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NEUES THEMA10.04.2009, 08:38 Uhr
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"Stunde Null" am Beispiel Schaeffler HERZOGENAURACH/KIETRZ (02.02.2009) - Kriegsgeschäfte der deutschen Unternehmerfamilie Schaeffler aus den frühen 1940er Jahren sorgen für Debatten im südlichen Polen. Die Gründer der Firma, die sich derzeit um staatliche Milliardenbürgschaften bemüht, begannen ihre unternehmerischen Aktivitäten entgegen offiziellen Angaben nicht erst 1946. Vielmehr nutzten sie für ihren Nachkriegs-Start Know-How und Gerät einer ehemals jüdischen Fabrik in Kietrz nahe der polnisch-tschechischen Grenze, die sie sich bald nach Kriegsbeginn angeeignet hatten. Der kurzerhand in "Schaeffler AG" umbenannte Betrieb stellte bis 1944 Textilien und Panzerteile für die Wehrmacht her; Maschinen und Fachpersonal wurden Anfang 1945 in den Westen verbracht und ermöglichten der Schaeffler-Firmengruppe ihren schnellen Aufstieg. Hinweise von Historikern führen zu Geschäftsbeziehungen der Unternehmensgründer mit der Abteilung Menschenverwertung im Vernichtungslager Auschwitz.

Die Geschichte der deutschen Firmengruppe Schaeffler sorgt bereits seit dem vergangenen Sommer für Debatten im südlichen Polen. Dort war das Familienunternehmen bis Kriegsende angesiedelt. Im Juli 2008 machte Schaeffler mit Aktivitäten zur Übernahme des prominenten Automobilzulieferers Continental internationale Schlagzeilen und muss sich jetzt wegen mangelnder Liquidität um eine staatliche Bürgschaft in Milliardenhöhe bemühen. Wie Beobachter aus dem polnisch-tschechischen Grenzgebiet meinen, basierte der schnelle Aufstieg der Firma nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Kriegsgeschäften im südpolnischen Kietrz, das damals Katscher hieß und zur preußischen Provinz Oberschlesien des Deutschen Reichs gehörte. Recherchen dieser Redaktion zufolge profitierten die Eigentümer in der NS-Zeit von den kriminellen Machenschaften der deutschen Expansions- und Rassepolitik.

Arisiert

Laut Angaben der Schaeffler Gruppe beginnt ihre Firmengeschichte erst in der Nachkriegszeit. Demnach gründeten die Brüder Wilhelm und Georg Schaeffler 1946 im fränkischen Herzogenaurach die INA KG, den Kern des heutigen Familienunternehmens. Tatsächlich hatten sich die Brüder Schaeffler bereits kurz nach Kriegsbeginn die Textilfirma "Davistan Krümmer-, Plüsch- und Teppichfabriken AG" in Katscher angeeignet. Die einst bedeutende Fabrik hatte zu ihren Hochzeiten mehr als 1.500 Menschen beschäftigt; sie gehörte bis 1933 einem jüdischen Besitzer, der bald nach der Machtübertragung an die NSDAP sein Eigentum verlor.1 Wilhelm Schaeffler, im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit bei der Dresdner Bank reichsweit mit "Wirtschaftlichkeitsprüfungen" befasst, war 1939 auf den unter der Aufsicht eines Bankenkonsortiums stehenden Betrieb aufmerksam geworden und hatte seine Übernahme in die Wege geleitet. Die kurzerhand in "Schaeffler AG" umbenannte Firma produzierte schon wenig später nicht nur Textilien - wie es in Berichten heißt, unter anderem für die Wehrmacht -, sondern erweiterte ihre Palette mitten im Krieg auf die Herstellung sogenannter Nadellager.

Für Panzerketten

Die Nadellager bildeten bald den eigentlichen Schwerpunkt des Betriebs. Die Schaeffler AG lieferte "Großserien von Nadellagern für Panzerketten", heißt es in einem Text zum ehrenden Gedenken an Wilhelm Schaeffler, der im Amtsblatt der Stadt Herzogenaurach veröffentlicht wurde; dort hat das Familienunternehmen heute seinen Sitz.2 Katscher galt für die Rüstungsindustrie als günstig, weil die schlesische Gemeinde außerhalb der Reichweite alliierter Flugzeuge lag. Erst als sich Anfang 1945 die Rote Armee dem Gebiet näherte, stoppte die Firma die Produktion - und verbrachte einen Teil ihrer Maschinen und Rohstoffe samt mehreren hundert Angestellten nach Westen.

Ursprung in Kietrz

Maschinen und Know-How aus Katscher, dem heutigen Kietrz, bildeten die Grundlage für den raschen Nachkriegserfolg der Schaefflers. Mit der Neugründung ihrer Firma unter dem Namen INA im Jahr 1946 stiegen sie erneut in die Nadellagerproduktion ein - und belieferten neben der US Army bald auch die deutsche Automobilindustrie. Ihre heutige Stellung verdankt die Schaeffler Gruppe, deren rund 66.000 Mitarbeiter 2007 an mehr als 180 Standorten weltweit einen Umsatz von fast neun Milliarden Euro erwirtschafteten3, maßgeblich der Nadel- bzw. Wälzlagerproduktion und deren Ursprung in Kietrz. Das gilt auch für den legendären Reichtum der Familie, die zuletzt auf der Rangliste der wohlhabendsten Menschen der Welt Rang 104 einnahm. Die Schaeffler'sche Textilsparte, die ebenfalls ihren Ursprung zu Kriegszeiten hat und in den 1950er Jahren zu den größten deutschen Firmen der Branche gehörte, wurde anders als die Wälzlagerproduktion Ende der 1980er Jahre stillgelegt.

