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NEUES THEMA05.11.2007, 07:33 Uhr
Nutzer / in
Hanfried Müller
GAST
• Das aufgebrochene Tor Was ich neunzig Jahre danach von der Oktoberrevolution denke, soll ich aufschreiben: Gedanken eines durch und durch bürgerlichen Menschen, der aber, während des Absturzes seiner Klasse in den Faschismus zum Antinazi erzogen, das Vertrauen in die Geschichtsfähigkeit seiner Klasse verloren hatte und im Zuge antifaschistischer Besinnung zu so etwas wie einem Kommunisten geworden ist.

Und das auf knapp zwei Seiten! Sind zwei Seiten nicht doch etwas zu wenig Raum dafür? Immerhin: ich will es, betont subjektiv versuchen. Dazu einige Gedankensplitter:


Befreiung und Selbstbefreiung

[communism2.jpg]In gewissem Sinne begann für mich die Geschichte (nicht als Datensammlung, sondern als Verantwortungsbereich) mit meiner Kriegsgefangenschaft im Mai 1945, für mich der „Tag der Befreiung“. Dass es gar nicht sehr viele waren, für die der 8. Mai ein „Tag der Befreiung“ war, habe ich damals kaum bemerkt. Für die übergroße Mehrheit der von den deutschen Faschisten überfallenen Völker war es vielmehr der „Tag des Sieges“, auch für die aktiven deutschen Widerstandskämpfer!

Denn, sofern sie in diesen Tagen tatsächlich aus Konzentrationslagern, Gefängnissen und Illegalität befreit wurden, war diese Befreiung für sie doch der Sieg ihrer eigenen Sache, ihrer Freunde und Genossen. Für die meisten Deutschen aber war dieser Tag, das merkte ich schon bald nach meiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Hochsommer 1945, der Tag der „Kriegsniederlage Deutschlands“, kein Freuden- sondern ein Trauertag, und das je länger desto mehr!

Für diejenigen, die sich im ernstlichen Sinne des Wortes durch den Sieg der Antihitlerkoalition vom Faschismus befreit fühlten, begann nun eine Periode der Selbstbefreiung von den präfaschistischen und faschistischen Rückständen auch in ihrem Bewusstsein. Dabei reiften sie aus bürgerlichen Antinazis zu Antifaschisten. Dieser Prozess vollzog sich in der „Schulddebatte“, in der evangelischen Kirche insbesondere durch Martin Niemöller angestoßen und 1947 im Darmstädter Bruderratswort „Zum politischen Weg unseres Volkes“ ausgereift. Da war zum ersten Mal von der innenpolitischen Schuld der deutschen Bourgeoisie gegenüber dem Sozialismus die Rede. Zwar hatten die Verfasser dabei wohl insbesondere an Sozialdemokraten gedacht; wir Jungen aber verstanden darunter bereits vor allem die Kommunisten, die wir als Avantgarde im Kampf gegen die westdeutsche Remilitarisierung kennen und schätzen lernten und mit denen wir in diesem Kampf mehr und mehr zusammenwuchsen. Mit dieser Bewegung und Begegnung begann mein Interesse an der und meine Sympathie für die Oktoberrevolution.

[tabbox]
Rund zehn Jahres später, im Frühsommer 1956, wurden meine Frau und ich zu einer (meiner einzigen) Reise in die SU eingeladen. Wir fuhren in einem Jugendzug der FDJ. Von uns abgesehen war er mit jungen Mitarbeitern aus dem Ministerium des Innern der DDR besetzt. Die Tragödie des XX. Parteitages der KPdSU lag schon einige Monate zurück, in Moskau allerdings merkte man eigentlich kaum etwas davon. Ich erwähne diese Reise hier nur darum, weil ich mich daran erinnere, dass ich unsere Mitreisenden (sie schienen bei einem Theologen allerdings alles für möglich zu halten und bereit, auch Unmögliches zu tolerieren) bei der Besichtigung der Landwirtschaftsausstellung mit meiner naiven Feststellung verblüffte, mir ginge auf, dass Lenin zwar eine sozialistische Revolution habe machen wollen, tatsächlich aber einen Bauernkrieg gewonnen habe. So absurd, wie das auch mir viele Jahre lang erschien, war dieser spontane Eindruck allerdings wohl nicht. Die Oktoberrevolution hatte ja wirklich nicht nur mit dem Dekret zum Frieden, sondern auch mit dem über Grund und Boden begonnen. Chruschtschow allerdings verschob nach der Delegitimierung Stalins die sozial-politische Balance im Arbeiter- und Bauernbündnis - bucharinistisch? - einseitig in agrarpolitische Richtung und brach damit dem proletarischen Elan das Genick.

