|
•NEUES THEMA29.12.2011, 07:00 Uhr
Kollektiv | |
secarts.org Redaktion | |
|
|
• 40 Jahre Berufsverbote
Im Folgenden veröffentlichen wir einen Aufruf von Berufsverbot-Betroffenen:
Vor 40 Jahren, am 28. Januar 1972, beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den sogenannten "Radikalenerlass". Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten " Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten", aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden. Mithilfe der "Regelanfrage" wurden etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber vom "Verfassungsschutz" auf ihre politische "Zuverlässigkeit" durchleuchtet. In der Folge kam es zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Formell richtete sich der Erlass gegen "Links- und Rechtsextremisten", in der Praxis traf er vor allem Linke: Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und anderer sozialistischer und linker Gruppierungen, von Friedensinitiativen bis hin zu SPD-nahen Studierendenorganisationen. Mit dem Kampfbegriff der "Verfassungsfeindlichkeit" wurden missliebige und systemkritische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gerückt, wurde die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit bedroht und bestraft.
Der "Radikalenerlass" führte zum faktischen Berufsverbot für Tausende von Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit, in der Briefzustellung, als Lokführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten und bewarben. Bis weit in die 80er Jahre vergiftete die staatlich betriebene Jagd auf vermeintliche "Radikale" das politische Klima. Der "Radikalenerlass" diente der Einschüchterung nicht nur der aktiven Linken. Die existentielle Bedrohung durch die Verweigerung des erlernten oder bereits ausgeübten Berufes war eine Maßnahme der Unterdrückung außerparlamentarischer Bewegungen insgesamt. Statt Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert.
Erst Ende der 80er Jahre zogen sozialdemokratisch geführte Landesregierungen die Konsequenz aus dem von Willy Brandt selbst eingeräumten "Irrtum" und schafften die entsprechenden Erlasse in ihren Ländern ab. Einige der früher abgewiesenen Anwärterinnen und Anwärter und zum Teil sogar aus dem Beamtenverhältnis Entlassenen wurden doch noch übernommen, meist im Angestelltenverhältnis. Viele mussten sich allerdings nach zermürbenden und jahrelangen Prozessen beruflich anderweitig orientieren.
Heute gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das eine Diskriminierung wegen politischer Überzeugungen verbietet. Damit wurde eine entsprechende EU-Richtlinie umgesetzt. Doch ein öffentliches Eingeständnis, dass der "Radikalenerlass" Unrecht war, unterblieb. Er hat Tausenden von Menschen die berufliche Perspektive genommen und sie in schwerwiegende Existenzprobleme gestürzt. Eine materielle, moralische und politische Rehabilitierung der Betroffenen fand nicht statt.
Die Bedrohung durch den "Radikalenerlass" gehört auch 2012 keineswegs der Vergangenheit an: Im Jahr 2004 belegten die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen den Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy mit Berufsverbot, weil er sich in antifaschistischen Gruppen engagiert hatte. Erst 2007 wurde seine Ablehnung für den Schuldienst durch die Gerichte endgültig für unrechtmäßig erklärt. Trotzdem wird in Bayern von Bewerberinnen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst weiterhin formularmäßig die Distanzierung von Organisationen verlangt, die vom "Verfassungsschutz" als "linksextremistisch" diffamiert werden. Und eine sogenannte "Extremismus"-Klausel, die sich auf die Ideologie und mehr als fragwürdigen Einschätzungen des "Verfassungsschutzes" stützt, bedroht existenziell die wichtige Arbeit antifaschistischer, antirassistischer und anderer demokratischer Projekte.
Eine politische Auseinandersetzung über die schwerwiegende Beschädigung der demokratischen Kultur durch die Berufsverbotspolitik steht bis heute aus. Sie ist dringlicher denn je. Unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus werden wesentliche demokratische Rechte eingeschränkt. Die in den letzten Monaten des Jahres 2011 zu Tage getretenen "Verfassungsschutz"-Skandale haben gezeigt, wie tief der Inlandsgeheimdienst ideologisch und personell in die neonazistische Szene verstrickt ist. Seit seiner Gründung im Jahr 1950 - unter Beteiligung von NS-Verbrechern - hat der "Verfassungsschutz" an der Ausgrenzung, Einschüchterung und letztendlichen Kriminalisierung antifaschistischer Politik und linker Opposition gearbeitet. Dieser antidemokratische Geheimdienst ist nicht reformierbar, er muss abgeschafft werden.
