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•NEUES THEMA01.08.2019, 23:58 Uhr
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• 75. JT des Warschauer Aufstands
Zum 75. Jahrestags des Beginns des Warschauer Aufstands - NB auch Artikel des Tages der deutschsprachigen Wikipedia:
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- bringt die jW heute - je gerade noch - folgenden lesenswerten Artikel von Reinhard Lauterbach:
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Für uns festhaltenswert ist einerseits die Charaktersierung der drei Stoßrichtungen des Aufstandsversuchs, "der sich militärisch gegen Deutschland, politisch gegen die Sowjetunion und moralisch gegen die Westalliierten richtete."
Vor diesem Hintergrund kann auch das Nicht-Eingreifen der Roten Armee auch unabhängig von der korrekten militärischen Lagebeurteilung wie folgt richtig bewertet werden: "Wobei die Anhänger der Version von Stalins Verrat an den Aufständischen nicht erklären können, warum sie hätte wollen sollen: Eigene Soldaten zu gefährden, um einer Mannschaft an die Macht zu verhelfen, von der sie nichts als Gegnerschaft zu erwarten gehabt hätte und von der aus der Vorkriegszeit bekannt war, dass sie sowjetische Unterstützung für die von der Aufteilung bedrohte Tschechoslowakei durch die Verweigerung des Transits sowjetischer Truppen blockiert hatte."
Deshalb ganz hier:
In aussichtsloser Lage
Vor 75 Jahren begann der Warschauer Aufstand. Es war der letzte Versuch der Exilregierung, das bürgerliche Vorkriegspolen zu retten
Von Reinhard Lauterbach
Jedes Jahr am 1. August kommt um 17 Uhr in Warschau der Verkehr zum Erliegen. Autos fahren an den Straßenrand, Straßenbahnen bleiben stehen, Sirenen heulen, die Passanten verharren in stillem Gedenken. Die Erinnerung gilt dem Beginn des Warschauer Aufstands vom 1. August 1944. Er war die größte einzelne Militäroperation einer europäischen Widerstandsbewegung gegen die nazideutsche Besatzung und gleichzeitig die am tragischsten fehlgeschlagene. Angetrieben vom Hass insbesondere der jungen Generation auf die Besatzer und anfangs unterstützt auch von der übrigen Zivilbevölkerung, blieb er militärisch wie politisch erfolglos. Um den Widerstand zu brechen, begingen deutsche Truppen an der Bevölkerung schwerste Kriegsverbrechen. Einem mehrtägigen Massaker im Arbeiterviertel Wola fielen zwischen dem 5. und 7. August mindestens 30.000 Menschen zum Opfer, ganz überwiegend Nichtkombattanten.1 In Reaktion auf den Aufstand und um ein abschreckendes Beispiel zu statuieren, ordnete Hitler an, die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleichzumachen. Sein Befehl wurde ausgeführt. Als die Aufständischen nach 63 Tagen ungleichen Kampfes am 2. Oktober 1944 kapituliert hatten, zogen deutsche Sprengkommandos durch Warschau und zerstörten, was nach den Kämpfen noch übrig war. Von den etwa 30.000 Aufständischen fielen zwei Drittel, mindestens 150.000 Zivilisten kamen ums Leben. Als Warschau am 17. Januar 1945 von der Roten Armee und den mit ihr verbündeten polnischen Verbänden eingenommen wurde, war die Stadt eine Trümmerwüste, so stark zerstört, dass eine Zeitlang ernsthaft darüber diskutiert wurde, die Hauptstadt Polens nach Lodz zu verlegen.
Schlecht ausgerüstet
Die größte Stärke der Aufständischen war ihr enormer Mut und ihr Kampfeswille; ihre größte Schwäche die schlechte Bewaffnung. Im Schnitt war nur für jeden zehnten Soldaten der Untergrundarmee eine Schusswaffe vorhanden, Munition war knapp, schwere Waffen fehlten völlig, und viele angelegte Depots gingen verloren, weil die Verstecke im Chaos der ersten Kampftage nicht mehr rechtzeitig geräumt werden konnten. Das lag auch daran, dass die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, abgekürzt: AK) bei ihrer Gründung 1940 nicht als Kampftruppe konzipiert worden war, sondern als Aufklärungsnetz im Dienste der westlichen Alliierten. Auf diesem Gebiet erzielte sie auch einige spektakuläre Erfolge, unter anderem die Erbeutung einer vollständigen V2-Rakete, die als Blindgänger zu Boden gefallen war und in Einzelteile zerlegt an Großbritannien geliefert wurde. Die Schwäche der eigenen Bewaffnung war auf polnischer Seite allgemein bekannt. Auf einer der letzten Einsatzbesprechungen vor dem Aufstand wandte ein Kompaniechef der AK ein, er könne nicht seine ganze Einheit bereitstellen, weil die Waffen nur für einen Stoßtrupp reichten. Der vorgesetzte Offizier entgegnete, seine eigene Bewaffnung bestehe auch nur in einem Taschenmesser, und der Beginn der Erhebung sei ein Befehl.
Weil einige Trupps schon auf dem Weg in ihre Bereitstellungsräume in Gefechte mit deutschen Truppen verwickelt wurden und weil der Aufstandsbeginn wegen der Polizeistunde auf 17 Uhr gelegt worden war, ging das Überraschungsmoment verloren. Es gelang den Aufständischen nicht, die Bahnhöfe und die Weichselbrücken zu erobern und so Warschau für deutsche Truppenbewegungen unpassierbar zu machen. Die deutsche Gegenoffensive drängte die Aufständischen in mehreren untereinander nur durch die Kanalisation verbundenen Kesseln zusammen. Die Beengtheit in den Aufstandsgebieten wurde noch dadurch verstärkt, dass Zivilisten sich nicht anders zu helfen wussten, als vor dem Terror der Nazis in die noch unter Kontrolle der Aufständischen stehenden Stadtteile zu fliehen. Das verschärfte dort die Versorgungsprobleme. Vollkommen unerträglich wurde die Lage, als die Deutschen am 24. August die Wasserversorgung unterbrachen.
Schon nach zehn Tagen waren sich die Anführer des Aufstands darüber im klaren, dass der Versuch, Warschau militärisch einzunehmen, gescheitert war. Aber mehrere deutsche Kapitulationsangebote blieben unbeantwortet. Die Exilregierung verbot den Aufständischen vor Ort, auf sie einzugehen, weil sie damals noch die Hoffnung hatte, den Kämpfern mit Hilfe der Westalliierten Waffen aus der Luft zukommen zu lassen. Doch diese Hoffnung trog; es gab wesentlich weniger Versorgungsflüge als erhofft und von der Exilregierung erbeten, und nur ein Teil der abgeworfenen Waffen gelangte in die Hände der Aufständischen.