Menschenhaar

Auf die Textilsparte der damaligen Schaeffler AG richtet sich das Interesse polnischer Historiker, die möglichen Geschäftskontakten des Unternehmens zum Vernichtungslager Auschwitz nachgehen. Die Hinweise betreffen die Verwertung von Menschenhaar in Betrieben der deutschen Textilindustrie. Wie der Historiker Andrzej Strzelecki schreibt, der am Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau (Państwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau) tätig ist, wurden nach dem Abzug der Deutschen aus Kietrz 1945 große Mengen Menschenhaar in einer dortigen Fabrik gefunden. Laut Strzelecki handelte es sich um die "Teppichfabrik G. Schoffler AG".4 Derselbe Befund ist einer Veröffentlichung des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau zu entnehmen; dort ist von einer "Teppichfabrik G. Schoeffler AG" die Rede.5 Der Name "Schoffler" ist für Katscher ebensowenig belegt wie "Schoeffler"; dies gilt nicht zuletzt für umfangreiche Bestandslisten aus dem Milieu der deutschen Vertriebenen, in denen die ab 1945 aus Katscher geflohenen oder umgesiedelten Personen verzeichnet sind.6 Vielfältig belegt ist hingegen der Name "Schaeffler".

Industrielle Verwertung

Wie es in der Publikation des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau heißt, konnten Wissenschaftler an den in Kietrz aufgefundenen Menschenhaaren Zyanwasserstoff nachweisen. Zyanwasserstoff war Bestandteil des Giftgases ("Zyklon B"), mit dem die Nazis ihre Opfer in den Gaskammern ermordeten. In Kietrz wurden zudem mehrere Ballen Haargewebe sichergestellt7, die die industrielle Verwertung menschlichen Haares belegen. Ähnliche Verwertungen fanden in verschiedenen Betrieben der deutschen Textilindustrie statt - Andrzej Strzelecki berichtet unter Berufung auf Archivquellen in Polen unter anderem von Produktionen für die Wehrmacht.8 Das Gewicht der in Kietrz aufgefundenen Menschenhaare gibt Strzelecki mit 1.950 Kilogramm an. Angaben von Historikern zufolge entspricht dies dem Haar von rund 40.000 Menschen.

Nicht aufgeklärt

Dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau zufolge wurde die Textilfabrik, in der die Menschenhaare aus Auschwitz gefunden wurden, nach dem Krieg verstaatlicht.9 Darüber, wie die Haare in die Textilfabrik gelangten, sind keinerlei Details bekannt. Quellen aus dem Polnischen Staatsarchiv in Opole behaupten, dass es sich bei dem nach dem Kriege verstaatlichten Werk um die Schaeffler'sche Textilfabrik gehandelt habe. Eine präzise Aufklärung steht bis heute aus.


Anmerkungen:
1 Schaeffler, Georg; Neue deutsche Biographie Band 22, Rohmer - Schinkel, Berlin 2005
2 Ehrenbürger Dr. Wilhelm Schaeffler (1908 bis 1981). Zum 100. Geburtstag; Amtsblatt der Stadt Herzogenaurach 13/2008
3 Schaeffler Gruppe; Link ...jetzt anmelden!
4 Andrzej Strzelecki: The Plunder of Victims and Their Corpses, in: Yisrael Gutman, Michael Berenbaum (Ed.): Anatomy of the Auschwitz Death Camp, Bloomington, 1994
5 Auschwitz, 1940 - 1945 : Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz; Bd. II (Die Häftlinge - Existenzbedingungen, Arbeit und Tod); Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1999
6 Derartige Listen wurden gewöhnlich auch mit dem Gedanken erstellt, künftige Entschädigungsansprüche gegenüber den Herkunftsländern der Umgesiedelten vertreten zu können. Verzeichnet wurden deshalb alle, deren Flucht bzw. Umsiedlung in Erfahrung gebracht werden konnte. Dies galt auch für Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer Stellung im Herkunftsort eine gewisse Prominenz besaßen.
7 Auschwitz, 1940 - 1945 : Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz; Bd. II (Die Häftlinge - Existenzbedingungen, Arbeit und Tod); Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1999
8 Andrzej Strzelecki: The Plunder of Victims and Their Corpses, in: Yisrael Gutman, Michael Berenbaum (Ed.): Anatomy of the Auschwitz Death Camp, Bloomington, 1994
9 Auschwitz, 1940 - 1945 : Studien zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz; Bd. II (Die Häftlinge - Existenzbedingungen, Arbeit und Tod); Verlag des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Oswiecim 1999

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