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•NEUES THEMA22.09.2014, 07:30 Uhr
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LONDON/BERLIN (22.09.2014) - Trotz des "No" im Referendum über die Abspaltung Schottlands von Großbritannien sagen Experten langfristig weitreichende weltpolitische Folgen der Abstimmung voraus. London wird angesichts des hohen Anteils an Sezessionsbefürwortern einen Umbau seiner staatlichen Strukturen in Angriff nehmen müssen; die nun zur Diskussion stehenden Maßnahmen seien zum Teil einschneidend und stellten die Frage, "wo die Macht im Vereinigten Königreich liegt", heißt es. Großbritannien werde in den kommenden Jahren stark mit sich selbst beschäftigt und daher mittelfristig, vielleicht sogar auf lange Sicht weltpolitisch geschwächt sein. Die "besondere Beziehung" zwischen London und Washington werde deswegen an Bedeutung verlieren, urteilt der Präsident des einflussreichen US-amerikanischen Think-Tanks "Council on Foreign Relations". Die weltpolitische Wende der USA weg vom Atlantik und hin zum Pazifik könne sich damit weiter beschleunigen: "Europa" sei nicht mehr "das Zentrum des geopolitischen Wettbewerbs". Gewinner der britischen Schwächung hingegen ist Deutschland.
Keine Rückkehr zum Status Quo
Nach dem "Nein" im Referendum über eine mögliche schottische Eigenstaatlichkeit in der vergangenen Woche beginnt im Vereinigten Königreich eine Debatte über weitreichende Änderungen in der staatlichen Struktur. Bereits vor der Abstimmung hatten Experten darauf hingewiesen, dass ein "Nein" gewiss keine "Rückkehr zum Status Quo" bedeuten werde: "Ein Nein, bei dem 45 Prozent oder mehr der Bevölkerung Schottlands für Unabhängigkeit stimmen, würde immer noch ernste Fragen zur langfristigen Zukunft der Union stellen", hieß es etwa beim Londoner Think-Tank "Chatham House".1 Genau dies ist nun eingetroffen. Premierminister David Cameron hat bereits am Morgen nach dem Referendum angekündigt, die erweiterte Autonomie, die er Schottland im Kampf gegen die Sezession versprochen hatte, in absehbarer Zeit zu realisieren. Beobachter gehen davon aus, dass die staatlichen Umbauten sich nicht auf Schottland beschränken werden. Auch Veränderungen "für England, Wales und Nordirland" stünden nun auf dem Programm, heißt es: Das Referendum habe die Lunte "an die explosive Frage gelegt, wo die Macht im Vereinigten Königreich liegt"2.
Heikle Fragen
Dabei weisen auch deutsche Medien darauf hin, dass es sich um durchaus "heikle Fragen" handelt. So müsse etwa geklärt werden, "wie weit ... die schottische Autonomie gehen" solle und was die Regionalregierung in Edinburgh künftig im Alleingang beschließen dürfe3. Dabei ist zum Beispiel unklar, ob die neuen Kompetenzen die Stationierung der britischen Nuklearflotte tangieren. Sollte dies der Fall sein, dann stünde aufgrund der in Schottland weit verbreiteten Ablehnung von Atomwaffen möglicherweise deren Verlegung bevor. Die Kosten werden auf eine Milliardensumme geschätzt. Weiterhin ist unklar, ob Edinburgh einen größeren Anteil an den Erlösen aus der Förderung von Öl und Gas vor der schottischen Küste verlangen wird - zu Lasten des britischen Gesamthaushalts. Beobachter fragen zudem, ob "am Ende nicht doch irgendwann wieder die Frage nach einer völligen Autonomie des nördlichen Landesteils" auf der Tagesordnung stehen werde4. Darüber hinaus könnten "nicht nur Wales und die Provinz Nordirland, sondern auch englische Provinzen ähnliche Rechte" fordern wie Schottland: "Womöglich gehen sie auch politisch in Zukunft in vielem eigene Wege - nur noch locker verbunden unter dem gemeinsamen Königshaus und einer amputierten Gesamtregierung."