Der Grund für die nicht eben umfangreiche Unterstützung liegt in der Stoßrichtung des Aufstandes, der sich militärisch gegen Deutschland, politisch gegen die Sowjetunion und moralisch gegen die Westalliierten richtete. Der letzte Aspekt ist wahrscheinlich der erklärungsbedürftigste, aber er erhellt gleichzeitig den zweiten.
Polen zählte sich zu den Teilnehmern der Antihitlerkoalition, und polnische Soldaten hatten auch einiges zu deren militärischen Erfolgen beigetragen: durch die Entschlüsselung von Nachrichten der deutschen Chiffriermaschine »Enigma« schon vor Kriegsbeginn, durch die Beteiligung polnischer Piloten an der Abwehr der deutschen Luftoffensive gegen Großbritannien 1940 und 1942 durch die Verteidigung der Festung Tobruk in Libyen gegen Erwin Rommels »AfrikaÂkorps«; zuletzt, erst wenige Wochen vor dem Warschauer Aufstand, durch die Erstürmung des von der Wehrmacht zu einer Festung ausgebauten Monte Cassino südlich von Rom, eine Aufgabe, an der britische und Commonwealth-Truppen gescheitert waren. Aber der von Exilregierung erhoffte Dank der westlichen Verbündeten blieb aus, denn diese war für Großbritannien und die USA ein unbequemer Verbündeter. Sie stand mit ihren Interessen quer zu dem Bündnis mit der Sowjetunion, auf das weder London noch Washington vor dem Sieg über Nazideutschland verzichten wollten und konnten.
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Vor diesem Hintergrund kann auch das Nicht-Eingreifen der Roten Armee auch unabhängig von der korrekten militärischen Lagebeurteilung wie folgt richtig bewertet werden: "Wobei die Anhänger der Version von Stalins Verrat an den Aufständischen nicht erklären können, warum sie hätte wollen sollen: Eigene Soldaten zu gefährden, um einer Mannschaft an die Macht zu verhelfen, von der sie nichts als Gegnerschaft zu erwarten gehabt hätte und von der aus der Vorkriegszeit bekannt war, dass sie sowjetische Unterstützung für die von der Aufteilung bedrohte Tschechoslowakei durch die Verweigerung des Transits sowjetischer Truppen blockiert hatte."
Deshalb ganz hier:
In aussichtsloser Lage
Vor 75 Jahren begann der Warschauer Aufstand. Es war der letzte Versuch der Exilregierung, das bürgerliche Vorkriegspolen zu retten
Von Reinhard Lauterbach
Jedes Jahr am 1. August kommt um 17 Uhr in Warschau der Verkehr zum Erliegen. Autos fahren an den Straßenrand, Straßenbahnen bleiben stehen, Sirenen heulen, die Passanten verharren in stillem Gedenken. Die Erinnerung gilt dem Beginn des Warschauer Aufstands vom 1. August 1944. Er war die größte einzelne Militäroperation einer europäischen Widerstandsbewegung gegen die nazideutsche Besatzung und gleichzeitig die am tragischsten fehlgeschlagene. Angetrieben vom Hass insbesondere der jungen Generation auf die Besatzer und anfangs unterstützt auch von der übrigen Zivilbevölkerung, blieb er militärisch wie politisch erfolglos. Um den Widerstand zu brechen, begingen deutsche Truppen an der Bevölkerung schwerste Kriegsverbrechen. Einem mehrtägigen Massaker im Arbeiterviertel Wola fielen zwischen dem 5. und 7. August mindestens 30.000 Menschen zum Opfer, ganz überwiegend Nichtkombattanten.1 In Reaktion auf den Aufstand und um ein abschreckendes Beispiel zu statuieren, ordnete Hitler an, die polnische Hauptstadt dem Erdboden gleichzumachen. Sein Befehl wurde ausgeführt. Als die Aufständischen nach 63 Tagen ungleichen Kampfes am 2. Oktober 1944 kapituliert hatten, zogen deutsche Sprengkommandos durch Warschau und zerstörten, was nach den Kämpfen noch übrig war. Von den etwa 30.000 Aufständischen fielen zwei Drittel, mindestens 150.000 Zivilisten kamen ums Leben. Als Warschau am 17. Januar 1945 von der Roten Armee und den mit ihr verbündeten polnischen Verbänden eingenommen wurde, war die Stadt eine Trümmerwüste, so stark zerstört, dass eine Zeitlang ernsthaft darüber diskutiert wurde, die Hauptstadt Polens nach Lodz zu verlegen.
Schlecht ausgerüstet
Die größte Stärke der Aufständischen war ihr enormer Mut und ihr Kampfeswille; ihre größte Schwäche die schlechte Bewaffnung. Im Schnitt war nur für jeden zehnten Soldaten der Untergrundarmee eine Schusswaffe vorhanden, Munition war knapp, schwere Waffen fehlten völlig, und viele angelegte Depots gingen verloren, weil die Verstecke im Chaos der ersten Kampftage nicht mehr rechtzeitig geräumt werden konnten. Das lag auch daran, dass die polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, abgekürzt: AK) bei ihrer Gründung 1940 nicht als Kampftruppe konzipiert worden war, sondern als Aufklärungsnetz im Dienste der westlichen Alliierten. Auf diesem Gebiet erzielte sie auch einige spektakuläre Erfolge, unter anderem die Erbeutung einer vollständigen V2-Rakete, die als Blindgänger zu Boden gefallen war und in Einzelteile zerlegt an Großbritannien geliefert wurde. Die Schwäche der eigenen Bewaffnung war auf polnischer Seite allgemein bekannt. Auf einer der letzten Einsatzbesprechungen vor dem Aufstand wandte ein Kompaniechef der AK ein, er könne nicht seine ganze Einheit bereitstellen, weil die Waffen nur für einen Stoßtrupp reichten. Der vorgesetzte Offizier entgegnete, seine eigene Bewaffnung bestehe auch nur in einem Taschenmesser, und der Beginn der Erhebung sei ein Befehl.
