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NEUES THEMA21.10.2010, 12:01 Uhr
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CaptKyrbis
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yrbis
• Streiks in Frankreich Guten Morgen alle,

gerade zurück aus Marseille, wo wir die nationalen Aktionstage Nummer vier bis sechs gegen die Heraufsetzung des Rentenalters live und in Farbe erleben durften. Für alle, die nicht dabei sein konnten, ein Lagebericht


Worum geht's?

Das gesetzliche Renteneintrittsalter in Frankreich liegt derzeit bei 60 Jahren, mit vielen Ausnahmen: Für einige Berufsgruppen mit belastenden Arbeitsbedingungen (z.B. Seeleute, Krankenschwestern) ist die Berentung bereits mit 55 Jahren möglich, Frauen mit mindestens drei Kindern können schon nach zwanzig Berufsjahren in Rente gehen, und es gab teilweise auch die Möglichkeit, mit dem Arbeitgeber einzelvertraglich einen früheren Renteneintritt zu vereinbaren..

Diese für deutsche Verhältnisse traumhafte Situation wurde bereits 2007 durch ein Gesetz eingeschränkt, wonach ein Beschäftigter, um in den Genuß der vollen Rente zu kommen, mindestens vierzig Berufsjahre nachweisen mußte, andernfalls gab es kräftige Abzüge.

In diesem Jahr hat nun die regierende UMP einen Gesetzesentwurf auf den Weg gebracht, der eine Anhebung des Rentenalters auf 62 Jahre vorsieht, wobei außerdem die volle Höhe der Rentenzahlungen erst ab dem 67. Lebensjahr beginnt.


Die Mobilisierung bis Anfang letzter Woche

Gegen diese "Reform", die derzeit in der Assemblee Nationale verhandelt wird, mobilisieren seit mehreren Monaten die französischen Gewerkschaftsverbände - außerhalb der BRD wird der Gedanke der Einheitsgewerkschaft nicht so hoch bewertet; in Frankreich gibt es eine Reihe von nationalen und regionalen Gewerkschaftsverbänden mit durchaus unterschiedlichen weltanschaulichen Ausrichtungen, die aber in wichtigen Angelegenheiten keine Probleme haben, gemeinsam zu marschieren -, die kommunistische Partei PCF, sowie die kleineren Linksparteien (Parti de Gauche und NPA), außerdem die Sozialdemokraten (Parti Socialiste), die derzeit Oppositionspartei sind.

In den letzten Wochen hatten die Gewerkschaftsverbände an drei Tagen zu Streiks aufgerufen, an denen zum Schluß etwa drei Millionen Beschäftigte teilnahmen (laut Angaben der CGT, des größten französischen Gewerkschaftsverbandes; Polizei und Innenministerium dritteln die Angaben der CGT, um jeweils unter die Millionenmarke zu kommen).

Die Zusammensetzung dieser Streikbewegung unterscheidet sich ganz deutlich von dem, was wir so aus der BRD kennen: es ist eben nicht nur das Industrieproletariat auf der Straße, sondern auch Lehrer, Krankenschwestern, Beschäftigte des Einzelhandels etc.

Und nicht nur was ihre Breite angeht, ist die Mobilisierung ein Erfolg; in den Meinungsumfragen von Anfang letzter Woche bekundeten 70 Prozent der Franzosen ihre Sympathie für die Streiks und ihre Ablehnung der "Rentenreform".


Intensivierung der Proteste

Die Abstimmung über die Gesetzesvorlage war für den gestrigen Mittwoch vorgesehen (wurde aber dadurch verzögert, daß die Oppositionsparteien mehr als hundert Änderungsanträge eingebracht haben, die zunächst alle abgearbeitet werden müssen).

In der Woche vor dem geplanten Abstimmungstermin wurden deshalb gleich drei weitere Generalstreiks angesetzt, um den Druck zu erhöhen.

Dabei erreichten die Teilnehmerzahlen eine neue Rekordhöhe: jeweils 3,5 Millionen Teilnehmer am vergangenen und an diesem Dienstag, dazu 3 Millionen Teilnehmer am vergangenen Samstag (allein in Marseille waren an allen drei Streiktagen jeweils deutlich über 200.000 Leute auf den Beinen).

Außerdem nehmen nun vermehrt auch Schüler und Studenten an den Streikaktionen teil bzw. organisieren zwischen den Aktionstagen eigene Demonstrationen.