Frühsozialismus oder Frühkommunismus?

Inzwischen ist nun das offenkundige Ergebnis der Oktoberrevolution, die Sowjetunion und das um sie gescharte sozialistische Lager, der Konterrevolution erlegen. Und nun kann, in der Dämmerung erst, wie Hegel meinte, die Eule der Minerva ihren Flug beginnen.

Seit langem, seitdem in der SU 1953 die Neigung entstand, nicht so sehr über Stalin hinausals vielmehr hinter ihn zurückzugehen, traten Mängel der sozialistischen Gesellschaft immer deutlicher in Erscheinung. Statt sie im Fortschreiten zu überwinden, wurden sie zur Munition von Renegaten oder einfach geleugnet. Kritiker standen vor dem Problem, diesen Weg, der von Chruschtschow zu Gorbatschow führte, so zu attackieren, dass ihre Kritik nicht antisowjetisch wirkte. Darum haben wir in den Weißenseer Blättern den „realen Sozialismus“ gelegentlich entschuldigend als „Frühsozialismus“ bezeichnet. Das war ein Missgriff in der Begriffswahl. Dahinter stand die Erinnerung an die erste Phase der bürgerlichen Revolution, in der der Feudalismus zuerst politisch und ideologisch zutiefst erschüttert, aber noch nicht überwinden wurde, also an die „frühbürgerliche“ Revolution im 16. Jahrhundert, und dann an die Reife der bürgerlichen Revolution im 18. Jahrhundert, als sich die Produktionsweise (an die Stelle der Manufaktur war mit der Dampfmaschine die moderne Industrie), die herrschende Klasse (an die Stelle von Adel und Patriziern waren Kapitalisten) und die revolutionäre Klasse (an die Stelle der Plebejer und Bauern waren „freie“ Lohnarbeiter getreten) grundlegend verändert hatte. Die Entlehnung des Begriffs „frühsozialistisch“ aus der bürgerlichen Revolutionsgeschichte war allerdings verfehlt und darum verwirrend; „frühkommunistisch“ wäre treffender gewesen. Zwar hatte auch Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms zwischen einer „ersten“ und einer „höheren“ „Phase der kommunistischen Gesellschaft“ unterschieden. Aber, was mit dem Begriff „frühsozialistisch“ gemeint war, nämlich die Anerkennung der vielfältigen Unvollkommenheit des Sozialismus, hatte Marx schlicht „sozialistisch“ genannt. Hätten wir das auch getan, wären wir allerdings wohl noch weniger auf Gegenliebe gestoßen als mit dem Begriff „frühsozialistisch“. Denn war der Sozialismus etwa eine unvermeidlich noch mangelhafte Übergangsbewegung zum Kommunismus? - Bei Marx allerdings!

[file-periodicals#30]Zum Beispiel: „Bei gleicher Arbeitsleistung und daher gleichem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhält also (im Sozialismus! H.M.) der eine faktisch mehr als der andere, ist der eine reicher als der andere etc. Um alle diese Mißstände zu vermeiden, müßte das Recht, statt gleich vielmehr ungleich sein. Aber diese Mißstände (sic! - H.M.) sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Geburtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.

In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende (sic! H.M.) Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihr Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen genossenschaftlichen Reichtums voller fließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihr Fahnen schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ (MEW, Bd. 19, S. 21) Eindeutiger lässt sich ja kaum sagen, dass der Sozialismus keineswegs das Ziel, sondern nur der anstrengende und von Missständen belastete Weg zum Ziel, nämlich zum Kommunismus sei. Wir aber haben ihn, weniger in der Theorie, desto mehr in der alltäglichen Agitation, kaum noch als revolutionäre Bewegung, sondern als deren Ergebnis behandelt, so als müsse er „realisiert“ statt durchschritten werden. Denn wenn er erst „realisiert“, vollendet ist, ist er ja kein „Sozialismus“ mehr, sondern eben: Kommunismus.

Die Oktoberrevolution war der Start auf dem Weg zu diesem Ziel! An jenem 7. Oktober 1917 wurde das Tor aufgestoßen. Und auch wenn Konterrevolutionen es wieder verschließen möchten, weiß seitdem die Welt, dass es zu öffnen ist. Darum bleibt der Kommunismus seit 1917 Angsttraum und Erzfeind des Imperialismus, gerade darum, weil er keineswegs überholt, vielmehr immer noch nicht erreicht, und darum nach wie vor Zukunftsperspektive aller gesellschaftlichen Vorwärtsentwicklung ist - heute wie im Oktober 1917.

Das Gespenst geht weiter um, und nun nicht einmal mehr nur in Europa!
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