentlichung des Textes von Harich, tagte in Berlin der X. Schriftstellerkongress der DDR. Auf diesem wurde Harichs Nietzsche-Artikel von Stephan Hermlin als »anachronistischer Müll« und von Hermann Kant, dem Vorsitzenden des Verbandes, als »Polpotterie«, also als Suada im Sinne des kambodschanischen Terrorregimes der »Roten Khmer«, bezeichnet. Sinn und Form veröffentlichte in Heft 1/1988 Hermlins Kongressrede als Eröffnung von insgesamt neun Beiträgen unter einer Rubrik namens »Meinungen zu einem Streit«, wobei sämtliche Autoren von Hermlin bis Manfred Buhr weder »Meinungen« artikulierten, noch einen Streit austrugen, sondern Verdikte aussprachen. Alle neun Wortmeldungen waren, bis auf eine vorsichtige Ausnahme, auf der Gegenseite von Harich.¹⁴ Er bekam keine Gelegenheit zur Replik, nicht innerhalb der Rubrik und nicht danach. Die mit Abstand hämischste Bemerkung gegen Harich und die DDR steuerte Gerd Irrlitz bei, als er schrieb: »Nun sind wir, gottlob, so weit schon genesen vom Kindbettfieber jener schwächenden Sektiererei, die man gern als bei den Unseren erblich attestiert hätte, und die Wohltat lasse ich mir gefallen, dass wir auf Bismarck, Friedrich den Einzigen, Luther und Nietzsche nun doch, wie längst herbeigesprochen, mit den Augen der geistigen Großmacht sehen und nicht mit denen einer Gouvernante, die nur sorgt, dass das Kindchen Marxismus sich kein Schleifchen schmutzig macht.«¹⁵ Der Autor dieses Satzes war offensichtlich schon lange aus der DDR »ausgetreten« und verklausulierte seine Verachtung gegenüber Marx, die Emanzipation und den Sozialismus nur noch in Nietzscheanischer Drechselei. Harich bemerkte diese Ideologie natürlich sofort und befand in einem Brief Ende April 1988 an den Direktor des Akademie-Verlages, Lothar Berthold, dass die Auslassung von Irrlitz (»gottlob«, »Wohltat«, »geistige Großmacht«) schon an »Neofaschismus« grenze.¹⁶
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Nach diesen desaströsen Erfahrungen setzte sich Harich nochmals hin und verfasste eine ausführliche Abrechnung mit den Nietzsche-Freunden aus Ost und West, die noch zu DDR-Zeiten fertiggestellt wurde. Allerdings konnte das Buch »Nietzsche und seine Brüder« erst 1994 in einem Kleinstverlag erscheinen und erfuhr so gut wie keine Resonanz. Darin findet sich aber die Begründung dafür, warum die Nietzsche-Renaissance für Teile der DDR-Intelligenz so anziehend war. Sie lautete wie folgt: »Was war der Sinn des vielfach missverstandenen großzügigeren Umgangs der spätstalinistischen Nomenklatura mit problematischem Kulturerbe? Je mehr die revolutionären Ursprünge des Realsozialismus in ferne Vergangenheit rückten, je weniger glaubhaft seine Zukunftsverheißungen sich ausnahmen, desto reaktionärer wurden die anderweitigen Ãœberlieferungen, auf die der Machtapparat, zwecks Verbreiterung seiner ideologischen Basis, zurückgriff. Und da es echte Meinungspluralität gleichwohl nicht geben durfte, genossen nun diese ›Renaissancen‹ monolithischen Schutz, im Zeichen eines auf die verlogene Phrase ›große Weite und Vielfalt‹ einexerzierten Scheinliberalismus, der gegenüber reellem Querdenken die tolerante Maske jedes Mal prompt fallen ließ. Typisch hierfür war in der DDR, dass Historikern, die das Luther-Gedenken von 1983 störten, indem sie die Einschätzung der Reformation durch Marx, Engels und Mehring zu zitieren wagten, Maßregelung widerfuhr. Nach Erfahrungen solcher Art gab die modebewusste Absicht der SED-Diktatur, sich wohlwollend dem Vermächtnis Nietzsches zu öffnen, zu den schlimmsten Befürchtungen Anlass.«¹⁷ Die sich dann auch bewahrheiteten und zur Restitution des gesamten bürgerlichen Wertekanons bei weitgehender Beseitigung sozialistischer Denktraditionen führten.

