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NEUES THEMA30.11.2017, 15:30 Uhr
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• Berliner Leuchtturmpolitik Deutschland soll mit den drei großen verbleibenden EU-Staaten Westeuropas eine gemeinsame Außenpolitik formulieren und diese auch ohne EU-weiten Konsens durchsetzen. Dies fordert der bisherige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. Ein solches Vorgehen sei unumgänglich, weil ein außenpolitischer Konsens in der Union "in absehbarer Zeit" nicht hergestellt werden könne, zugleich aber ein schnelles und auch entschlossenes Handeln nötig sei, um "auf Augenhöhe mit den USA und Russland" zu gelangen. Experten schlagen alternativ die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik vor; demnach könnten EU-Staaten künftig gegen den Willen ihrer Regierungen etwa in ernste Konflikte mit Drittstaaten gezwungen werden. Hintergrund sind massive Verschiebungen im weltpolitischen Gefüge, die aktuell zu intensiven Debatten im Berliner Polit-Establishment führen. Der BND warnt vor der Zuspitzung etwa der Konflikte mit China; Militärs schließen einen Machtverlust Berlins durch einen möglichen Zerfall der EU nicht aus.

Russlands Wiederaufstieg

Die massiven Verschiebungen im weltpolitischen Gefüge, die den Hintergrund der jüngsten Forderungen zur EU-Außenpolitik bilden, hat erst kürzlich BND-Präsident Bruno Kahl in einem Vortrag vor der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) exemplarisch beschrieben. Inhaltlich geht es dabei zum einen um den aktuellen Wiederaufstieg Russlands. Russland habe "seine militärisch-technischen Möglichkeiten über die Jahre aufrechterhalten und stark ausgebaut", erläutert Kahl: "Dadurch verfügt es über die notwendigen praktischen Fähigkeiten, zumindest punktuell über größere Strecken Macht zu projizieren."1 Darauf aufbauend habe es zuletzt "sehr deutlich gemacht", es werde sich insbesondere in Osteuropa Machtanmaßungen des Westens nicht mehr fügen, sondern dort "eine eigene Einflusssphäre ... beanspruchen". Auch sonst habe es seinen "Aktionsradius" spürbar erweitert, nicht nur "durch seine Intervention in den Syrien-Konflikt", sondern auch mit "Projektionen nach Libyen" sowie durch "Einflussnahmen in Ägypten, Saudi-Arabien und der Türkei". Moskau werde vermutlich weiterhin "eine unbequeme Macht bleiben", urteilt Kahl: "Dies muss der Westen sehr realistisch sehen."2

Chinas Macht

Zum anderen führt, wie Kahl konstatiert, vor allem der rasante Aufstieg Chinas zu weitreichenden Veränderungen in der Weltpolitik. Noch 1990 habe die Volksrepublik "einen Anteil von 1,6 Prozent am globalen Bruttoinlandsprodukt" erarbeitet; 2016 habe sie "als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Erde" bereits einen Anteil von 14,8 Prozent erzielt.3 China wachse weiter: "Allein die Zunahme des chinesischen Bruttoinlandsprodukt von 2011 bis 2016" habe das gesamte Bruttoinlandsprodukt Deutschlands im Jahr 2016 übertroffen. Beijing nutze seine immense wirtschaftliche Stärke inzwischen auch politisch; seine Seidenstraßen-Initiative etwa, ein riesiges, sich aus Ostasien in Richtung Westen bis nach Europa und Afrika erstreckendes Kooperationsvorhaben, sei "das derzeit weltweit größte Projekt dieser Art"4. Darüber hinaus sei China - wie Russland - nicht mehr bereit, sich der westlichen Dominanz unterzuordnen: "Ab Ende 2013" habe es "gegen jeden Widerspruch" die - nicht zuletzt von Washington und Berlin scharf attackierten - "Inselaufschüttungen im Südchinesischen Meer durch[gesetzt]". Im Juli hat die Volksrepublik zudem, wie Kahl berichtet, nicht nur ihren "ersten militärisch nutzbaren Hafen" im Ausland eingeweiht - in Dschibuti am Horn von Afrika -, sondern auch "erstmals ein gemeinsames militärisches Manöver" mit Russland in der Ostsee durchgeführt. Ihre Macht wächst.