Eine schwächere Stimme in Europa
Zu den weltpolitischen Folgen hat sich jetzt der Präsident des US-amerikanischen Council on Foreign Relations (CFR), Richard N. Haass, geäußert. Aus US-Perspektive bestehe die größte Gefahr darin, dass London in den nächsten Jahren wohl mit sich selbst beschäftigt sei - und zudem die Frage geklärt werden müsse, ob das Vereinigte Königreich EU-Mitglied bleibe. "Das wird unvermeidlich bedeuten, dass die recht bescheidene weltpolitische Rolle Großbritanniens weiter schrumpfen wird", urteilt Haass; denn "ein stärker gespaltenes Vereinigtes Königreich" werde "eine schwächere Stimme in Europa haben und noch weniger politische, ökonomische und militärische Ressourcen für Aktivitäten im Ausland zur Verfügung haben". Die "besondere Beziehung" zwischen Washington und London werde deshalb an Bedeutung verlieren5.
Nicht mehr zentral in der Welt
Damit verstärke sich ein Trend, der schon lange zu beobachten sei, erklärt Haass: "das Ende der atlantischen Ära der amerikanischen Außenpolitik". Europa sei für die US-Weltpolitik ein ganzes Jahrhundert lang "zentral" gewesen - zum einen aufgrund der "strategischen Bedeutung des Kontinents", zum anderen, da "man häufig darauf zählen konnte, dass die Europäer mit den USA zusammenarbeiteten" - dies nicht zuletzt "bei weitreichenden Herausforderungen in aller Welt". Davon sei wenig übriggeblieben. Europa sei nicht mehr "das Zentrum des geopolitischen Wettbewerbs und der Unsicherheit" wie in der Zeit der Systemkonfrontation; diesbezüglich seien Nah- und Mittelost einerseits, Asien andererseits an seine Stelle getreten, der Mittlere Osten wegen seiner "Turbulenzen", Asien als Schauplatz von "Großmachtrivalität und möglichem Konflikt". Europa sei "nicht mehr so zentral" bezüglich der Frage, "was in der Welt geschieht". Zudem könnten sich die Vereinigten Staaten bei ihren weltpolitischen Aktivitäten auch nicht mehr wirklich auf die europäischen Regierungen verlassen. Oft fehlten eine "Verständigung darüber, was zu tun ist", sowie "die Kapazität und der Wille, es zu tun". Mit der Schwächung Großbritanniens würden diese Prozesse sich womöglich beschleunigen6.
Der Weg wird frei
Jenseits der Frage, ob das transatlantische Bündnis tatsächlich an Bedeutung verlieren wird - in Berlin werden Stimmen laut, dies müsse unbedingt verhindert werden -, ist der einstweilige Gewinner der Schwächung Großbritanniens Deutschland. Allzu heftige Einbrüche in London, die sich direkt auf den Verteidigungshaushalt auswirken und damit die militärische Schlagkraft des Vereinigten Königreichs stark einschränken könnten7, scheinen nun vermeidbar; aus deutscher Sicht ist das vorteilhaft, da Großbritanniens schlagkräftiges Militär im EU-Rahmen auch im Sinne von Berliner Interessen eingesetzt werden kann. Zugleich ist mit dem schottischen "No" die Wahrscheinlichkeit etwas gesunken, dass das Vereinigte Königreich die EU verlässt; auch das ist aus der Perspektive der Bundesrepublik vorteilhaft, weil die Machtbasis der EU nicht reduziert wird. Dass ein mit sich selbst beschäftigtes Großbritannien allerdings in Fragen der europäischen Politik weniger kraftvoll auftreten kann, erleichtert es der Vormacht Europas weiter, ihre eigenen Interessen in Brüssel durchzusetzen. Nach der eklatanten Schwächung Frankreichs8 wird der Weg für deutsche Durchmärsche nun ein weiteres Stück frei.
Anmerkungen:
1 Chatham House: Disunited Kingdom? Six Foreign Policy Implications of the Scottish Referendum. London, September 2014.
2 Nick Robinson: The people have spoken. But it's not over. Link ...jetzt anmelden! 19.09.2014.
3, 4 Ludwig Greven: Zum Föderalismus verdammt. Link ...jetzt anmelden! 19.09.2014.