»Schlimmste Verirrungen«

Ein versteckter Hinweis von Harich auf den empirischen Schulphilosophen Friedrich Jodl (1849–1914) hätte übrigens auch aus bürgerlicher Perspektive die Negation Nietzsches aufzeigen müssen. In Jodls Aufsatz »Das Nietzsche-Problem« von 1905 heißt es nämlich: »In unserer Zeit, mit ihrem fast schrankenlosen Individualismus, mit ihren weiten Klassenabständen, mit ihrem noch so gewaltigen Herrenrecht des Besitzes, ihren erst schüchternen Anfängen zu einer intensiveren Wohlfahrts- und Bildungspflege weiterer Volkskreise, ihrer beständigen, unerbittlichen Aufopferung der Kulturpolitik zugunsten der Kriegspolitik – in solcher Zeit erscheint diese Nietzsche-Begeisterung fast unbegreiflich, ja beinahe beängstigend: ein Verfallssymptom. Wenn diese Lehre Boden gewänne, wenn die führenden Klassen immer noch sich und ihre Macht und ihr Behagen als den Sinn der Geschichte ansehen würden, dann wäre nicht, wie Nietzsche meint, der Anfang zu einer höheren Kultur gemacht, sondern der Schritt zu den schlimmsten Verirrungen der alten Menschheit zurück getan.«¹⁸ Und in diesem »Zurück« befinden wir uns heute.

Es ist definitiv unwahr, dass Nietzsche in der DDR nicht existierte, wie Hermlin behauptete.¹⁹ Es ist ebensowenig zutreffend, dass Harich die Veröffentlichung von Reschkes Habilitationsschrift verhinderte. Selbst wenn er es gewollt hätte – er war in der Schlussphase der DDR ausgebootet. Und man hatte ihn auch nicht »vorgeschickt«, um gegen Nietzsche zu wettern, wie es Gerd Dietrichs »Kulturgeschichte der DDR« kolportiert.²⁰ Wolfgang Harich hatte in seiner Nietzsche-Polemik nur das eingeklagt, was jeder Geistesarbeiter der DDR hätte tun müssen: eine kompromisslose Verteidigung der ideellen Grundlagen des antifaschistischen und sozialistischen Staates DDR. Für seinen Einsatz muss Harich endlich mehr Respekt gezollt werden.

Anmerkungen

1 Vgl. Peter Hacks: Zur Romantik (2000), in: Hacks: Werke Band 15, Berlin 2003, S. 84–87

2 Vgl. Wolfgang Harich: »Die reaktionärste, menschenfeindlichste Erscheinung der Weltkultur«. Vier Briefe über Nietzsche an Stephan Hermlin, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 1/2020, S. 103–120

3 Vgl. Arno Widmann: Rezeption des Philosophen. Nietzsche in der DDR: Die Mär von der »Kultur des Streits«. Der Philosoph Wolfgang Harich wollte Nietzsche in der DDR verbieten lassen. Die Zeitschrift Sinn und Form druckt seine Rufe nach Zensur ohne Einspruch nach, in: Berliner Zeitung vom 12. Februar 2020

4 Vgl. Renate Reschke im Gespräch mit Christian Möller: Philosophie in der DDR. Wenig Raum für Freigeister, Deutschlandfunk Kultur, Sein und Streit vom 3. November 2019

5 Vgl. Wolfgang Harich: Friedrich Nietzsche. Der Wegbereiter des Faschismus. Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs – Band 12. Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer, Baden-Baden 2019, S. 17–55 und S. 265–441

6 Vgl. Wolfgang Harich: Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß. Aus Anlass der »Macbeth«-Bearbeitung von Heiner Müller, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 1/1973, S. 189–213

