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•NEUES THEMA22.08.2006, 17:57 Uhr
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Lars | |
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• Bertolt Brecht über den 17. Juni 1953
Brief von Bertolt Brecht an seinen Verleger Suhrkamp
"Lieber Suhrkamp,
Sie fragen nach meiner Stellungnahme zu den Vorkomnissen des 16. und 17. Juni. Handelte es sich um einen Volksaufstand, um den Versuch, "die Freiheit zu erlangen", wie der überwältigende Teil der westdeutschen Presse behauptet?
Bin ich einem Volksaufstand gleichgültig oder gar feindselig gegenübergestanden, habe ich mich gegen die Freiheit gestellt, als ich am 17. Juni in einem Brief an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, von dem der Schlußsatz veröffentlich wurde, [mich] bereit erklärte, bei der unbedingt nötigen Aussprache zwischen Arbeiterschaft und Regierung in meiner Weise (in künstlerischer Form) mitzuwirken?
- ich habe drei Jahrzehnte lang in meinen Schriften die Sache der Arbeiter zu vertreten versucht. Aber ich habe in der Nacht des 16. und am Vormittag des 17. Juni die erschütternden Demonstrationen der Arbeiter übergehen sehen in etwas sehr anderer als den Versuch, für sich die Freiheit zu erlangen. Sie waren zu Recht erbittert. Die unglücklichen und unklugen Maßnahmen der Regierung, die bezwecken sollten, überstürzt auf dem Gebiet der DDR eine Schwerindustrie aufzubauen, brachten zur gleichen Zeit Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, Arbeiter und Intellektuzelle gegen sie auf. Eine Mißernte im borigen Jahr, verursacht durch eine große Trockenheit, und die Landflucht von Hunderttausenden von Bauern dieses Jahr bedrohten die Ernährung aller Schichten der Bevölkerung zugleich.
Maßnahmen wie der Entzug der Lebensmittelkarten für Kleingewerbetreibende stellten ihre nackte Existenz in Frage. Andere Maßnahmen, wie die Anrechnung des Krankenurlaubs auf den Erholungsurlaub, Streichung der Vergünstigungen für Arbeiterfahrkarten und die generelle Erhöhung der Normen bei gleichbleibenden oder sich sogar erhöhenden Lebenskosten trieben die Arbeiterschaft, deren Gewertkschaften nur schwächlich arbeiteten und ihrer Position nach nur schwächlich arbeiten konnten, schließlich auf die Straße und ließen sie die unzweifelhaft großen Vorteile vergessen, welche die Vertreibung der Junker, die Vergesellschaftung der Hitlerschen Kriegsindustrie, die Planung der Produktion und die Zerschmetterung des bürgerlichen Bildungsmonopols ihnen verschafft hatten Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni auf groteske Art mit alllerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleußt wurden, aber auch mit den scharfen, burtalen Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren.
Die Parolen verwandelten sich rapide. Aus "Weg mit der Regierung" wurde "Hängt sie!", und der Bürgersteig übernahm die Regie. Gegen Mittag, als auch in der der DDR, in Leipzig, Halle, Dresden, sich Demonstrationen in Unruhen verwandelt hatten, begann das Feuer seine alte Rolle wieder aufzunehmen.
Von den Linden aus konnte man die Rauchwolke des Columbushauses, an der Sektorengrenze des Potsdamer Platzes liegend, sehen, wie an einem vergangenen Unglückstag einmal die Rauchwolke des Reichstgasgebäudes. Heute wie damals hatten nicht Arbeiter das Feuer gelegt; es ist nicht die Waffe derer, die bauen. Dann wurden - hier wie in anderen Städten - Buchhandlungen gestürmt und Bücher herausgeworfen und verbrannt, und die Marx- und Engels-Bände, die in Flammen aufgingen, waren ebensowenig arbeiterfeindlich wie die roten Fahnen, die öffentlich zerrissen wurden. (Auf den Fotos, die in der westdeutschen Presse veröffentlicht wurden, können Sie ohne Vergrößerungsglas sehen, wer die Fahnen zerriss...)
Und den ganzen Tag kamen über den RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren die "Kräfte" am Werk, die Tag und Nacht an das Wohlergehen
[...]
"Lieber Suhrkamp,
Sie fragen nach meiner Stellungnahme zu den Vorkomnissen des 16. und 17. Juni. Handelte es sich um einen Volksaufstand, um den Versuch, "die Freiheit zu erlangen", wie der überwältigende Teil der westdeutschen Presse behauptet?
Bin ich einem Volksaufstand gleichgültig oder gar feindselig gegenübergestanden, habe ich mich gegen die Freiheit gestellt, als ich am 17. Juni in einem Brief an die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, von dem der Schlußsatz veröffentlich wurde, [mich] bereit erklärte, bei der unbedingt nötigen Aussprache zwischen Arbeiterschaft und Regierung in meiner Weise (in künstlerischer Form) mitzuwirken?