Weil einige Trupps schon auf dem Weg in ihre Bereitstellungsräume in Gefechte mit deutschen Truppen verwickelt wurden und weil der Aufstandsbeginn wegen der Polizeistunde auf 17 Uhr gelegt worden war, ging das Überraschungsmoment verloren. Es gelang den Aufständischen nicht, die Bahnhöfe und die Weichselbrücken zu erobern und so Warschau für deutsche Truppenbewegungen unpassierbar zu machen. Die deutsche Gegenoffensive drängte die Aufständischen in mehreren untereinander nur durch die Kanalisation verbundenen Kesseln zusammen. Die Beengtheit in den Aufstandsgebieten wurde noch dadurch verstärkt, dass Zivilisten sich nicht anders zu helfen wussten, als vor dem Terror der Nazis in die noch unter Kontrolle der Aufständischen stehenden Stadtteile zu fliehen. Das verschärfte dort die Versorgungsprobleme. Vollkommen unerträglich wurde die Lage, als die Deutschen am 24. August die Wasserversorgung unterbrachen.
Schon nach zehn Tagen waren sich die Anführer des Aufstands darüber im klaren, dass der Versuch, Warschau militärisch einzunehmen, gescheitert war. Aber mehrere deutsche Kapitulationsangebote blieben unbeantwortet. Die Exilregierung verbot den Aufständischen vor Ort, auf sie einzugehen, weil sie damals noch die Hoffnung hatte, den Kämpfern mit Hilfe der Westalliierten Waffen aus der Luft zukommen zu lassen. Doch diese Hoffnung trog; es gab wesentlich weniger Versorgungsflüge als erhofft und von der Exilregierung erbeten, und nur ein Teil der abgeworfenen Waffen gelangte in die Hände der Aufständischen.
Der Grund für die nicht eben umfangreiche Unterstützung liegt in der Stoßrichtung des Aufstandes, der sich militärisch gegen Deutschland, politisch gegen die Sowjetunion und moralisch gegen die Westalliierten richtete. Der letzte Aspekt ist wahrscheinlich der erklärungsbedürftigste, aber er erhellt gleichzeitig den zweiten.
Polen zählte sich zu den Teilnehmern der Antihitlerkoalition, und polnische Soldaten hatten auch einiges zu deren militärischen Erfolgen beigetragen: durch die Entschlüsselung von Nachrichten der deutschen Chiffriermaschine »Enigma« schon vor Kriegsbeginn, durch die Beteiligung polnischer Piloten an der Abwehr der deutschen Luftoffensive gegen Großbritannien 1940 und 1942 durch die Verteidigung der Festung Tobruk in Libyen gegen Erwin Rommels »AfrikaÂkorps«; zuletzt, erst wenige Wochen vor dem Warschauer Aufstand, durch die Erstürmung des von der Wehrmacht zu einer Festung ausgebauten Monte Cassino südlich von Rom, eine Aufgabe, an der britische und Commonwealth-Truppen gescheitert waren. Aber der von Exilregierung erhoffte Dank der westlichen Verbündeten blieb aus, denn diese war für Großbritannien und die USA ein unbequemer Verbündeter. Sie stand mit ihren Interessen quer zu dem Bündnis mit der Sowjetunion, auf das weder London noch Washington vor dem Sieg über Nazideutschland verzichten wollten und konnten.
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•NEUER BEITRAG02.08.2019, 00:02 Uhr
EDIT: FPeregrin
02.08.2019, 00:06 Uhr
02.08.2019, 00:06 Uhr
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Zwei Feinde
Die polnische Exilregierung vertrat nach dem Angriff der Wehrmacht am 1. September 1939 und der Aufteilung des Landes gemäß des Geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes die Theorie der »zwei Feinde«. Und man setzte darauf, dass, wie es das offizielle Informationsbulletin der AK am 26. Juni 1941 formulierte, »die Hand des einen Feindes die des anderen lähmen« werde: »Wir haben unsere Erwägungen immer auf die Annahme gestützt, dass das Reich aus dem Krieg mit Russland siegreich hervorgeht, und dass dieser Sieg die Republik (Polen, R. L.) retten wird. Dass also das Reich, bevor es selbst zusammenbricht, Polen dieses wunderbare Geschenk zum Tag der Befreiung machen wird.«2 Die Exilregierung ging davon aus, dass schließlich doch die Westalliierten das »Dritte Reich« besiegen und Polen befreien würden.
Das Problem war, dass diese Rechnung, so abenteuerlich sie schon im Ausgangspunkt war, nach den deutschen Niederlagen in Stalingrad und am Kursker Bogen endgültig jede Grundlage verloren hatte. Spätestens ab Mitte 1943 musste allen strategisch Denkenden klar sein, dass Polen über kurz oder lang von der Sowjetarmee befreit – oder, wie es die polnische Seite formulierte, erobert – werden würde. In der Nacht vom 2. zum 3. Januar 1944 überschritt die Rote Armee im Zuge ihrer Gegenoffensive bei Sarny in der Westukraine erstmals wieder die Vorkriegsgrenze zwischen beiden Staaten.