7 Vgl. Wolfgang Harich: Revision des marxistischen Nietzschebildes?, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 5/1987, S. 1.018–1.053. Wieder abgedruckt in: Harich: Friedrich Nietzsche …, a. a. O., S. 542–581. Vgl. auch Wolfgang Harich: Mehr Respekt vor Lukács!, in: Aufrisse 2/1987, S. 31–37

8 Vgl. Franz Mehring: Gesammelte Schriften Band 13: Philosophische Aufsätze, Berlin 1961, S.156-180

9 Vgl. Hans Günther: Der Fall Nietzsche (1935), in: Der Herren eigner Geist. Ausgewählte Schriften, Berlin und Weimar 1981, S. 280, S. 297 und S. 300

10 Vgl. Georg Lukács: Der deutsche Faschismus und Nietzsche (1943), in: Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie, Berlin 1955, S. 7–28

11 Vgl. Georg Lukács: Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954, S. 285

12 Vgl. Harich: Friedrich Nietzsche …, a. a. O., S. 562

13 Vgl. ebenda, S. 580/581

14 Vgl. Meinungen zu einem Streit, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 1/1988, S. 179–220. Beiträge von Stephan Hermlin, Rudolf Schottlaender, Thomas Böhme, Klaus Kändler, Gerd Irrlitz, Hans-Georg Eckardt, Stefan Richter, Manfred Buhr und Heinz Pepperle. Die Ausnahme war Schottlaender

15 Vgl. Gerd Irrlitz: »Ich brauche nicht viel Phantasie«, in: Sinn und Form 1/1988 …, a. a. O., S. 193

16 Vgl. Wolfgang Harich: Brief an Lothar Berthold vom 26. April 1988, in: Harich: Friedrich Nietzsche …, a. a. O., S. 609

17 Vgl. Wolfgang Harich: Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift in sieben Dialogen mit Paul Falck (1989), Anhang I: Zu Nietzsches spätstalinistischer Aufwertung (1992), in: Harich: Friedrich Nietzsche …, a. a. O., S. 255

18 Vgl. Friedrich Jodl: Das Nietzsche-Problem (1905). Österreichische Rundschau. Band III, Heft 28. Zusammenstellung: Helmut Walther (Nürnberg), Link ...jetzt anmelden! (letzter Zugriff: 6. März 2020)

19 Vgl. Stephan Hermlin: Von älteren Tönen, in: Sinn und Form 1/1988 …, a. a. O., S. 180

20 Vgl. Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR. Band III: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977–1990, Göttingen 2018, S. 2.123


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... und natürlich gibt es einen Nachschlag - jW heute:

»Auf einem freundschaftlichen Fuß«

Welch Heuchelei! In der Zeitschrift Sinn und Form trampelt Friedrich Dieckmann auf dem toten Philosophen Wolfgang Harich herum

Von Detlef Kannapin

Sinn und Form 2/2020, März/April, 282 Seiten, elf Euro, Leseprobe unter kurzlink.de/Harich

Als die Zeitschrift der Akademie der Künste, Sinn und Form, im ersten Heft des Jahres 2020 vier Briefe des Philosophen Wolfgang Harich an den Schriftsteller Stephan Hermlin abdruckte, die aus den Jahren 1986 bis 1988 stammen und sich mit Friedrich Nietzsche beschäftigen, war klar: Das konnte es nicht gewesen sein. Nachgelegt wurde in Heft 2/2020 (März/April) vom Publizisten Friedrich Dieckmann, der unter dem Titel »Probleme der Kairosverkennung« sowohl Harich als auch den Herausgeber von dessen umfangreichen Nachlassschriften, Andreas Heyer, der historischen Verfehlung zeiht. Dies geschieht selbstverständlich nicht ohne Immunitätsklausel, die lautet, dass Dieckmann mit Harich einst »auf einem freundschaftlichen Fuß stand«. Dafür allerdings sind Dieckmanns Äußerungen viel zu verächtlich, Harich hätte sich für diese Freundschaft bedankt.

