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•NEUES THEMA15.11.2019, 23:26 Uhr
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• SPD: 60 Jahre Godesberger Programm
Zum 60. Jubeljahr des Godesberger Programms der #SPD stehen in der jW von gestern zwei Artikel von Daniel Bratanovic:
Mitmachtauglich getrimmt
Vor 60 Jahren beschloss die SPD ihr »Godesberger Programm«
Von Daniel Bratanovic
Die Patientin leidet unter Schwindsucht. Schon seit langem. Binnen zwanzig Jahren hat die SPD die Hälfte ihrer Wählerschaft eingebüßt und mehr als 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Stimmten noch im September 1998 bei der Bundestagswahl rund 20 Millionen Menschen für die Partei, so viele wie nie zuvor, waren es 19 Jahre später, im September 2017, nurmehr neuneinhalb Millionen. Im etwa gleichen Zeitraum schrumpfte die Zahl eingetragener Sozialdemokraten von etwa 775.000 auf heute rund 443.000. Es steht nicht gut um die SPD.
Für Verlust und Verfall gibt es Gründe. Wer in einer wegen unversöhnlicher Interessen gespaltenen Gesellschaft unter dem Namen Sozialdemokratie sein Geschäft so unverhohlen für die Gegenseite betreibt, wer mithin neoliberale, also unternehmerfreundliche »Angebotspolitik« macht, die Reservearmee der Erwerbslosen von Amts wegen gängelt und sanktioniert und per uneingeschränkter Ausdehnung der Leiharbeit den Preis der Ware Arbeitskraft gewissermaßen gesetzlich senkt, der sollte damit rechnen, dass ehemalige Anhänger und Sympathisanten in Heerscharen davonlaufen.
Wer nicht rechnen kann oder will, reagiert auf die existentielle Krise mit Trotz und pfeift im Walde. Statt selbstkritischer Reflexion erfolgt die Beschwörung besserer Tage. Gelegentlich fällt bei diesem Ritual der Name Godesberg. Der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin, der zeitweilig schon mal Leiter der SPD-Grundwertekommission und auch Kulturstaatsminister im Kabinett von Gerhard Schröder war, warnte im Juni im Parteiblatt Vorwärts vor einem »Rückfall in die Klassen-Partei« und empfahl »ein neues Grundsatzprogramm« nach Art des Godesberger Programms von 1959. Mit diesem Dokument habe die Sozialdemokratie ihr »Spannungsverhältnis zwischen programmatischer Radikalität und sozialer, auch republikanischer, Praxis« aufgehoben und sei zu einem »Selbstverständnis als linker Volkspartei« gelangt, die eben nicht »Klassen-Interessen« vertrete, sondern »sich für eine humanere, gerechtere politisch-soziale Ordnung« einsetze. Thomas Meyer, Chefredakteur der SPD-Theoriezeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, befand im Novemberheft: »Der Ortsname Bad Godesberg ist nicht nur für die deutsche Sozialdemokratie, sondern nahezu überall auf der Welt, wo Menschen sich für soziale Demokratie engagieren, zu einem herausragenden Symbol geworden«, das »Godesberger Paradigma« habe »seine Kraft behalten«.
Der bürgerliche Kurort nahe Bonn, an dem die Sozialdemokraten vor 60 Jahren, zwischen dem 13. und 15. November 1959 ihren außerordentlichen Parteitag abhielten, das neue Programm beschlossen und sich damit ihrer letzten Traditionen entledigten, musste vielen damaligen altgedienten Parteisoldaten wie eine verkehrte Welt erscheinen. Danach war ihre SPD eine andere. Etlichen jüngeren Funktionären, die nach 1945 Schritt für Schritt Machtpositionen innerhalb der Partei erobert hatten, war dies gerade recht. Godesberg war ihr Erfolg. Von diesen maßgeblichen Leuten fällt auf, dass sie ihre frühe politische Sozialisation häufig außerhalb der SPD erfahren hatten, oft aus bürgerlichem Hause kamen und akademisch gebildet waren. Die Kultur der Arbeiterbewegung, die Kampfgesänge und roten Fahnen sowie die Anrede »Genosse« erschien ihnen als fremde Folklore, als lästige Sentimentalitäten.