Diese Grenze war als Ergebnis des polnisch-Âsowjetischen Kriegs um die Ukraine 1921 im Frieden von Riga vereinbart worden. Sie verlief etwa 200 Kilometer östlich der heutigen polnischen Ostgrenze und machte Polen zum Nachbarland Lettlands im Norden und Rumäniens im Süden. Polen hatte sich in diesem Krieg über die Festlegungen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs hinweggesetzt, die eine nach ihrem britischen Urheber Lord Curzon benannte Grenzziehung gemäß den ethnischen Mehrheitsverhältnissen geplant hatten, und sich eigenmächtig ein zum überwiegenden Teil von nichtpolnischer Bevölkerung (Belorussen und Ukrainern, dazu vielen Juden) bewohntes Gebiet angeeignet. Der Grund war die Zielsetzung des zum Nationalisten gewendeten Exsozialisten Jozef Pilsudski, Polen als osteuropäisches Imperium wiederherzustellen, außerdem sein Interesse an einem antirussischen Pufferstaat in der Ukraine und schließlich der Wunsch, die objektiv anstehende Agrarreform in Polen zu vermeiden, indem im Osten Kolonialland gewonnen und dadurch der Handlungsdruck auf die Warschauer Regierung und die den Staat tragende polnische Grundbesitzerklasse gesenkt wurde. Die Westalliierten hatten Pilsudskis Eigenmächtigkeiten damals hingenommen, weil ihnen an Polen als einem antisowjetischen Bollwerk gelegen war. Aber anerkannt hatten sie diese Grenze immer nur de facto, nie de jure. Noch die britische Garantieerklärung für Polen vom Frühjahr 1939 bezog sich nur auf die staatliche Existenz Polens, nicht auf dessen damalige Grenzen. Wie britische Diplomaten polnischen Vertretern schon im Herbst 1939 deutlich machten, fühlten sie sich Polen gegenüber in Bezug auf die Sowjetunion zu nichts verpflichtet.3 Insbesondere die polnische Beteiligung an der Aufteilung der Tschechoslowakei im März 1939 war in London negativ aufgenommen worden. 1942 erklärte der britische Innenminister Herbert Morrison, ein Mann der Labour Party, dem polnischen Exilpolitiker Adam Ciolkosz, ebenfalls Sozialdemokrat, kurz und bündig: »Die Gebiete östlich der Curzon-Linie sind ihrer Natur nach umstritten, weil sie von Angehörigen mehrerer Nationalitäten bewohnt werden. Ansprüche auf solche Territorien nennen wir Imperialismus. Um aber Imperialist zu sein, muss man erstens entsprechende Gewaltmittel besitzen und zweitens das Geschick, die Gebiete zu regieren. Ihr Land hat nichts davon gezeigt. Sie versuchen, Ihre imperialistischen Ziele mit unseren Kräften zu erreichen.«4 Entsprechend war von Großbritannien und den USA wenig Widerstand zu erwarten, als die sowjetische Führung auf der Konferenz von Teheran Ende November 1943 klarmachte, dass sie auf dem 1939 erreichten Grenzverlauf gegenüber Polen bestehen und dem Land dafür einen Ausgleich in Gestalt der deutschen Ostgebiete verschaffen wollte. Das strategische Bündnis mit der Sowjetunion ging Briten und Amerikanern zu diesem Zeitpunkt noch vor.
Den Sowjets zuvorkommen
In dieser Situation stellte die Exilregierung den in den polnischen Ostgebieten operierenden Partisanenverbänden der AK die Aufgabe, nach Möglichkeit vor dem Eintreffen der sowjetischen Armee vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Aktion »Gewitter« sollte den Sowjets vor Augen führen, wer in der betreffenden Region »Hausherr« sei und auf wen folglich auch politisch Rücksicht genommen werden müsse. Solche polnischen Aufstände kurz vor der Befreiung gab es in Lwow (Lwiw), Wilna (Vilnius), im ländlichen Wolynien (heute Ukraine) und um Nowogrodek (Belarus). In der Regel arbeitete die Rote Armee taktisch mit den polnischen Partisanen zusammen, solange es gegen den gemeinsamen deutschen Gegner ging; sobald aber die sowjetischen Truppen die Region kontrollierten, machten sie den Polen deutlich, was sie von ihnen erwarteten: entweder die Waffen niederzulegen oder in die sowjetisch geführten polnischen Verbände einzutreten. Jedenfalls wurden keine autonomen polnischen Truppen im sowjetischen Hinterland geduldet. Die meisten Offiziere der AK weigerten sich, diesen Forderungen zu entsprechen. Viele wurden daher vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet. Einige führten ihre Truppen in die Wälder zurück und führten den bewaffneten Kampf nach 1945 gegen die sozialistische Regierung Polens weiter. Darin besteht die Grundlage für den heute in Polen gepflegten Mythos der »Verstoßenen Soldaten«.
Der Aufstand in Warschau reihte sich in die Logik dieser lokalen Aktionen ein, auch wenn es ursprünglich nicht vorgesehen war, das der Aktion »Gewitter« zugrundeliegende Konzept in der Großstadt umzusetzen. Die militärische Führung der AK wusste um die fehlenden Rückzugsräume und sah voraus, dass ein Aufstand in Warschau zu hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen würde.5 Doch im Sommer 1944 geriet die Londoner Exilregierung unter Zugzwang. Im Zuge der am 22. Juni begonnenen sowjetischen Sommeroffensive »Bagration« (benannt nach General Pjotr Bagration) war die deutsche Heeresgruppe Mitte innerhalb eines Monats vernichtet worden, und die Rote Armee war vom Osten der Belorussischen SSR 600 Kilometer weit nach Westen vorgedrungen. Ende Juli standen die sowjetischen Panzerspitzen 20 bis 30 Kilometer nordöstlich von Warschau. Den Polen blieb nicht verborgen, dass deutsche Stäbe und Trosseinheiten sowie Angehörige der Besatzungsverwaltung Ende Juli Warschau fluchtartig verließen. Das Ende der verhassten Okkupation schien unmittelbar bevorzustehen. In dem Attentat auf Hitler am 20. Juli sah die AK-Führung das Vorzeichen eines nahenden Zusammenbruchs des »Dritten Reiches«. Wichtiger noch: Am 22. Juli 1944 hatte im gerade erst befreiten Lublin ein »Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung« (PKWN) seine Tätigkeit als provisorische polnische Regierung aufgenommen, unterstützt von der Sowjetunion und zusammengesetzt aus Kadern der 1943 neu gegründeten Polnischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR).6 Damit bestand aus Sicht der Exilregierung die unmittelbare Gefahr, dass sie bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung im befreiten Polen keine Rolle mehr spielen würde. Ein Einzug der Sowjetarmee in ein von Anhängern der Londoner Regierung befreites Warschau wäre, so kalkulierte die Exilführung, ein nicht zu übergehendes politisches Signal. Man rechnete damit, dass sich die Aufständischen allenfalls ein paar Tage würden halten müssen, bevor ihnen die Sowjetarmee den deutschen Gegner vom Hals schaffen würde.
Doch ein weiteres Mal schlug die Kalkulation der Exilregierung fehl. Der sowjetische Vormarsch kam östlich von Warschau für einige Wochen zum Stehen. Eine deutsche Gegenoffensive mit Hilfe der eilends aus Italien herantransportierten Panzerdivision »Hermann Göring« warf die sowjetischen Truppen sogar um einige Dutzend Kilometer zurück. Nur die an der Seite der Sowjetunion kämpfenden Einheiten der Polnischen Volksarmee versuchten später, im September, an zwei Stellen Brückenköpfe am Westufer der Weichsel zu erobern und dem kämpfenden Warschau von dort aus zu Hilfe zu kommen. Doch das gelang nicht.