"Das Ende der europäischen Illusion"

Während Russland und China ihren weltpolitischen Einfluss ausdehnen - Moskau tritt aktuell etwa in Syrien als Ordnungsmacht auf5, Beijing versucht dies erstmals im Rohingya-Konflikt6 -, sieht das deutsche Polit-Establishment seine globalen Ambitionen durch die anhaltende Krise der EU, seiner Machtbasis, bedroht. Dies belegen knappe Auszüge aus einem Bundeswehr-Papier, die vor kurzem bekannt wurden. Das Papier, das den Titel "Strategische Vorausschau 2040" trägt und Anfang des Jahres vom Verteidigungsministerium auf Leitungsebene verabschiedet worden ist, stellt insgesamt sechs denkbare Szenarien für die bevorstehenden Entwicklungen in der Weltpolitik und insbesondere in der EU vor. Drei davon werden als kritisch für Deutschland eingestuft. Eines - es ist in der Bundeswehr-Zählung das vierte - rechnet mit einer Zuspitzung der globalen Konkurrenz ("multipolarer Wettbewerb") und einer Zunahme von Konflikten in der Pazifikregion. Für Berlin werde die weltpolitische Lage "unübersichtlich und teils risikoreich", heißt es in dem Dokument; dies liege auch an wachsenden Spannungen einerseits mit den USA, andererseits innerhalb der EU. Ein "Ende der europäischen Illusion" sei nicht mehr auszuschließen.7 Das Papier ist im Kern vor rund zwei Jahren erstellt worden; Ähnlichkeiten des vierten Szenarios mit der aktuellen Situation der Welt und der EU sind unverkennbar.

"Die EU im Zerfall"

Dabei muss eine weitere Zuspitzung der Lage als durchaus möglich gelten. Das Bundeswehr-Papier trägt diesem Umstand mit zwei weiteren Szenarien Rechnung; in der Zählung des Dokuments sind es die Nummern fünf und sechs. Das fünfte Szenario beschreibt eine neue Konfrontation zwischen zwei Blöcken, die sich "politisch, weltanschaulich und kulturell immer weiter voneinander" entfernen; dabei handelt es sich um einen westlichen (USA, EU) und einen östlichen (Russland, China) Block. Die EU verliert dabei die Kontrolle über ihre östlichen Mitglieder, von denen einige jegliche weitere Integration verweigern, andere sich sogar "dem östlichen Block angeschlossen" haben. Das sechste Szenario geht von einem weltweiten "Kreislauf des Rückzugs" aus, der in einer "multiplen Konfrontation" "weltweite Krisen eskalieren lässt". Mit "Dekaden der Instabilität" sei zu rechnen. Dabei sei "die EU im Zerfall und Deutschland im reaktiven Modus": "Die EU-Erweiterung ist weitgehend aufgegeben, weitere Staaten haben die Gemeinschaft verlassen. Europa hat seine globale Wettbewerbsfähigkeit auf vielen Gebieten verloren".8

[dossierartikel]

Außenpolitisch ohne Konsens

Vor die Aussicht gestellt, die eigene Machtposition in der Weltpolitik nicht auf Dauer halten zu können, entwickelt das deutsche Polit-Establishment immer drängendere Forderungen nach einer entschlosseneren EU-Außen- und Militärpolitik. Auf militärischer Ebene soll in wenigen Tagen der systematische Ausbau der Streitkräftekooperation, der vor kurzem unter der Bezeichnung PESCO beschlossen wurde (german-foreign-policy.com berichtete9), in aller Form gestartet werden. Für die Außenpolitik liegt ein entsprechendes Instrument noch nicht vor. Das wiege schwer, urteilte der bisherige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), am 20. November auf einer Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) in Berlin: Die Staaten Europas seien "zu klein", um alleine global Einfluss zu nehmen. Allerdings gehe er, Röttgen, "nach meiner sicheren Einschätzung" davon aus, dass die EU-Staaten auch nach dem britischen Austritt "in absehbarer Zeit keinen Konsens für außenpolitisches Handeln" fänden.10 Eine Alternative müsse entwickelt werden - und zwar rasch.