Lästige Sentimentalitäten
Spätestens nach den Bundestagswahlen von 1957, die in einer erneuten und sehr deutlichen Niederlage gegen die Unionsparteien geendet waren, schlug ihre Stunde. Die alte Arbeiterpartei sollte sich endlich reformieren, neuen Bevölkerungsschichten öffnen, sollte »Volkspartei« werden. Schon im Herbst desselben Jahres wurden dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer, ein biederer Funktionär ohne Sendungsbewusstsein, drei stellvertretende Fraktionsvorsitzende zur Seite gestellt, die alle auf dieses Ziel hinarbeiteten: Der Lehrersohn Carlo Schmid, der sich während der Nazizeit dem esoterischen konservativ-romantischen George-Kreis zurechnete, Fritz Erler, der von 1933 bis zu seiner Verhaftung 1938 Mitglied der kleinen marxistischen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« war und in den fünfziger Jahren zu einer liberalen Form protestantischen Glaubens fand, sowie der frühere KPD-Funktionär Herbert Wehner, der in seiner neuen Position rasch zum eigentlichen Lenker und Leiter der Partei aufstieg.
Den entscheidenden Durchbruch brachte die Organisationsreform auf dem Stuttgarter Parteitag 1958. Bis dahin hatte der geschäftsführende Vorstand, das »Büro«, das Primat der Partei für sich beansprucht, die Bundestagsfraktion hatte sich seinen Anordnungen zu fügen. Jetzt wurde das »Büro« per Beschluss kurzerhand abgeschafft. An seine Stelle trat ein neues Präsidium, das sich überwiegend aus Bundestagsabgeordneten zusammensetzte. Der Einfluss verschob sich von der Parteizentrale zur Fraktion.
Was noch fehlte, war die bisher erfolgte sukzessive Anpassungsleistung und erstrebte vollständige Integration in das Koordinatensystem einer noch uneingeschränkt von der CDU beherrschten Bundesrepublik auch programmatisch zu dokumentieren. Bereits 1954 hatte die SPD auf ihrem Berliner Parteitag die Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung eines Grundsatzprogramms beschlossen. Die entscheidenden, den Inhalt prägenden Figuren der Kommission hießen Willi Eichler, Karl Schiller und Heinrich Deist.
Volk statt Klasse
Von Eichler, der vor 1945 dem sektenmäßig organisierten, ebenso antiklerikalen wie antimarxistischen Internationalen Sozialistischen Kampfbund vorgestanden hatte, stammte die Neubestimmung des Sozialismus als »angewandte Ethik« und »dauernde Aufgabe« und eben nicht mehr als zu erreichendes gesellschaftliches Ziel einer bestimmten Eigentumsordnung und Produktionsweise. Karl Schiller, Volkswirt und späterer Superminister für Wirtschaft und Finanzen im Kabinett Willy Brandts, von 1933 bis 1938 Mitglied der SA, seit 1938 mit Parteibuch der NSDAP, schrieb das Bekenntnis zum »freien Markt« ins Programm: »Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig«. Deist wiederum, aus sozialdemokratischer Familie, in den zwanziger Jahren dem nationalsozialdemokratischen »Hofgeismarer Kreis« zugehörig und 1938 in die NSDAP eingetreten, sorgte dafür, dass im Programm an die Stelle des in der SPD noch weithin verbreiteten Grundsatzes einer Sozialisierung der Produktionsmittel eine unbestimmte »öffentliche Kontrolle« zur Verhinderung von »Machtmissbrauch der Wirtschaft« trat.