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Zwei Feinde
Die polnische Exilregierung vertrat nach dem Angriff der Wehrmacht am 1. September 1939 und der Aufteilung des Landes gemäß des Geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes die Theorie der »zwei Feinde«. Und man setzte darauf, dass, wie es das offizielle Informationsbulletin der AK am 26. Juni 1941 formulierte, »die Hand des einen Feindes die des anderen lähmen« werde: »Wir haben unsere Erwägungen immer auf die Annahme gestützt, dass das Reich aus dem Krieg mit Russland siegreich hervorgeht, und dass dieser Sieg die Republik (Polen, R. L.) retten wird. Dass also das Reich, bevor es selbst zusammenbricht, Polen dieses wunderbare Geschenk zum Tag der Befreiung machen wird.«2 Die Exilregierung ging davon aus, dass schließlich doch die Westalliierten das »Dritte Reich« besiegen und Polen befreien würden.
Das Problem war, dass diese Rechnung, so abenteuerlich sie schon im Ausgangspunkt war, nach den deutschen Niederlagen in Stalingrad und am Kursker Bogen endgültig jede Grundlage verloren hatte. Spätestens ab Mitte 1943 musste allen strategisch Denkenden klar sein, dass Polen über kurz oder lang von der Sowjetarmee befreit – oder, wie es die polnische Seite formulierte, erobert – werden würde. In der Nacht vom 2. zum 3. Januar 1944 überschritt die Rote Armee im Zuge ihrer Gegenoffensive bei Sarny in der Westukraine erstmals wieder die Vorkriegsgrenze zwischen beiden Staaten.
Diese Grenze war als Ergebnis des polnisch-Âsowjetischen Kriegs um die Ukraine 1921 im Frieden von Riga vereinbart worden. Sie verlief etwa 200 Kilometer östlich der heutigen polnischen Ostgrenze und machte Polen zum Nachbarland Lettlands im Norden und Rumäniens im Süden. Polen hatte sich in diesem Krieg über die Festlegungen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs hinweggesetzt, die eine nach ihrem britischen Urheber Lord Curzon benannte Grenzziehung gemäß den ethnischen Mehrheitsverhältnissen geplant hatten, und sich eigenmächtig ein zum überwiegenden Teil von nichtpolnischer Bevölkerung (Belorussen und Ukrainern, dazu vielen Juden) bewohntes Gebiet angeeignet. Der Grund war die Zielsetzung des zum Nationalisten gewendeten Exsozialisten Jozef Pilsudski, Polen als osteuropäisches Imperium wiederherzustellen, außerdem sein Interesse an einem antirussischen Pufferstaat in der Ukraine und schließlich der Wunsch, die objektiv anstehende Agrarreform in Polen zu vermeiden, indem im Osten Kolonialland gewonnen und dadurch der Handlungsdruck auf die Warschauer Regierung und die den Staat tragende polnische Grundbesitzerklasse gesenkt wurde. Die Westalliierten hatten Pilsudskis Eigenmächtigkeiten damals hingenommen, weil ihnen an Polen als einem antisowjetischen Bollwerk gelegen war. Aber anerkannt hatten sie diese Grenze immer nur de facto, nie de jure. Noch die britische Garantieerklärung für Polen vom Frühjahr 1939 bezog sich nur auf die staatliche Existenz Polens, nicht auf dessen damalige Grenzen. Wie britische Diplomaten polnischen Vertretern schon im Herbst 1939 deutlich machten, fühlten sie sich Polen gegenüber in Bezug auf die Sowjetunion zu nichts verpflichtet.3 Insbesondere die polnische Beteiligung an der Aufteilung der Tschechoslowakei im März 1939 war in London negativ aufgenommen worden. 1942 erklärte der britische Innenminister Herbert Morrison, ein Mann der Labour Party, dem polnischen Exilpolitiker Adam Ciolkosz, ebenfalls Sozialdemokrat, kurz und bündig: »Die Gebiete östlich der Curzon-Linie sind ihrer Natur nach umstritten, weil sie von Angehörigen mehrerer Nationalitäten bewohnt werden. Ansprüche auf solche Territorien nennen wir Imperialismus. Um aber Imperialist zu sein, muss man erstens entsprechende Gewaltmittel besitzen und zweitens das Geschick, die Gebiete zu regieren. Ihr Land hat nichts davon gezeigt. Sie versuchen, Ihre imperialistischen Ziele mit unseren Kräften zu erreichen.«4 Entsprechend war von Großbritannien und den USA wenig Widerstand zu erwarten, als die sowjetische Führung auf der Konferenz von Teheran Ende November 1943 klarmachte, dass sie auf dem 1939 erreichten Grenzverlauf gegenüber Polen bestehen und dem Land dafür einen Ausgleich in Gestalt der deutschen Ostgebiete verschaffen wollte. Das strategische Bündnis mit der Sowjetunion ging Briten und Amerikanern zu diesem Zeitpunkt noch vor.
Den Sowjets zuvorkommen
In dieser Situation stellte die Exilregierung den in den polnischen Ostgebieten operierenden Partisanenverbänden der AK die Aufgabe, nach Möglichkeit vor dem Eintreffen der sowjetischen Armee vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Aktion »Gewitter« sollte den Sowjets vor Augen führen, wer in der betreffenden Region »Hausherr« sei und auf wen folglich auch politisch Rücksicht genommen werden müsse. Solche polnischen Aufstände kurz vor der Befreiung gab es in Lwow (Lwiw), Wilna (Vilnius), im ländlichen Wolynien (heute Ukraine) und um Nowogrodek (Belarus). In der Regel arbeitete die Rote Armee taktisch mit den polnischen Partisanen zusammen, solange es gegen den gemeinsamen deutschen Gegner ging; sobald aber die sowjetischen Truppen die Region kontrollierten, machten sie den Polen deutlich, was sie von ihnen erwarteten: entweder die Waffen niederzulegen oder in die sowjetisch geführten polnischen Verbände einzutreten. Jedenfalls wurden keine autonomen polnischen Truppen im sowjetischen Hinterland geduldet. Die meisten Offiziere der AK weigerten sich, diesen Forderungen zu entsprechen. Viele wurden daher vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet. Einige führten ihre Truppen in die Wälder zurück und führten den bewaffneten Kampf nach 1945 gegen die sozialistische Regierung Polens weiter. Darin besteht die Grundlage für den heute in Polen gepflegten Mythos der »Verstoßenen Soldaten«.
