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NEUES THEMA12.10.2007, 14:11 Uhr
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secarts

• Macao: irgendwo zwischen Asien und Europa Macao, die ehemalige portugiesische Kolonie und das neue Las Vegas Asiens, liegt - wie Hongkong und Guangzhou - am Perlflussdelta, genau gegenüber von Hongkong. Per Bus ist die Stadt von Guangzhou aus innerhalb von drei Stunden erreichbar; ein Abstecher dorthin ist also kein großer Aufwand...

[dsc03602.jpg]Anfang des 16. Jahrhunderts war Portugal eine Seemacht - ebenso wie Spanien oder Holland engagiert im Überseehandel, insbesondere mit asiatischen und amerikanischen Ländern. Und ebenso wie die europäischen Konkurrenten drängte es Portugal zu Auslandsstützpunkten. Vor knapp 500 Jahren stiessen zunächst Händler, später auch Abgesandte der portugiesischen Krone an das chinesische Perlflussdelta, um dort eine Niederlassung und europäische Ansiedlung zu gründen. Zunächst sah das Vorhaben wenig erfolgreich aus: die chinesische Regierung fand keinerlei Gefallen an den neuen Siedlern und vertrieb sie umgehend. Doch einige Jahrzehnte später konnten die Portugiesen dort, diesmal mit Placet des chinesischen Kaiserhauses, eine Niederlassung aufmachen - es handelte sich um Macao, und um die erste europäische Ansiedlung in Asien überhaupt.

Durch die Jahrhunderte hielt sich Macao unter verschiedenem Verwaltungsrecht. Erst die Schwäche der chinesischen Zentralregierung im späten Feudalismus ermöglichte es den Portugiesen, den Stuetzpunkt in eine Kolonie zu verwandeln; nach dem zweiten Opiumkrieg musste China 1887 Macao als portugiesische Kolonie anerkennen. Bis 1999 blieb die Stadt unter der Oberhoheit Portugals; ähnlich wie im Falle Hongkong mit den Briten handelte die Volksrepublik im Jahre 1987 eine Übergabe aus, die nach dem Prinzip "ein Land, zwei Systeme" weitestgehende innenpolitische Souveränitaet beinhaltete, aber die Stadt wieder dem chinesischen Staatsgebiet zuschlug. Seit 8 Jahren gehört Macao also wieder zu China - und ist dennoch nicht wirklich "chinesisch", da die Hinterlassenschaften der Portugiesen auf Schritt und Tritt sichtbar sind.

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Hat es der britische Imperialismus vermocht, das einstige Fischerdörfchen Hongkong in eine internationale Finanzdrehscheibe, in einen Knotenpunkt des asiatischen Handels zu verwandeln, konnte Portugal die Stadt mit rund 500.000 Einwohnern nur zu einem großen Spielcasino machen: den Einmarsch der Volksbefreiungsarmee begrüßten die Bewohner Macaos mit Freude, kam es doch mit Ankunft der "Rotchinesen" zu einer wahren Fluchtwelle: des organisierten Verbrechens. Unsicher, ob die halbseidenen Geschäfte unter den neuen Herrschern noch möglich wären, machte sich die kriminelle Zunft zu guten Teilen auf und davon, und befreite so die Stadt von einigen üblen Geißeln, die die Strassen lebensgefährlich machten: unter den Portugiesen gedieh die Kriminalität; Bandenkriege und Schießereien auf offenener Strasse gehörten zum Alltagsbild. Seit 1999 ist zumindest damit Schluss, auch wenn die Volksrepublik innerhalb Macaos keinerlei Einmischung übt: nach dem Prinzip "ein Land, zwei Systeme" ist ähnlich wie in Hongkong vielerlei erlaubt, was in der Volksrepublik verboten ist: kommerzielles Glücksspiel zum Beispiel. Und deswegen ist Macao auch das Las Vegas Chinas - hier kann gezockt werden, bis der letzte Fen1 verjubelt ist...