Gegen vernehmliches Murren vor allem wegen der Sozialisierungsfrage nahmen die Delegierten des Godesberger Parteitags das Programm mit 324 zu 16 Stimmen an. Die Reformer konnten zufrieden sein. Der damalige Chefredakteur der Neuen Gesellschaft, Ulrich Lohmar, meldete Vollzug: »Der Marxismus als ein philosophisches, ökonomisches und soziologisches Lehrgebäude ist von der Sozialdemokratie zu den Akten der Geschichte gelegt worden.« Und Carlo Schmid erfreute die Leser der Zeit am 27. November mit der Feststellung, für die SPD stehe nicht mehr die Klasse im Zentrum ihrer Betrachtung, »sondern stehen der Mensch und das Volk: die Nation als gewollte und täglich sich neu bestätigende Gemeinschaft derer, die sich durch das Streben nach der Verwirklichung gemeinsam geglaubter und gewollter Werte verbunden fühlen«.
Die SPD wollte sich endlich zur Staatspartei mausern und sollte damit auch Erfolg haben. Inwieweit das neue Programm dafür verantwortlich war, sei dahingestellt. Zur Disziplinierung immer noch kritischer Mitglieder dürfte es allemal getaugt haben. Wer sich heute ernsthaft auf das »Godesberger Paradigma« beruft, könnte wenigstens berücksichtigen, dass die sozialdemokratische Regierungspraxis der vergangenen beiden Jahrzehnte selbst noch gegen die vagen Maßgaben dieses Programms verstoßen hat.
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Mitmachtauglich getrimmt
Vor 60 Jahren beschloss die SPD ihr »Godesberger Programm«
Von Daniel Bratanovic
Die Patientin leidet unter Schwindsucht. Schon seit langem. Binnen zwanzig Jahren hat die SPD die Hälfte ihrer Wählerschaft eingebüßt und mehr als 40 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Stimmten noch im September 1998 bei der Bundestagswahl rund 20 Millionen Menschen für die Partei, so viele wie nie zuvor, waren es 19 Jahre später, im September 2017, nurmehr neuneinhalb Millionen. Im etwa gleichen Zeitraum schrumpfte die Zahl eingetragener Sozialdemokraten von etwa 775.000 auf heute rund 443.000. Es steht nicht gut um die SPD.
Für Verlust und Verfall gibt es Gründe. Wer in einer wegen unversöhnlicher Interessen gespaltenen Gesellschaft unter dem Namen Sozialdemokratie sein Geschäft so unverhohlen für die Gegenseite betreibt, wer mithin neoliberale, also unternehmerfreundliche »Angebotspolitik« macht, die Reservearmee der Erwerbslosen von Amts wegen gängelt und sanktioniert und per uneingeschränkter Ausdehnung der Leiharbeit den Preis der Ware Arbeitskraft gewissermaßen gesetzlich senkt, der sollte damit rechnen, dass ehemalige Anhänger und Sympathisanten in Heerscharen davonlaufen.
Wer nicht rechnen kann oder will, reagiert auf die existentielle Krise mit Trotz und pfeift im Walde. Statt selbstkritischer Reflexion erfolgt die Beschwörung besserer Tage. Gelegentlich fällt bei diesem Ritual der Name Godesberg. Der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin, der zeitweilig schon mal Leiter der SPD-Grundwertekommission und auch Kulturstaatsminister im Kabinett von Gerhard Schröder war, warnte im Juni im Parteiblatt Vorwärts vor einem »Rückfall in die Klassen-Partei« und empfahl »ein neues Grundsatzprogramm« nach Art des Godesberger Programms von 1959. Mit diesem Dokument habe die Sozialdemokratie ihr »Spannungsverhältnis zwischen programmatischer Radikalität und sozialer, auch republikanischer, Praxis« aufgehoben und sei zu einem »Selbstverständnis als linker Volkspartei« gelangt, die eben nicht »Klassen-Interessen« vertrete, sondern »sich für eine humanere, gerechtere politisch-soziale Ordnung« einsetze. Thomas Meyer, Chefredakteur der SPD-Theoriezeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, befand im Novemberheft: »Der Ortsname Bad Godesberg ist nicht nur für die deutsche Sozialdemokratie, sondern nahezu überall auf der Welt, wo Menschen sich für soziale Demokratie engagieren, zu einem herausragenden Symbol geworden«, das »Godesberger Paradigma« habe »seine Kraft behalten«.