Der Aufstand in Warschau reihte sich in die Logik dieser lokalen Aktionen ein, auch wenn es ursprünglich nicht vorgesehen war, das der Aktion »Gewitter« zugrundeliegende Konzept in der Großstadt umzusetzen. Die militärische Führung der AK wusste um die fehlenden Rückzugsräume und sah voraus, dass ein Aufstand in Warschau zu hohen Opfern unter der Zivilbevölkerung führen würde.5 Doch im Sommer 1944 geriet die Londoner Exilregierung unter Zugzwang. Im Zuge der am 22. Juni begonnenen sowjetischen Sommeroffensive »Bagration« (benannt nach General Pjotr Bagration) war die deutsche Heeresgruppe Mitte innerhalb eines Monats vernichtet worden, und die Rote Armee war vom Osten der Belorussischen SSR 600 Kilometer weit nach Westen vorgedrungen. Ende Juli standen die sowjetischen Panzerspitzen 20 bis 30 Kilometer nordöstlich von Warschau. Den Polen blieb nicht verborgen, dass deutsche Stäbe und Trosseinheiten sowie Angehörige der Besatzungsverwaltung Ende Juli Warschau fluchtartig verließen. Das Ende der verhassten Okkupation schien unmittelbar bevorzustehen. In dem Attentat auf Hitler am 20. Juli sah die AK-Führung das Vorzeichen eines nahenden Zusammenbruchs des »Dritten Reiches«. Wichtiger noch: Am 22. Juli 1944 hatte im gerade erst befreiten Lublin ein »Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung« (PKWN) seine Tätigkeit als provisorische polnische Regierung aufgenommen, unterstützt von der Sowjetunion und zusammengesetzt aus Kadern der 1943 neu gegründeten Polnischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR).6 Damit bestand aus Sicht der Exilregierung die unmittelbare Gefahr, dass sie bei der Gestaltung der Nachkriegsordnung im befreiten Polen keine Rolle mehr spielen würde. Ein Einzug der Sowjetarmee in ein von Anhängern der Londoner Regierung befreites Warschau wäre, so kalkulierte die Exilführung, ein nicht zu übergehendes politisches Signal. Man rechnete damit, dass sich die Aufständischen allenfalls ein paar Tage würden halten müssen, bevor ihnen die Sowjetarmee den deutschen Gegner vom Hals schaffen würde.
Doch ein weiteres Mal schlug die Kalkulation der Exilregierung fehl. Der sowjetische Vormarsch kam östlich von Warschau für einige Wochen zum Stehen. Eine deutsche Gegenoffensive mit Hilfe der eilends aus Italien herantransportierten Panzerdivision »Hermann Göring« warf die sowjetischen Truppen sogar um einige Dutzend Kilometer zurück. Nur die an der Seite der Sowjetunion kämpfenden Einheiten der Polnischen Volksarmee versuchten später, im September, an zwei Stellen Brückenköpfe am Westufer der Weichsel zu erobern und dem kämpfenden Warschau von dort aus zu Hilfe zu kommen. Doch das gelang nicht.
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»Komm, rote Pest«
Es ist in der Forschung und historischen Publizistik viel darüber diskutiert worden, was die Sowjetunion Ende Juli 1944 veranlasste, von der sofortigen Eroberung Warschaus abzusehen. Das vorherrschende Argument auf westlicher Seite lautet: Stalin habe die Aufständischen zynisch verbluten lassen, um sich durch die Hand der Nazis der politischen Konkurrenz zu entledigen. Von sowjetischer und heute russischer Seite wird dagegengehalten, dass die sowjetischen Truppen nach einem Monat pausenloser Offensive physisch erschöpft gewesen seien. Noch sind nicht alle sowjetischen Akten aus jener Zeit für die Forschung freigegeben, bekannt ist aber, dass Stalin Anfang August die Marschälle Georgi Schukow und Konstantin Rokossowski einen Plan für eine Zangenoperation zur Umfassung von Warschau ausarbeiten ließ. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass eine solche Operation ab dem 22. August hätte beginnen können. Der Angriffsbefehl unterblieb jedoch, weshalb viele Historiker vermuten, es habe sich um eine Eventualplanung für den Fall gehandelt, dass der in den ersten Augusttagen in Moskau weilende Chef der polnischen Exilregierung, Stanislaw Mikolajczyk, zu politischen Zugeständnissen in der Grenzfrage und bei der Zusammensetzung einer Regierung der Nationalen Einheit bereit gewesen wäre. Nachdem Mikolajczyk diese Zugeständnisse nicht gemacht hatte – sie hätten ihn im Londoner Exilmilieu politisch den Kopf gekostet –, habe Stalin seinerseits den Plan für die Spätsommeroffensive ad acta gelegt und sich entschlossen, weiter keine Rücksicht auf die Exilregierung zu nehmen. Die Sowjetunion bezeichnete den Aufstand in einer TASS-Meldung vom 13. August 1944, drei Tage nach Mikolajczyks Abreise von Moskau, als ein – und das war ja nicht einmal falsch – nicht mit ihr abgesprochenes »Abenteuer«.7 Mit einer Ausnahme verweigerte sie auch die Nutzung sowjetischer Flugplätze für Zwischenlandungen US-amerikanischer Flugzeuge mit Nachschub für die Aufständischen. Erst im September eroberten sowjetische Truppen den östlich der Weichsel gelegenen Teil von Warschau. Da waren die Aufständischen aber militärisch schon geschlagen, die Polen kämpften nur noch ums Überleben.
Vermutlich hätte die Sowjetunion bei allem Verständnis für den abgekämpften Zustand ihrer Truppen mehr zur Unterstützung des Aufstands tun können, wenn sie gewollt hätte. Wobei die Anhänger der Version von Stalins Verrat an den Aufständischen nicht erklären können, warum sie hätte wollen sollen: Eigene Soldaten zu gefährden, um einer Mannschaft an die Macht zu verhelfen, von der sie nichts als Gegnerschaft zu erwarten gehabt hätte und von der aus der Vorkriegszeit bekannt war, dass sie sowjetische Unterstützung für die von der Aufteilung bedrohte Tschechoslowakei durch die Verweigerung des Transits sowjetischer Truppen blockiert hatte. Welche Gefühle die meisten Kämpfer des Warschauer Aufstands für die Sowjetunion hegten, geht aus einem berühmten Gedicht Jozef Szczepanski hervor, das in der Spätphase des Aufstands entstand: »Komm, rote Pest«, heißt es dort in der ersten von zwölf Strophen, »und erlöse uns von dem schwarzen Tod«. In der letzten dann ist zu lesen: »Aber wisse, dass aus unseren Gräbern / Ein neues Polen entstehen wird, / Auf dessen Boden nicht du gehen wirst, / Roter Beherrscher entfesselter Gewalt.«8
Die Entscheidung, entgegen den eigenen früheren Planungen und trotz besserer Einsicht in die militärischen Kräfteverhältnisses den Aufstand zu wagen, trägt alle Züge einer Improvisation in aussichtsloser Lage. Der Heldenmut der Aufständischen musste herhalten, um das Wunschdenken der Exilführung in die Tat umzusetzen. Unter den militärischen Befehlshabern des Aufstands war post festum die Auffassung verbreitet, auch wenn der Aufstand fehlgeschlagen sei, so sei er doch eine Anklage an das Gewissen der Welt.