Die Zustimmung zu den Streiks bzw. die Ablehnung der "Reform" ist laut aktuellen Meinungsumfragen innerhalb der vergangenen Woche auf knapp 80 Prozent angestiegen.


Nicht nur symbolischer Protest

Der Widerstand gegen die "Reform" beschr

[...]
NEUER BEITRAG21.10.2010, 12:01 Uhr
EDIT: CaptKyrbis
21.10.2010, 12:02 Uhr
Nutzer / in
CaptKyrbis
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yrbis
[...] Streiks in Frankreich [...]

änkt sich allerdings nicht nur auf die Aktionstage, vielmehr geben sich die Gewerkschaften alle Mühe, daß es auch richtig wehtut.

Strategisches Ziel Nummer eins ist die Treibstoffversorgung. Marseille als wichtigster Mittelmeerhafen wird bereits seit drei Wochen so effizient bestreikt, daß hier gar nichts mehr geht. Am Wochenende hatte sich hier die Anzahl der Öltanker, die durch den Streik blockiert waren, auf etwa hundert summiert, und auch wenn ein Großteil davon mittlerweile Kurs auf Spanien und Italien genommen hat, lagen Anfang dieser Woche immer noch etwa zwanzig Frachter in der Bucht vor Marseille, ohne ihre Ladung löschen zu können.

An der Atlantikküste sieht es nicht anders aus: Le Havre wird so effizient bestreikt, daß die Pipeline Le Havre-Paris, die die Hauptstadt mit Öl versorgt, seit dem Wochenende trocken liegt.

In der vergangenen Woche wurden sechs von zwölf französischen Raffinerien bestreikt; seit dem Wochenende liegen alle Raffinerien still.

Un obwohl Sarkozy in der vergangenen Woche die nationalen Treibstoffreserven freigegeben hat, rechnet auch die Regierung mit einem drastischen Treibstoffmangel bis Ende der Woche. Bereits jetzt ist jede dritte Tankstelle ohne Benzin, und ein Drittel aller Departements melden Treibstoffknappheit.

Dazu kommt, daß auch die Treibstoffdepots von Streikenden blockiert werden; außerdem haben sich in dieser Woche die LKW-Fahrer dem Ausstand angeschlossen bzw. versuchen durch Langsamfahraktionen den Verkehr auf den Autobahnen zu behindern.

Weiterer Angriffspunkt ist der Verkehr - nicht nur Bus und Metro, sondern vor allem die Bahn (derzeit fährt nur etwa die Hälfte aller Fernzüge) und der Flugverkehr (in Paris ging am Dienstag gar nichts, in Marseille war der Flugverkehr zumindest tagsüber stark eingeschränkt).

In der Nacht zum Sonntag wurde die größte Pariser Druckerei bestreikt, so daß keine überregionalen Zeitungen erschienen.

Weiterhin gibt es unzählige lokale Aktionen, auch außerhalb der Aktionstage: in der vergangenen Woche wurden etwa in Marseille die Schienen des Bahnhofs besetzt, am Dienstag wurde der Autobahntunnel unter dem Hafenbecken blockiert. Außerdem streikt seit dem vergangenen Dienstag die Marseiller Müllabfuhr, was uns nicht nur zwei Meter hohe Müllberge beschert hat; die französische Lässigkeit erstreckt sich nämlich auch auf das Bündeln des Abfalls, und bei Windgeschwindigkeiten von 70 km/h aufwärts entsteht daraus ein recht buntes Straßenbild...


Harte Linie der Regierung

Sarkozy und die UMP haben wiederholt angekündigt, die "Reform" auf jeden Fall durchzuziehen, und versuchen, den Protesten zunehmend "Härte" entgegenzusetzen: Blockaden werden gewaltsam geräumt, bei Schülerdemos kommt es immer häufiger zu Konfrontationen mit der Bereitschaftspolizei (in der vergangenen Woche erlitt ein Schüler schwerste Gesichtsverletzungen durch den Treffer eines Gummigeschosses, ein weiterer einen Schädelbruch durch eine Tränengasgranate, und auch wenn der Innenminister in der Folge verlautbaren ließ, er habe den weiteren Einsatz von Gummigeschossen untersagt, posierten am Dienstag in den Marseille wieder Robocops mit Gummigeschoßgewehren).

Doch selbst wenn die "Reform" durchkommt: die Umfragewerte für Sarkozy und die UMP befinden sich seit Wochen im freien Fall, nicht nur der Rente wegen, sondern auch wegen der Korruptionsskandale der jüngeren Vergangenheit.