Der bürgerliche Kurort nahe Bonn, an dem die Sozialdemokraten vor 60 Jahren, zwischen dem 13. und 15. November 1959 ihren außerordentlichen Parteitag abhielten, das neue Programm beschlossen und sich damit ihrer letzten Traditionen entledigten, musste vielen damaligen altgedienten Parteisoldaten wie eine verkehrte Welt erscheinen. Danach war ihre SPD eine andere. Etlichen jüngeren Funktionären, die nach 1945 Schritt für Schritt Machtpositionen innerhalb der Partei erobert hatten, war dies gerade recht. Godesberg war ihr Erfolg. Von diesen maßgeblichen Leuten fällt auf, dass sie ihre frühe politische Sozialisation häufig außerhalb der SPD erfahren hatten, oft aus bürgerlichem Hause kamen und akademisch gebildet waren. Die Kultur der Arbeiterbewegung, die Kampfgesänge und roten Fahnen sowie die Anrede »Genosse« erschien ihnen als fremde Folklore, als lästige Sentimentalitäten.
Lästige Sentimentalitäten
Spätestens nach den Bundestagswahlen von 1957, die in einer erneuten und sehr deutlichen Niederlage gegen die Unionsparteien geendet waren, schlug ihre Stunde. Die alte Arbeiterpartei sollte sich endlich reformieren, neuen Bevölkerungsschichten öffnen, sollte »Volkspartei« werden. Schon im Herbst desselben Jahres wurden dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Erich Ollenhauer, ein biederer Funktionär ohne Sendungsbewusstsein, drei stellvertretende Fraktionsvorsitzende zur Seite gestellt, die alle auf dieses Ziel hinarbeiteten: Der Lehrersohn Carlo Schmid, der sich während der Nazizeit dem esoterischen konservativ-romantischen George-Kreis zurechnete, Fritz Erler, der von 1933 bis zu seiner Verhaftung 1938 Mitglied der kleinen marxistischen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« war und in den fünfziger Jahren zu einer liberalen Form protestantischen Glaubens fand, sowie der frühere KPD-Funktionär Herbert Wehner, der in seiner neuen Position rasch zum eigentlichen Lenker und Leiter der Partei aufstieg.
Den entscheidenden Durchbruch brachte die Organisationsreform auf dem Stuttgarter Parteitag 1958. Bis dahin hatte der geschäftsführende Vorstand, das »Büro«, das Primat der Partei für sich beansprucht, die Bundestagsfraktion hatte sich seinen Anordnungen zu fügen. Jetzt wurde das »Büro« per Beschluss kurzerhand abgeschafft. An seine Stelle trat ein neues Präsidium, das sich überwiegend aus Bundestagsabgeordneten zusammensetzte. Der Einfluss verschob sich von der Parteizentrale zur Fraktion.
Was noch fehlte, war die bisher erfolgte sukzessive Anpassungsleistung und erstrebte vollständige Integration in das Koordinatensystem einer noch uneingeschränkt von der CDU beherrschten Bundesrepublik auch programmatisch zu dokumentieren. Bereits 1954 hatte die SPD auf ihrem Berliner Parteitag die Einsetzung einer Kommission zur Erarbeitung eines Grundsatzprogramms beschlossen. Die entscheidenden, den Inhalt prägenden Figuren der Kommission hießen Willi Eichler, Karl Schiller und Heinrich Deist.