- ich habe drei Jahrzehnte lang in meinen Schriften die Sache der Arbeiter zu vertreten versucht. Aber ich habe in der Nacht des 16. und am Vormittag des 17. Juni die erschütternden Demonstrationen der Arbeiter übergehen sehen in etwas sehr anderer als den Versuch, für sich die Freiheit zu erlangen. Sie waren zu Recht erbittert. Die unglücklichen und unklugen Maßnahmen der Regierung, die bezwecken sollten, überstürzt auf dem Gebiet der DDR eine Schwerindustrie aufzubauen, brachten zur gleichen Zeit Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, Arbeiter und Intellektuzelle gegen sie auf. Eine Mißernte im borigen Jahr, verursacht durch eine große Trockenheit, und die Landflucht von Hunderttausenden von Bauern dieses Jahr bedrohten die Ernährung aller Schichten der Bevölkerung zugleich.
Maßnahmen wie der Entzug der Lebensmittelkarten für Kleingewerbetreibende stellten ihre nackte Existenz in Frage. Andere Maßnahmen, wie die Anrechnung des Krankenurlaubs auf den Erholungsurlaub, Streichung der Vergünstigungen für Arbeiterfahrkarten und die generelle Erhöhung der Normen bei gleichbleibenden oder sich sogar erhöhenden Lebenskosten trieben die Arbeiterschaft, deren Gewertkschaften nur schwächlich arbeiteten und ihrer Position nach nur schwächlich arbeiten konnten, schließlich auf die Straße und ließen sie die unzweifelhaft großen Vorteile vergessen, welche die Vertreibung der Junker, die Vergesellschaftung der Hitlerschen Kriegsindustrie, die Planung der Produktion und die Zerschmetterung des bürgerlichen Bildungsmonopols ihnen verschafft hatten Die Straße freilich mischte die Züge der Arbeiter und Arbeiterinnen schon in den frühen Morgenstunden des 17. Juni auf groteske Art mit alllerlei deklassierten Jugendlichen, die durch das Brandenburger Tor, über den Potsdamer Platz, auf der Warschauer Brücke kolonnenweise eingeschleußt wurden, aber auch mit den scharfen, burtalen Gestalten der Nazizeit, den hiesigen, die man seit Jahren nicht mehr in Haufen hatte auftreten sehen und die doch immer dagewesen waren.
Die Parolen verwandelten sich rapide. Aus "Weg mit der Regierung" wurde "Hängt sie!", und der Bürgersteig übernahm die Regie. Gegen Mittag, als auch in der der DDR, in Leipzig, Halle, Dresden, sich Demonstrationen in Unruhen verwandelt hatten, begann das Feuer seine alte Rolle wieder aufzunehmen.
Von den Linden aus konnte man die Rauchwolke des Columbushauses, an der Sektorengrenze des Potsdamer Platzes liegend, sehen, wie an einem vergangenen Unglückstag einmal die Rauchwolke des Reichstgasgebäudes. Heute wie damals hatten nicht Arbeiter das Feuer gelegt; es ist nicht die Waffe derer, die bauen. Dann wurden - hier wie in anderen Städten - Buchhandlungen gestürmt und Bücher herausgeworfen und verbrannt, und die Marx- und Engels-Bände, die in Flammen aufgingen, waren ebensowenig arbeiterfeindlich wie die roten Fahnen, die öffentlich zerrissen wurden. (Auf den Fotos, die in der westdeutschen Presse veröffentlicht wurden, können Sie ohne Vergrößerungsglas sehen, wer die Fahnen zerriss...)
Und den ganzen Tag kamen über den RIAS, der sein Programm kassiert hatte, anfeuernde Reden, das Wort Freiheit von eleganten Stimmen gesprochen. Überall waren die "Kräfte" am Werk, die Tag und Nacht an das Wohlergehen
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•NEUER BEITRAG22.08.2006, 17:57 Uhr
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Lars | |
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der Arbeiter und der "kleinen Leute" denken und jenen hohen Lebensstandard versprechen, der am Ende dann immer zu einem hohen Todesstandard führt. Da schien es große Leute zu geben, die bereit waren, die Arbeiter von der Straße direkt in die Freiheit der Munitionsfabriken zu führen. Mehrere Stunden lang, bis zum Eingreifen der Besatzungsmacht, stad Berlin am Rand eines dritten Weltkriegs.
Lieber Suhrkamp, machen wir uns nichts vor: Nicht nur im Westen, auch hier im Osten Deutschlands sind "die Kräfte" wieder am Werk. Ich habe an diesem tragischen 17. Juni beobachtet, wie der Bürgersteig auf die Straße das "Deutschlandlied" warf und die Arbeiter es mit der "Internationale" niederstimmten. Aber sie kamen, verwirrt und hilflos, nicht durch damit.
Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands hat Fehler begangen, die für eine sozialistische Partei sehr schwerwigend sind und Arbeiter, darunter auch alte Sozialisten, gegen sie aufbrachten. Ich gehöre ihr nicht an. Aber ich respektiere viele ihrer historischen Errungenschaften, und ich fühlte mich ihr verbunden, als sie - nicht ihrer Fehler, sondern ihrer Vorzüge wegen - von faschistischem und kriegstreiberischem Gesindel angegriffen wurde. Im Kampf gegen Krieg und Faschismus stehe ich an ihrer Seite."
[ENDE]
•NEUER BEITRAG22.08.2006, 21:53 Uhr
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hw | |
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•NEUER BEITRAG04.12.2011, 17:31 Uhr
Nutzer / in | ||
dytns | ||
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•NEUER BEITRAG04.12.2011, 17:33 Uhr
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dytns | ||
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•NEUER BEITRAG27.07.2012, 08:24 Uhr
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dytns | ||
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•NEUER BEITRAG27.07.2012, 09:02 Uhr
Nutzer / in | ||
Erika | ||
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Der Brief von Brecht ist ein Brief mit einem bestimmten Zweck, und dafür ist er sicherlich gut. Man sollte aber nicht den wichtigen Fakt vergessen, dass die Streiks von Berlin aus, wo sich SPD und DGB wegem der Besonderheit Berlins (Viermächtestatus) legal betätigen konnten (auch im demokratischen Sektor bzw. Hauptstadt der DDR), von deren Ostbüros organisiert wurden, und dass sie auf dem ökonomischen und Lohnarbeiterbewusstsein eines Großteils der Arbeiter, die noch die Demoralisierung des Faschismus in den Knochen hatten, aufbauen konnten. Brecht wird sicherlich Gründe gehabt haben, bestimmte Dinge nicht zu sagen, aber es ist nun mal kein Geheimnis, dass die Reden, die vom RIAS aus gehalten wurden, maßgeblich von Gewerkschaftsführern des DGB gehalten wurden.
•NEUER BEITRAG06.08.2012, 19:57 Uhr
EDIT: dytns
06.08.2012, 20:02 Uhr
06.08.2012, 20:02 Uhr
Nutzer / in | ||
dytns | ||
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* Der 17. Juni 1953 und seine Vorgeschichte: Link ...jetzt anmelden!
* Wie ich den 17. Juni 1953 erlebte. Von Georg Dorn: Link ...jetzt anmelden!
*„Die Ereignisse des 17. Juni 1953 waren eine Konterrevolution“ – Zeitzeugengespräch mit Harald Holtz. Über die Geschehnisse und feindlichen Aktivitäten rund um den 17. Juni 1953 und über die Hintergründe der Errichtung des Antifaschistischen Schutzwalls am 13. August 1961:
Link ...jetzt anmelden! Einheit, November 2011, Seiten 13–17
* Zwei interessante Erlebnisberichte zum 17. Juni 1953: Link ...jetzt anmelden!
•NEUER BEITRAG13.05.2013, 19:04 Uhr
Nutzer / in | |
joe123 | |
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Hier gings ja um Brecht und den 17.Juni. Der Suhrkamp-Brief ist natürlich wichtig gegen die Bourgeoisie zu halten, die aber nicht ohne Brechts Hilfe stets genüsslich seine Worte von der Regierung, die sich ihr Volk wählen soll, und Ähnliches zitiert. Auch Brechts Brief steht im Zeichen gewisser Rücksichtnahmen auf die teils in der SED organisierte sozialdemokratische Arbeiterschaft und überbetont daher die faschistischen Elemente vom 17.Juni in einer streng analytisch nicht haltbaren Weise.
Für diesen ganzen Komplex ist wichtig zu wissen, dass Grotewohls Einschätzung vom Abend des 17.Juni, dass es sich um einen faschistischen Putschversuch handele, schon am 18.Juni revidiert wurde zugunsten "konterrevolutionärer Putschversuch". Die SED hat seither die Faschisten nur als Element IM Putschversuch bezeichnet. Inwieweit sie die SPD(Ostbüros) offen angegriffen hat oder angreifen konnte oder nicht konnte, weiß ich aber nicht.
Alles in allem sollte man daher nicht übersehen, inwieweit sich bei Brecht nach dem 17.Juni gewisse ideologische Schwächen kundtaten. Der Brief selbst stellt die nicht nach vorne, und gerade zu 17.Junis kann man ihn immer wieder gut gebrauchen.
• Hier gibt's was extra: mehr Debatten aus den www.secarts.org-Foren
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