Wirkmächtiges Trauma
Heute zählt der Warschauer Aufstand zu den Mythen der polnischen Geschichtspolitik. Vertreten wird die Lesart, dass die Aufständischen im Jahr 1989 doch noch gesiegt hätten. So wird versucht, dem massenhaften Sterben einen historischen Sinn zu verleihen. Wesentlich wirkmächtiger war aber etwas anderes: Das Trauma des unter furchtbaren Verlusten fehlgeschlagenen Aufstands prägte die polnische Nachkriegspolitik in allen politischen Lagern. 1956 diente die Erinnerung an 1944 als Warnung, die verhinderte, dass es im Zuge der Entstalinisierung zu einer Situation ähnlich der in Ungarn – also der offenen und gewaltsam niedergeschlagenen Konterrevolution – kam. Die polnische Parteiführung suchte gegenüber der nationalistischen Opposition zu deeskalieren und nominierte den 1949 wegen »nationalistischer Abweichung« seiner Posten enthobenen Wladyslaw Gomulka als Parteichef, und der redete Nikita Chruschtschow den Einsatz sowjetischer Truppen aus. 25 Jahre später argumentierte General Wojciech Jaruzelski damit, dass die Einführung des Kriegsrechts das kleinere Übel gegenüber dem Risiko einer sowjetischen Intervention – und der gewaltsamen Niederschlagung polnischen Widerstands dagegen – sei. Quellenbelege dafür, dass die UdSSR damals wirklich einmarschiert wäre, sind bisher nicht aufgetaucht, aber man kann Jaruzelski auch nicht absprechen, dass er diese Befürchtung hegen konnte. Selbst der Umstand, dass der polnische Realsozialismus 1989 im Wege eines »Historischen Kompromisses« zwischen der Solidarnosc und einer Partei, die ihr Projekt selbst als gescheitert ansah, beendet wurde, ist von Vertretern beider Seiten mit der Erinnerung an den Warschauer Aufstand und seine vielen letztlich nutzlosen Opfer verbunden worden.
Anmerkungen:
1 Vgl. Piotr Gursztyn: Der vergessene Völkermord. Das Massaker von Wola in Warschau 1944, Berlin 2019
2 Zit. n. Jacek Owczarski: Romantycy kontra realisci. Polska krwawiaca 1944–1948, (Romantiker gegen Realisten. Wie Polen ausblutete 1944–1948). In: Pawel Dybicz (Hg.): Zaklamana historia powstania (Wie über die Geschichte des Aufstands gelogen wird), Warszawa 2014, S. 167 ff., hier: S. 201. Vgl. auch die in der Aussage identische Ausgabe des Informationsbulletins vom 3. Juli 1941, online unter: Link ...jetzt anmelden!Âdoccontent?id=4104&di-
rids=1
3 Vgl. Norman Davies: Powstanie 1944, Kraków 2004, S. 52 ff., insb. S. 57 f. Deutsche Ausgabe des Buches als »Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944«, München 2004
4 Zit. n. Owczarski, a. a. O., S. 175. Der gegenüber Polen betont freundliche Norman Davies fasst die wachsende Entfremdung zwischen Großbritannien und der polnischen Exilregierung in die Metapher, der »erste Verbündete« sei nicht im Stich gelassen worden, aber er habe »allen Anlass gehabt, sich vernachlässigt zu fühlen«. Das britisch-polnische Paar habe »getrennt gelebt«. (S. 55)
5 Vgl. Wlodzimierz Borodziej: Der Warschauer Aufstand. In: Bernhard Chiari (Hg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, S. 217–256, hier: S. 218
6 Die Vorkriegs-PPR war 1937 von sowjetischer Seite unter dem Vorwurf des Trotzkismus und wegen angeblicher Durchsetzung mit Agenten aufgelöst worden.
7 Borodziej, a. a. O., S. 233
8 Zit. n. Davies: Powstanie, a. a. O., S. 909 f.
»Komm, rote Pest«
Es ist in der Forschung und historischen Publizistik viel darüber diskutiert worden, was die Sowjetunion Ende Juli 1944 veranlasste, von der sofortigen Eroberung Warschaus abzusehen. Das vorherrschende Argument auf westlicher Seite lautet: Stalin habe die Aufständischen zynisch verbluten lassen, um sich durch die Hand der Nazis der politischen Konkurrenz zu entledigen. Von sowjetischer und heute russischer Seite wird dagegengehalten, dass die sowjetischen Truppen nach einem Monat pausenloser Offensive physisch erschöpft gewesen seien. Noch sind nicht alle sowjetischen Akten aus jener Zeit für die Forschung freigegeben, bekannt ist aber, dass Stalin Anfang August die Marschälle Georgi Schukow und Konstantin Rokossowski einen Plan für eine Zangenoperation zur Umfassung von Warschau ausarbeiten ließ. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass eine solche Operation ab dem 22. August hätte beginnen können. Der Angriffsbefehl unterblieb jedoch, weshalb viele Historiker vermuten, es habe sich um eine Eventualplanung für den Fall gehandelt, dass der in den ersten Augusttagen in Moskau weilende Chef der polnischen Exilregierung, Stanislaw Mikolajczyk, zu politischen Zugeständnissen in der Grenzfrage und bei der Zusammensetzung einer Regierung der Nationalen Einheit bereit gewesen wäre. Nachdem Mikolajczyk diese Zugeständnisse nicht gemacht hatte – sie hätten ihn im Londoner Exilmilieu politisch den Kopf gekostet –, habe Stalin seinerseits den Plan für die Spätsommeroffensive ad acta gelegt und sich entschlossen, weiter keine Rücksicht auf die Exilregierung zu nehmen. Die Sowjetunion bezeichnete den Aufstand in einer TASS-Meldung vom 13. August 1944, drei Tage nach Mikolajczyks Abreise von Moskau, als ein – und das war ja nicht einmal falsch – nicht mit ihr abgesprochenes »Abenteuer«.7 Mit einer Ausnahme verweigerte sie auch die Nutzung sowjetischer Flugplätze für Zwischenlandungen US-amerikanischer Flugzeuge mit Nachschub für die Aufständischen. Erst im September eroberten sowjetische Truppen den östlich der Weichsel gelegenen Teil von Warschau. Da waren die Aufständischen aber militärisch schon geschlagen, die Polen kämpften nur noch ums Überleben.