Volk statt Klasse
Von Eichler, der vor 1945 dem sektenmäßig organisierten, ebenso antiklerikalen wie antimarxistischen Internationalen Sozialistischen Kampfbund vorgestanden hatte, stammte die Neubestimmung des Sozialismus als »angewandte Ethik« und »dauernde Aufgabe« und eben nicht mehr als zu erreichendes gesellschaftliches Ziel einer bestimmten Eigentumsordnung und Produktionsweise. Karl Schiller, Volkswirt und späterer Superminister für Wirtschaft und Finanzen im Kabinett Willy Brandts, von 1933 bis 1938 Mitglied der SA, seit 1938 mit Parteibuch der NSDAP, schrieb das Bekenntnis zum »freien Markt« ins Programm: »Wettbewerb soweit wie möglich – Planung soweit wie nötig«. Deist wiederum, aus sozialdemokratischer Familie, in den zwanziger Jahren dem nationalsozialdemokratischen »Hofgeismarer Kreis« zugehörig und 1938 in die NSDAP eingetreten, sorgte dafür, dass im Programm an die Stelle des in der SPD noch weithin verbreiteten Grundsatzes einer Sozialisierung der Produktionsmittel eine unbestimmte »öffentliche Kontrolle« zur Verhinderung von »Machtmissbrauch der Wirtschaft« trat.
Gegen vernehmliches Murren vor allem wegen der Sozialisierungsfrage nahmen die Delegierten des Godesberger Parteitags das Programm mit 324 zu 16 Stimmen an. Die Reformer konnten zufrieden sein. Der damalige Chefredakteur der Neuen Gesellschaft, Ulrich Lohmar, meldete Vollzug: »Der Marxismus als ein philosophisches, ökonomisches und soziologisches Lehrgebäude ist von der Sozialdemokratie zu den Akten der Geschichte gelegt worden.« Und Carlo Schmid erfreute die Leser der Zeit am 27. November mit der Feststellung, für die SPD stehe nicht mehr die Klasse im Zentrum ihrer Betrachtung, »sondern stehen der Mensch und das Volk: die Nation als gewollte und täglich sich neu bestätigende Gemeinschaft derer, die sich durch das Streben nach der Verwirklichung gemeinsam geglaubter und gewollter Werte verbunden fühlen«.
Die SPD wollte sich endlich zur Staatspartei mausern und sollte damit auch Erfolg haben. Inwieweit das neue Programm dafür verantwortlich war, sei dahingestellt. Zur Disziplinierung immer noch kritischer Mitglieder dürfte es allemal getaugt haben. Wer sich heute ernsthaft auf das »Godesberger Paradigma« beruft, könnte wenigstens berücksichtigen, dass die sozialdemokratische Regierungspraxis der vergangenen beiden Jahrzehnte selbst noch gegen die vagen Maßgaben dieses Programms verstoßen hat.
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•NEUER BEITRAG15.11.2019, 23:28 Uhr
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... und ebd.:
Marx und Marxismus restlos entsorgt
Linke Kritik am neuen Grundsatzdokument der SPD von 1959
Von Daniel Bratanovic
Die Delegierten des Godesberger Parteitags hatten sich festgelegt: »Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden.« Nicht allen Mitgliedern gefiel das neue Programm, in das zudem eine gehörige Portion Antikommunismus (»brutale kommunistische Herausforderung«, »die Kommunisten unterdrücken die Freiheit radikal«) aufgenommen worden war. Die verbliebenen Marxisten kritisierten die Leugnung des Klassenkampfs, die Geringschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung des Eigentums an den Produktionsmitteln, die diffuse Bestimmung, unter welchen Umständen eine Überführung in Gemeineigentum zu erfolgen habe (»Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig«), die restlose Entsorgung von Marx und Marxismus (von »Kapitalismus« ist lediglich in der Vergangenheitsform die Rede) sowie die Anbiederung an die Kirchen. Ausformulierte Gegenpositionen legten allerdings nur Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen vor. In Godesberg spielten die jedoch keine Rolle.