[dsc03585.jpg]Las Vegas ist auch die erste Assoziation, die dem in Macao Einreisenden in den Sinn kommt: über den chinesischen Grenzort Zhuhai muss eine Grenzkontrolle passiert , und - wie in Hongkong - ein Visum für Macao besorgt werden. Fuer Europäer ist das sehr simpel; 90 Tage Aufenthalt in Macao sind automatisch nach Einreise möglich. Die funkelnden Hochhäuser, in extravaganter Verspiegelung und oftmals kitschiger Form errichtet, künden per Neonlicht schon von Weitem vom kommenden Glück am Roulettetisch: ein Casino am anderen, und die Hotels in Luxus, Verschwendung und Kitsch keinen Deut hinter dem amerikanischen Original: das jüngst eröffnete "Venetian" ist mit 3000 Suiten und 10.000 Angestellten für einen Baupreis von 2,6 Milliarden Dollar (!) nur das letzte Superhotel in einer langen Liste ähnlicher Häuser. So teuer die Hotelzimmer (und Niederlagen am Automaten), so günstig ist jedoch das Reisen in Macao: für umgerechnet 7 Euro sind wir von Guangzhou aus per Bus nach Macao gereist; organisiert natürlich von einem - Spielcasino. Im Preis inbegriffen war Mittags- und Abendbuffet und Rückfahrt; gehofft hatten die Sponsoren wohl, uns beim Blackjack wiederzusehen. Die Hoffnung war natürlich voreilig, denn prompt nach Ankunft haben wir uns, zum Gratis-Sightseeing, abgesetzt, und erst zum kalten Buffet Abends wieder blicken lassen. Die Stunden am Tage reichten auch vollkommen, um die Stadt zu besichtigen; nach chinesischen Größenverhältnissen ist Macao mit seiner halben Million eine Kleinststadt; wären weniger Hochhäuser und mehr Platz, könnte es unter Umstaenden gar noch als großes Dorf durchgehen. So haben wir uns in Macao wieder von Hotel- und Casino-Shuttles für umsonst durch die Strassen kutschieren lassen und abgeklappert, was die Reiseführer empfehlen: die Ruinen der vor hundert Jahren bei einem Taifun zerstörten St.-Paolo-Kirche, die historische Altstadt, die Zitadelle auf einem Hügel über der Innenstadt. Hier residierte bis 1999 der portugiesische Gouverneur und konnte eine atemberaubende Aussicht über Häuser und Hafen genießen; sein ehemaliger Amtssitz ist heute ein Museum.

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[dsc03570.jpg]Die lange Präsenz der Portugiesen hat natürlich ihre Spuren hinterlassen: die Kirchenbauten, die Sprache2, die Architektur. Die Innenstadt könnte auch ein Stadtteil von Lissabon sein, wenn nicht die Firmenschilder mit altchinesischen Schriftzeichen und die vielen kleinen buddhistisch-daoistischen Tempelchen und Schreine wären: das ist zum Beispiel ein deutlich erkennbarer Unterschied zur grossen chinesischen Nachbarstadt Guangzhou - die Alltagsreligiosität der Menschen3, die Altäre fuer den daoistischen Erdgott vor fast jeder Haustür; die qualmenden Räucherstäbchen in den Strassenschreinen sind in der Volksrepublik weitestgehend verschwunden; in Macao (wie in Hongkong) gehören sie nach wie vor dazu. Und auch die Rikschakulis, nach der Gründung des Neuen China 1949 als Symbol der alten Ordnung verboten, gehören in Macao zum Strassenbild: für die klapperigen Fahrradvehikel gibt es besondere Fahrspuren und Parkplätze.

Die Menschen hier sprechen, genauso wie in Guangzhou, kantonesisch. Ihre Mentalität ist, wie die der ganzen Stadt, irgendwo zwischen Europa und Asien angesiedelt. Bis 2049, also für 50 Jahre, wird daran offiziell nicht gerüttelt werden, auch dies ist Bestandteil der Politik "ein Land, zwei Systeme". Und auch wenn die Realeinkommen der Menschen hier (noch) höher sind als die ihrer Nachbarn in Guangzhou, Zhuhai oder Shenzhen: in Macao gehört viel, was in der Volksrepublik (zumindest auf den direkten Blick) verschwunden ist, zum Alltag: Häuser, die eher als Bretterbuden zu bezeichnen wären; menschenunwürdige Berufe, Glücksspiel und Strassenkriminalität. Es wird dauern, bis sich Macao und die Volksrepublik angeglichen haben. Vielleicht sind 50 Jahre sehr realistisch.


Anmerkung:
1 1 Fen = 0,1 Euro-Cent. Fen ist die kleinste Untereinheit zu Yuan (100 Fen = 10 Jiao = 1 Yuan) in der chinesischen Waehrung Renminbi (RMB).
2 Macao ist zweisprachig: neben cantonesischem Chinesisch wird Portugiesisch nach wie vor offiziell verwendet. Das in der Volksrepublik verwendete offizielle Hochchinesisch (Putonghua) st in Macao wie auch in Hongkong nicht gebraeuchlich.
3 15 Prozent bekennen sich in Macao zur roemisch-katholischen Kirche, der Rest ist Daoistisch-Buddhistisch oder Unglaeubig.



Anmerkung: ich bediene mich sowohl auf der Karte als auch in den Artikeln der offiziellen chinesischen Pinyin-Umschrift, die vielfach von der hierzulande bekannten, allerdings überholten Umschrift abweicht. "Guangzhou" ist gleichbedeutend mit "Canton", "Beijing" mit "Peking" und so weiter. Wenn einmal ein Wort nicht verständlich ist, bitte gleich in den Kommentaren nachfragen!



#kolonialismus #macao #protugal #vrchina
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