5, 6 Richard Haas: UK will grapple with the unsolved problem of greater autonomy. Link ...jetzt anmelden! 19.09.2014.
7 S. dazu Das schottische Referendum Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
8 S. dazu Le modèle Gerhard Schröder Link ...jetzt anmelden!' target='blank, Auf dem Weg in die Zweite Liga Link ...jetzt anmelden!' target='blank und Unter der deutschen Rute (I) Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
#england #grossbritannien #schottland #separatismus #unitedkingdom
Keine Rückkehr zum Status Quo
Nach dem "Nein" im Referendum über eine mögliche schottische Eigenstaatlichkeit in der vergangenen Woche beginnt im Vereinigten Königreich eine Debatte über weitreichende Änderungen in der staatlichen Struktur. Bereits vor der Abstimmung hatten Experten darauf hingewiesen, dass ein "Nein" gewiss keine "Rückkehr zum Status Quo" bedeuten werde: "Ein Nein, bei dem 45 Prozent oder mehr der Bevölkerung Schottlands für Unabhängigkeit stimmen, würde immer noch ernste Fragen zur langfristigen Zukunft der Union stellen", hieß es etwa beim Londoner Think-Tank "Chatham House".1 Genau dies ist nun eingetroffen. Premierminister David Cameron hat bereits am Morgen nach dem Referendum angekündigt, die erweiterte Autonomie, die er Schottland im Kampf gegen die Sezession versprochen hatte, in absehbarer Zeit zu realisieren. Beobachter gehen davon aus, dass die staatlichen Umbauten sich nicht auf Schottland beschränken werden. Auch Veränderungen "für England, Wales und Nordirland" stünden nun auf dem Programm, heißt es: Das Referendum habe die Lunte "an die explosive Frage gelegt, wo die Macht im Vereinigten Königreich liegt"2.
Heikle Fragen
Dabei weisen auch deutsche Medien darauf hin, dass es sich um durchaus "heikle Fragen" handelt. So müsse etwa geklärt werden, "wie weit ... die schottische Autonomie gehen" solle und was die Regionalregierung in Edinburgh künftig im Alleingang beschließen dürfe3. Dabei ist zum Beispiel unklar, ob die neuen Kompetenzen die Stationierung der britischen Nuklearflotte tangieren. Sollte dies der Fall sein, dann stünde aufgrund der in Schottland weit verbreiteten Ablehnung von Atomwaffen möglicherweise deren Verlegung bevor. Die Kosten werden auf eine Milliardensumme geschätzt. Weiterhin ist unklar, ob Edinburgh einen größeren Anteil an den Erlösen aus der Förderung von Öl und Gas vor der schottischen Küste verlangen wird - zu Lasten des britischen Gesamthaushalts. Beobachter fragen zudem, ob "am Ende nicht doch irgendwann wieder die Frage nach einer völligen Autonomie des nördlichen Landesteils" auf der Tagesordnung stehen werde4. Darüber hinaus könnten "nicht nur Wales und die Provinz Nordirland, sondern auch englische Provinzen ähnliche Rechte" fordern wie Schottland: "Womöglich gehen sie auch politisch in Zukunft in vielem eigene Wege - nur noch locker verbunden unter dem gemeinsamen Königshaus und einer amputierten Gesamtregierung."
Eine schwächere Stimme in Europa
Zu den weltpolitischen Folgen hat sich jetzt der Präsident des US-amerikanischen Council on Foreign Relations (CFR), Richard N. Haass, geäußert. Aus US-Perspektive bestehe die größte Gefahr darin, dass London in den nächsten Jahren wohl mit sich selbst beschäftigt sei - und zudem die Frage geklärt werden müsse, ob das Vereinigte Königreich EU-Mitglied bleibe. "Das wird unvermeidlich bedeuten, dass die recht bescheidene weltpolitische Rolle Großbritanniens weiter schrumpfen wird", urteilt Haass; denn "ein stärker gespaltenes Vereinigtes Königreich" werde "eine schwächere Stimme in Europa haben und noch weniger politische, ökonomische und militärische Ressourcen für Aktivitäten im Ausland zur Verfügung haben". Die "besondere Beziehung" zwischen Washington und London werde deshalb an Bedeutung verlieren5.