Abendroth unterzog den Entwurf in der linkssozialistischen Zeitschrift Sozialistische Politik einer geharnischten Kritik. Er habe mit den »traditionellen geistigen Grundlagen der Partei nichts mehr zu tun (…) Er verzichtet auf jeden Versuch, die wirkliche Gesellschaft und ihren Staat kritisch und wissenschaftlich zu untersuchen, ihre Bewegungsgesetze und Widersprüche aufzudecken, um den Ansatzpunkt für die Zielsetzung, Strategie und Taktik der Partei zu gewinnen. Er verzichtet auf jede klare Bestimmung des sozialistischen Ziels«. In seinem Gegenentwurf hob Abendroth in deutlicher marxistischer Diktion auf die Herrschaft des Monopolkapitals ab und sprach von der »Verschmelzung der Staatsgewalt mit seinen Interessen«. Daher sei »der Kampf der Arbeitnehmer« für eine »im gesellschaftlichen Gesamtinteresse demokratisch geplante sozialistische Produktionsweise nur erfolgversprechend, wenn er zielbewusst zum politischen Kampf um die Staatsmacht erweitert wird«.
Die parteiinterne Resonanz war gering, und von Oertzen fand AbendÂroths Entwurf »nicht gut«: »Es war mir zu dogmatisch«. Sein eigener sah Korrekturen vor, legte fest, welche Branchen in Gemeinwirtschaft überführt werden sollten, und fügte einen neuen Abschnitt »Demokratisierung der Wirtschaft« hinzu. Von Oertzen, der anders als Abendroth Delegierter in Godesberg und einer der 16 mit Nein Stimmenden war, hatte seine Gegenposition allerdings zu spät eingereicht, sie wurde nicht mehr berücksichtigt. Unmittelbar nach dem Parteitag erinnerte er in Sozialistische Politik daran, dass von Verrat am Sozialismus, »wie es ein wohlfeiler Radikalismus gerne proklamiert«, keine Rede sein könne, denn eine sozialistische Partei im Sinne von Marx sei die SPD schon lange nicht mehr. Aufgrund des fehlenden »sozialistischen Bewusstseins« der Arbeiter sei allerdings »demokratische und soziale Reformarbeit die einzig mögliche praktische Politik«. Und was auch immer an der SPD zu kritisieren sei, »sie ist – neben den Gewerkschaften – die einzige Organisation, in der ein Sozialist wirken kann«.
Wolfgang Abendroth wurde 1961 aus der SPD ausgeschlossen. Peter von Oertzen blieb SPD-Mitglied und war von 1970 bis 1974 Kultusminister in Niedersachsen und später dann Mitautor des Berliner Programms der SPD von 1989.
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Marx und Marxismus restlos entsorgt
Linke Kritik am neuen Grundsatzdokument der SPD von 1959
Von Daniel Bratanovic
Die Delegierten des Godesberger Parteitags hatten sich festgelegt: »Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden.« Nicht allen Mitgliedern gefiel das neue Programm, in das zudem eine gehörige Portion Antikommunismus (»brutale kommunistische Herausforderung«, »die Kommunisten unterdrücken die Freiheit radikal«) aufgenommen worden war. Die verbliebenen Marxisten kritisierten die Leugnung des Klassenkampfs, die Geringschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung des Eigentums an den Produktionsmitteln, die diffuse Bestimmung, unter welchen Umständen eine Überführung in Gemeineigentum zu erfolgen habe (»Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig«), die restlose Entsorgung von Marx und Marxismus (von »Kapitalismus« ist lediglich in der Vergangenheitsform die Rede) sowie die Anbiederung an die Kirchen. Ausformulierte Gegenpositionen legten allerdings nur Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen vor. In Godesberg spielten die jedoch keine Rolle.