Auch Sarkozy hat sein Möglichstes gegeben, um sich selbst zu demontieren, zuletzt anläßlich seines Staatsbesuchs im Vatikan, wo er als erster französischer Präsident zum Beten auf die Knie gegangen war - Sarkozy habe Frankreich entehrt, titelte die französische Presse, die die Trennung von Staat und Kirche offensichtlich recht ernst nimmt.

Und die CGT und ihre Verbündeten haben angekündigt, im Falle einer Verabschiedung der "Reform" die Proteste fortzusetzen.

NEUER BEITRAG23.10.2010, 17:17 Uhr
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secarts

Streiks in Frankreich Vielen Dank erstmal für diese sehr umfangreiche Einschätzung der Lage in Frankreich!

...ich fänds gut, wenn aus diesem Beitrag ein Artikel für den öffentlichen Bereich werden könnte: den lesen dann schließlich viel mehr Leute, als wenn er nur hier im Forum steht. Eigentlich kann der Text schon so übernommen werden; m. E. könnte evtl. noch ein kurzer Absatz zur Lage der Linksparteien hinein (gerade zur PCF, über die ja nun mehr als widersprüchliche Informationen kursieren) sowie eine Darstellung der (durchaus sehr unterschiedlichen) Traditionen bezüglich Streik und bürgerlichem Demokratieverständnis in F. und BRD.

Was meint der Cäptn dazu?
NEUER BEITRAG23.10.2010, 18:06 Uhr
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CaptKyrbis
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yrbis
Streiks in Frankreich ...dann würde ich ihn vorher aber noch ein bisserl renovieren wollen...

War halt nur mal für den kleinen Kreis und mit knapper Zeit so runtergeschrieben; ein paar Aspekt müßten m.E. unbedingt noch rein - etwa die Rolle der Medien.

Außerdem fällt mir beim nochmaligen Durchlesen ein dicker Klopfer ins Auge - die Parlamentsdebatte fand natürlich im Senat, der zweiten französischen Kammer statt, und nicht in der Nationalversammlung.

Wenn das so okay wäre, würde ich den Text nochmal überarbeiten & ergänzen (ob ich zur PCF viel aussagekräftiges zusammenkriege, weiß ich allerdings nicht) & auf den aktuellen Stand bringen; allerdings verbringt der Capt das Wochenende mal wieder im Maschinenraum; d.h. vor voraussichtlich Dienstag wird's nix.

Damit die Spannung aber nicht so lange anhält: der Senat hat der "Reform" im verkürzten Verfahren mit kleinen Änderungen zugestimmt; damit ist sie aber noch nicht unterschriftsreif, sondern geht wieder zurück an die AN, die ihrerseits noch zustimmen muß (das französische Gesetzgebungsverfahren läuft in etwa so ab, daß zunächst die AN einen Gesetzesentwurf beschließt, der dann an den Senat geht; der Senat kann dann (1) dem Entwurf zustimmen, und das ganze geht zum Unterschreiben an den Präsi, (2) den Entwurf ablehnen, dann erfolgt eine Art Schlichtungsverfahren, (3) den Entwurf mit Änderungen annehmen, dann geht das ganze nochmal zurück an die AN, die ihrerseits zustimmen muß). Wie lange allerdings Fall 3, den wir jetzt haben, dauert, weeß ick och nich.

In jedem Fall wird der Widerstand gegen die "Reform" fortgesetzt - bereits am Donnerstag hatten die Gewerkschaften weitere Generalstreiks für den 28. Oktober und den 3. November angesetzt; die zwölf Raffinerien werden weiter bestreikt etc. etc.

M.a.W., auch wenn die Reform jetzt formal durch den Senat durch ist - der Drop ist noch lange nicht gelutscht
NEUER BEITRAG23.10.2010, 20:54 Uhr
EDIT: secarts
23.10.2010, 20:55 Uhr
Nutzer / in
secarts

Streiks in Frankreich Ja, das wäre super so - ergänze den Text, wenn du Zeit dafür hast und schicks mir dann... Danke!
NEUER BEITRAG24.10.2010, 10:47 Uhr
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SeppAigner
SeppA
igner
Streiks in Frankreich Mit Erlaubnis von CaptKybris hab ich ja schon mal einen Probelauf auf meinem Blog gemacht. Der "Rohtext" ist gleich am ersten Tag gut 200x angeklickt worden.
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yrbis
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