Nicht mehr zentral in der Welt
Damit verstärke sich ein Trend, der schon lange zu beobachten sei, erklärt Haass: "das Ende der atlantischen Ära der amerikanischen Außenpolitik". Europa sei für die US-Weltpolitik ein ganzes Jahrhundert lang "zentral" gewesen - zum einen aufgrund der "strategischen Bedeutung des Kontinents", zum anderen, da "man häufig darauf zählen konnte, dass die Europäer mit den USA zusammenarbeiteten" - dies nicht zuletzt "bei weitreichenden Herausforderungen in aller Welt". Davon sei wenig übriggeblieben. Europa sei nicht mehr "das Zentrum des geopolitischen Wettbewerbs und der Unsicherheit" wie in der Zeit der Systemkonfrontation; diesbezüglich seien Nah- und Mittelost einerseits, Asien andererseits an seine Stelle getreten, der Mittlere Osten wegen seiner "Turbulenzen", Asien als Schauplatz von "Großmachtrivalität und möglichem Konflikt". Europa sei "nicht mehr so zentral" bezüglich der Frage, "was in der Welt geschieht". Zudem könnten sich die Vereinigten Staaten bei ihren weltpolitischen Aktivitäten auch nicht mehr wirklich auf die europäischen Regierungen verlassen. Oft fehlten eine "Verständigung darüber, was zu tun ist", sowie "die Kapazität und der Wille, es zu tun". Mit der Schwächung Großbritanniens würden diese Prozesse sich womöglich beschleunigen6.
Der Weg wird frei
Jenseits der Frage, ob das transatlantische Bündnis tatsächlich an Bedeutung verlieren wird - in Berlin werden Stimmen laut, dies müsse unbedingt verhindert werden -, ist der einstweilige Gewinner der Schwächung Großbritanniens Deutschland. Allzu heftige Einbrüche in London, die sich direkt auf den Verteidigungshaushalt auswirken und damit die militärische Schlagkraft des Vereinigten Königreichs stark einschränken könnten7, scheinen nun vermeidbar; aus deutscher Sicht ist das vorteilhaft, da Großbritanniens schlagkräftiges Militär im EU-Rahmen auch im Sinne von Berliner Interessen eingesetzt werden kann. Zugleich ist mit dem schottischen "No" die Wahrscheinlichkeit etwas gesunken, dass das Vereinigte Königreich die EU verlässt; auch das ist aus der Perspektive der Bundesrepublik vorteilhaft, weil die Machtbasis der EU nicht reduziert wird. Dass ein mit sich selbst beschäftigtes Großbritannien allerdings in Fragen der europäischen Politik weniger kraftvoll auftreten kann, erleichtert es der Vormacht Europas weiter, ihre eigenen Interessen in Brüssel durchzusetzen. Nach der eklatanten Schwächung Frankreichs8 wird der Weg für deutsche Durchmärsche nun ein weiteres Stück frei.
Anmerkungen:
1 Chatham House: Disunited Kingdom? Six Foreign Policy Implications of the Scottish Referendum. London, September 2014.
2 Nick Robinson: The people have spoken. But it's not over. Link ...jetzt anmelden! 19.09.2014.
3, 4 Ludwig Greven: Zum Föderalismus verdammt. Link ...jetzt anmelden! 19.09.2014.
5, 6 Richard Haas: UK will grapple with the unsolved problem of greater autonomy. Link ...jetzt anmelden! 19.09.2014.
7 S. dazu Das schottische Referendum Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
8 S. dazu Le modèle Gerhard Schröder Link ...jetzt anmelden!' target='blank, Auf dem Weg in die Zweite Liga Link ...jetzt anmelden!' target='blank und Unter der deutschen Rute (I) Link ...jetzt anmelden!' target='blank.
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