Vermutlich hätte die Sowjetunion bei allem Verständnis für den abgekämpften Zustand ihrer Truppen mehr zur Unterstützung des Aufstands tun können, wenn sie gewollt hätte. Wobei die Anhänger der Version von Stalins Verrat an den Aufständischen nicht erklären können, warum sie hätte wollen sollen: Eigene Soldaten zu gefährden, um einer Mannschaft an die Macht zu verhelfen, von der sie nichts als Gegnerschaft zu erwarten gehabt hätte und von der aus der Vorkriegszeit bekannt war, dass sie sowjetische Unterstützung für die von der Aufteilung bedrohte Tschechoslowakei durch die Verweigerung des Transits sowjetischer Truppen blockiert hatte. Welche Gefühle die meisten Kämpfer des Warschauer Aufstands für die Sowjetunion hegten, geht aus einem berühmten Gedicht Jozef Szczepanski hervor, das in der Spätphase des Aufstands entstand: »Komm, rote Pest«, heißt es dort in der ersten von zwölf Strophen, »und erlöse uns von dem schwarzen Tod«. In der letzten dann ist zu lesen: »Aber wisse, dass aus unseren Gräbern / Ein neues Polen entstehen wird, / Auf dessen Boden nicht du gehen wirst, / Roter Beherrscher entfesselter Gewalt.«8
Die Entscheidung, entgegen den eigenen früheren Planungen und trotz besserer Einsicht in die militärischen Kräfteverhältnisses den Aufstand zu wagen, trägt alle Züge einer Improvisation in aussichtsloser Lage. Der Heldenmut der Aufständischen musste herhalten, um das Wunschdenken der Exilführung in die Tat umzusetzen. Unter den militärischen Befehlshabern des Aufstands war post festum die Auffassung verbreitet, auch wenn der Aufstand fehlgeschlagen sei, so sei er doch eine Anklage an das Gewissen der Welt.
Wirkmächtiges Trauma
Heute zählt der Warschauer Aufstand zu den Mythen der polnischen Geschichtspolitik. Vertreten wird die Lesart, dass die Aufständischen im Jahr 1989 doch noch gesiegt hätten. So wird versucht, dem massenhaften Sterben einen historischen Sinn zu verleihen. Wesentlich wirkmächtiger war aber etwas anderes: Das Trauma des unter furchtbaren Verlusten fehlgeschlagenen Aufstands prägte die polnische Nachkriegspolitik in allen politischen Lagern. 1956 diente die Erinnerung an 1944 als Warnung, die verhinderte, dass es im Zuge der Entstalinisierung zu einer Situation ähnlich der in Ungarn – also der offenen und gewaltsam niedergeschlagenen Konterrevolution – kam. Die polnische Parteiführung suchte gegenüber der nationalistischen Opposition zu deeskalieren und nominierte den 1949 wegen »nationalistischer Abweichung« seiner Posten enthobenen Wladyslaw Gomulka als Parteichef, und der redete Nikita Chruschtschow den Einsatz sowjetischer Truppen aus. 25 Jahre später argumentierte General Wojciech Jaruzelski damit, dass die Einführung des Kriegsrechts das kleinere Übel gegenüber dem Risiko einer sowjetischen Intervention – und der gewaltsamen Niederschlagung polnischen Widerstands dagegen – sei. Quellenbelege dafür, dass die UdSSR damals wirklich einmarschiert wäre, sind bisher nicht aufgetaucht, aber man kann Jaruzelski auch nicht absprechen, dass er diese Befürchtung hegen konnte. Selbst der Umstand, dass der polnische Realsozialismus 1989 im Wege eines »Historischen Kompromisses« zwischen der Solidarnosc und einer Partei, die ihr Projekt selbst als gescheitert ansah, beendet wurde, ist von Vertretern beider Seiten mit der Erinnerung an den Warschauer Aufstand und seine vielen letztlich nutzlosen Opfer verbunden worden.
Anmerkungen:
1 Vgl. Piotr Gursztyn: Der vergessene Völkermord. Das Massaker von Wola in Warschau 1944, Berlin 2019
2 Zit. n. Jacek Owczarski: Romantycy kontra realisci. Polska krwawiaca 1944–1948, (Romantiker gegen Realisten. Wie Polen ausblutete 1944–1948). In: Pawel Dybicz (Hg.): Zaklamana historia powstania (Wie über die Geschichte des Aufstands gelogen wird), Warszawa 2014, S. 167 ff., hier: S. 201. Vgl. auch die in der Aussage identische Ausgabe des Informationsbulletins vom 3. Juli 1941, online unter: Link ...jetzt anmelden!Âdoccontent?id=4104&di-
rids=1
3 Vgl. Norman Davies: Powstanie 1944, Kraków 2004, S. 52 ff., insb. S. 57 f. Deutsche Ausgabe des Buches als »Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944«, München 2004
4 Zit. n. Owczarski, a. a. O., S. 175. Der gegenüber Polen betont freundliche Norman Davies fasst die wachsende Entfremdung zwischen Großbritannien und der polnischen Exilregierung in die Metapher, der »erste Verbündete« sei nicht im Stich gelassen worden, aber er habe »allen Anlass gehabt, sich vernachlässigt zu fühlen«. Das britisch-polnische Paar habe »getrennt gelebt«. (S. 55)
5 Vgl. Wlodzimierz Borodziej: Der Warschauer Aufstand. In: Bernhard Chiari (Hg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, S. 217–256, hier: S. 218
6 Die Vorkriegs-PPR war 1937 von sowjetischer Seite unter dem Vorwurf des Trotzkismus und wegen angeblicher Durchsetzung mit Agenten aufgelöst worden.
7 Borodziej, a. a. O., S. 233
8 Zit. n. Davies: Powstanie, a. a. O., S. 909 f.
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