Abendroth unterzog den Entwurf in der linkssozialistischen Zeitschrift Sozialistische Politik einer geharnischten Kritik. Er habe mit den »traditionellen geistigen Grundlagen der Partei nichts mehr zu tun (…) Er verzichtet auf jeden Versuch, die wirkliche Gesellschaft und ihren Staat kritisch und wissenschaftlich zu untersuchen, ihre Bewegungsgesetze und Widersprüche aufzudecken, um den Ansatzpunkt für die Zielsetzung, Strategie und Taktik der Partei zu gewinnen. Er verzichtet auf jede klare Bestimmung des sozialistischen Ziels«. In seinem Gegenentwurf hob Abendroth in deutlicher marxistischer Diktion auf die Herrschaft des Monopolkapitals ab und sprach von der »Verschmelzung der Staatsgewalt mit seinen Interessen«. Daher sei »der Kampf der Arbeitnehmer« für eine »im gesellschaftlichen Gesamtinteresse demokratisch geplante sozialistische Produktionsweise nur erfolgversprechend, wenn er zielbewusst zum politischen Kampf um die Staatsmacht erweitert wird«.
Die parteiinterne Resonanz war gering, und von Oertzen fand AbendÂroths Entwurf »nicht gut«: »Es war mir zu dogmatisch«. Sein eigener sah Korrekturen vor, legte fest, welche Branchen in Gemeinwirtschaft überführt werden sollten, und fügte einen neuen Abschnitt »Demokratisierung der Wirtschaft« hinzu. Von Oertzen, der anders als Abendroth Delegierter in Godesberg und einer der 16 mit Nein Stimmenden war, hatte seine Gegenposition allerdings zu spät eingereicht, sie wurde nicht mehr berücksichtigt. Unmittelbar nach dem Parteitag erinnerte er in Sozialistische Politik daran, dass von Verrat am Sozialismus, »wie es ein wohlfeiler Radikalismus gerne proklamiert«, keine Rede sein könne, denn eine sozialistische Partei im Sinne von Marx sei die SPD schon lange nicht mehr. Aufgrund des fehlenden »sozialistischen Bewusstseins« der Arbeiter sei allerdings »demokratische und soziale Reformarbeit die einzig mögliche praktische Politik«. Und was auch immer an der SPD zu kritisieren sei, »sie ist – neben den Gewerkschaften – die einzige Organisation, in der ein Sozialist wirken kann«.
Wolfgang Abendroth wurde 1961 aus der SPD ausgeschlossen. Peter von Oertzen blieb SPD-Mitglied und war von 1970 bis 1974 Kultusminister in Niedersachsen und später dann Mitautor des Berliner Programms der SPD von 1989.
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•NEUER BEITRAG15.11.2019, 23:36 Uhr
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FPeregrin | |
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"Peter von Oertzen blieb SPD-Mitglied und war von 1970 bis 1974 Kultusminister in Niedersachsen und später dann Mitautor des Berliner Programms der SPD von 1989."
Ich habe ihn in der Zeit seiner Programmarbeit 88 oder 89 auf einer Veranstaltung einer Juso-Hochschulgruppe erlebt. Es war schon bemerkenswert, wie man das Rumjammern darüber, daß nichts so schwierig sei, wie sozialistische Programmatik in der SPD zu verankern, verbunden werden konnte mit der Vermittlung einer schicksalhaften Unvermeidbarkeit eines solchen vergeblichen Tuns. Das scheint mir einen nicht unwesentlichen Teil der sozialdemokratischen Seele auszumachen: Es nützt zwar alles nichts, aber man muß es dennoch machen, ... Genosse, es ist doch für die Partei!
Ich habe ihn in der Zeit seiner Programmarbeit 88 oder 89 auf einer Veranstaltung einer Juso-Hochschulgruppe erlebt. Es war schon bemerkenswert, wie man das Rumjammern darüber, daß nichts so schwierig sei, wie sozialistische Programmatik in der SPD zu verankern, verbunden werden konnte mit der Vermittlung einer schicksalhaften Unvermeidbarkeit eines solchen vergeblichen Tuns. Das scheint mir einen nicht unwesentlichen Teil der sozialdemokratischen Seele auszumachen: Es nützt zwar alles nichts, aber man muß es dennoch machen, ... Genosse, es ist doch für die Partei!
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