Vier Dinge sind es, die Dieckmanns Text so unangenehm und unangemessen machen: erstens die Behauptung, Harich habe Nietzsche in der DDR verbieten wollen. Die Aussage bleibt falsch, auch wenn sie in drei Varianten (Index, Zensur, Verbot) wiederholt wird. Es ging Harich um die antifaschistische und sozialistische Grundierung der DDR, in die ein Nietzsche und seine vielen Parteigänger nicht hineingehörten.

Zweitens die Unterstellung Dieckmanns, Harichs Vehemenz in der Auseinandersetzung sei nicht dem Gegenstand geschuldet, sondern einer Art »Verfallenheit dieses Autors an seinen Feind«, den man daher als sein »Alter ego« betrachten müsse, wobei Nietzsche Harich »sprachlich allerdings weit überlegen« gewesen sei. Woher Dieckmann das wissen will, ist reichlich unklar, denn einen sprachkritischen Vergleich stellt er nicht an, vermutlich weil er eingestehen müsste, dass er selbst dem Schwulst Nietzsches nähersteht als der rationalen Klarheit Harichs. Hinzu kommt die typisch bürgerliche Haltung des Unbegriffenen, dass sich die meisten Dinge zwischen Himmel und Erde aus sachlichen und nicht aus psychologischen Gründen herleiten lassen und gerade das Verhältnis Harich – Nietzsche sich wie das zwischen Rationalismus und Irrationalismus gestaltet.
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Drittens mahnt Dieckmann an, über Harich zu schreiben, setze »die genaue Kenntnis des politischen Umfelds« voraus, »in dem er sich zu DDR-Zeiten mit immer neuer Kairosverkennung bewegte«. Na schön. Aber was soll das bedeuten? Eine »Kairosverkennung« ist die Missachtung eines Entscheidungszeitpunktes. Das soll durchweg auf Harich zutreffen? Dieckmann müsste es besser wissen. Er war über die publizistischen Vorgänge zu und vor allem gegen Harich unterrichtet, teilweise daran beteiligt. Das wirft er auch ein, jedoch so, also sei eben nur er zu Harich auskunftsfähig (wie einzig Albert Speer zur deutschen Architektur oder nur Hans Magnus Enzensberger zur deutschen Essayistik?).

Dieckmann wirft dem Herausgeber Heyer vor, die deutsche Geschichte nach 1945 nur aus westdeutschen Büchern zu kennen und wandelt dabei wie weiland der romantische Geschichtsschreiber Friedrich von Raumer mit einerseits und andererseits indifferent durch die historischen Konstellationen, die ihm undurchschaubar bleiben. Dabei ist Dieckmann restlos überzeugt, als originärer Ostler mit dem staunenden Blick nach Westen schon immer die richtige Einstellung zu haben, während andere in der »Kairosverkennung« verharrten.

Viertens verwechselt Dieckmann nochmals Sachlage und Motivation. Unter dem phraseologisch interessanten Begriff des »kuriosen Superlativismus« wird Herausgeber Heyer der Distanz zu einer von Harich in der späten DDR verlangten Debatte über Nietzsche bezichtigt, die nicht im Sinne Harichs verlaufen sei. Welch Heuchelei! Harich wollte doch überhaupt nicht debattieren, und seine Gegner erst recht nicht.

Alles in allem zeigt sich, dass Sinn und Form, wie schon Peter Hacks spottete, eine proimperialistische Zeitschrift geblieben ist. Dieckmann passt da gut rein. Seine Anmerkungen zu Harich wimmeln von Selbstzitaten und atmen den Gestus der Selbstüberhebung, des Stolzes auf die eigene Anpassungsleistung, der am Objekt des 1995 verstorbenen Wolfgang Harich erneut ein schönes Betätigungsfeld gefunden hat. Der Weg Dieckmanns von klügeren Essays in der DDR der 60er Jahre bis zu martialischen Beiträgen im neurechten Magazin Cato, ohne Berührungsängste zu den offenen intellektuellen Faschisten unserer Zeit, ist durchaus konsequent. Er beweist, und das wird Dieckmann als Lob auffassen, dass er niemals ein wirklicher Sozialist gewesen ist. Im Gegensatz zu Harich.


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