Widerstände brechen

Zuweilen ist in Berlin vorgeschlagen worden, auch die EU-Außenpolitik Mehrheitsentscheidungen zu unterwerfen, um Widerstände zu brechen. "Im Entscheidungsprozess sollte das Einstimmigkeitsprizip durch Mehrheitsbeschlüsse ersetzt werden", heißt es etwa in einer neuen Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).11 Das liefe darauf hinaus, dass die überstimmten EU-Staaten gegen den Willen ihrer Regierungen zu außenpolitischen Aktivitäten gezwungen werden könnten - auch dann, wenn sie dadurch beispielsweise in ernsthafte Konflikte mit Drittstaaten verwickelt würden. Ein derartiges Vorgehen in der Innenpolitik - es ging um die Aufnahme von Flüchtlingen - hat zuletzt in mehreren Staaten Osteuropas zu heftiger Auflehnung gegen Brüssel geführt und die bestehenden Brüche in der Union weiter vertieft.

Auf Augenhöhe

Röttgen schlägt nun vor, einzelne EU-Staaten sollten sich wie im Falle von PESCO zusammentun und "gemeinsam vorangehen": "Das ist die einzige Möglichkeit, heute Bewegung zu erzeugen." Konkret nennt Röttgen Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien; die vier westeuropäischen Staaten sollten sich auf eine gemeinsame außenpolitische Linie verständigen und anschließend als "Leuchttürme" agieren.12 Die Interessen kleinerer und östlicher EU-Mitgliedstaaten sollten berücksichtigt werden. Habe man im kleineren Kreis eine einheitliche Außenpolitik entwickelt, sei die Aufnahme weiterer EU-Mitglieder in den Führungszirkel möglich: Man sei selbstverständlich "offen für die anderen". Nur mit dem Voranpreschen weniger Staaten, urteilt Röttgen, könne man "ein international handlungsfähiges Europa schaffen", das - so lässt sich der Abgeordnete zitieren - "auf Augenhöhe mit den USA und Russland" auftritt.


Anmerkungen:
1 Rede von Präsident Dr. Bruno Kahl anlässlich der Veranstaltungsreihe "Zur Zukunft der internationalen Ordnung" der Hanns-Seidel-Stiftung am 13. November 2017.
2 S. dazu Vom Krisenstaat zum Gestalter Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
3 Rede von Präsident Dr. Bruno Kahl anlässlich der Veranstaltungsreihe "Zur Zukunft der internationalen Ordnung" der Hanns-Seidel-Stiftung am 13. November 2017.
4 S. dazu Chinas Jahrhundertprojekt Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
5 S. dazu Keine Ordnungsmacht Link ...jetzt anmelden!' target='blank und Wiederaufbau in Syrien Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
6 S. dazu Einflusskampf um Myanmar Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
7, 8 Denken auf Vorrat. Der Spiegel 04.11.2017.
9 S. dazu Ein bürgernahes Thema Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
10 Saskia Gamradt: Nato bleibt transatlantisch, aber stärkt ihre europäischen Pfeiler. kas.de 23.11.2017.
11 Annegret Bendiek: Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Von der Transformation zur Resilienz. SWP-Studie S 19. Berlin, September 2017.
12 Saskia Gamradt: Nato bleibt transatlantisch, aber stärkt ihre europäischen Pfeiler. kas.de 23.11.2017.



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