Der "Radikalenerlass" und die ihn stützende Rechtssprechung bleiben ein juristisches, politisches und menschliches Unrecht. Wir als damalige Betroffene des "Radikalenerlasses" fordern von den Verantwortlichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und Ländern unsere vollständige Rehabilitierung. Die Bespitzelung kritischer politischer Opposition muss ein Ende haben. Wir fordern die Herausgabe und Vernichtung der "Verfassungsschutz"-Akten, wir verlangen die Aufhebung der diskriminierenden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen. (Stand: 20. November 2011)
Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner: Sigrid Altherr-König (Esslingen) - Michael Csaszkóczy (Heidelberg) - Lothar Letsche (Weinstadt/Tübingen) - Klaus Lipps (Baden-Baden) - Hans Schaefer (Reutlingen) - Werner Siebler (Freiburg)
#berufsverbot
Vor 40 Jahren, am 28. Januar 1972, beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz unter dem Vorsitz von Bundeskanzler Willy Brandt den sogenannten "Radikalenerlass". Zur Abwehr angeblicher Verfassungsfeinde sollten " Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten", aus dem öffentlichen Dienst ferngehalten bzw. entlassen werden. Mithilfe der "Regelanfrage" wurden etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber vom "Verfassungsschutz" auf ihre politische "Zuverlässigkeit" durchleuchtet. In der Folge kam es zu 11 000 offiziellen Berufsverbotsverfahren, 2 200 Disziplinarverfahren, 1 250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Formell richtete sich der Erlass gegen "Links- und Rechtsextremisten", in der Praxis traf er vor allem Linke: Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und anderer sozialistischer und linker Gruppierungen, von Friedensinitiativen bis hin zu SPD-nahen Studierendenorganisationen. Mit dem Kampfbegriff der "Verfassungsfeindlichkeit" wurden missliebige und systemkritische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gerückt, wurde die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit bedroht und bestraft.
Der "Radikalenerlass" führte zum faktischen Berufsverbot für Tausende von Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit, in der Briefzustellung, als Lokführer oder in der Rechtspflege tätig waren oder sich auf solche Berufe vorbereiteten und bewarben. Bis weit in die 80er Jahre vergiftete die staatlich betriebene Jagd auf vermeintliche "Radikale" das politische Klima. Der "Radikalenerlass" diente der Einschüchterung nicht nur der aktiven Linken. Die existentielle Bedrohung durch die Verweigerung des erlernten oder bereits ausgeübten Berufes war eine Maßnahme der Unterdrückung außerparlamentarischer Bewegungen insgesamt. Statt Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert.
Erst Ende der 80er Jahre zogen sozialdemokratisch geführte Landesregierungen die Konsequenz aus dem von Willy Brandt selbst eingeräumten "Irrtum" und schafften die entsprechenden Erlasse in ihren Ländern ab. Einige der früher abgewiesenen Anwärterinnen und Anwärter und zum Teil sogar aus dem Beamtenverhältnis Entlassenen wurden doch noch übernommen, meist im Angestelltenverhältnis. Viele mussten sich allerdings nach zermürbenden und jahrelangen Prozessen beruflich anderweitig orientieren.
Heute gilt das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG), das eine Diskriminierung wegen politischer Überzeugungen verbietet. Damit wurde eine entsprechende EU-Richtlinie umgesetzt. Doch ein öffentliches Eingeständnis, dass der "Radikalenerlass" Unrecht war, unterblieb. Er hat Tausenden von Menschen die berufliche Perspektive genommen und sie in schwerwiegende Existenzprobleme gestürzt. Eine materielle, moralische und politische Rehabilitierung der Betroffenen fand nicht statt.
Die Bedrohung durch den "Radikalenerlass" gehört auch 2012 keineswegs der Vergangenheit an: Im Jahr 2004 belegten die Bundesländer Baden-Württemberg und Hessen den Heidelberger Realschullehrer Michael Csaszkóczy mit Berufsverbot, weil er sich in antifaschistischen Gruppen engagiert hatte. Erst 2007 wurde seine Ablehnung für den Schuldienst durch die Gerichte endgültig für unrechtmäßig erklärt. Trotzdem wird in Bayern von Bewerberinnen und Bewerbern für den öffentlichen Dienst weiterhin formularmäßig die Distanzierung von Organisationen verlangt, die vom "Verfassungsschutz" als "linksextremistisch" diffamiert werden. Und eine sogenannte "Extremismus"-Klausel, die sich auf die Ideologie und mehr als fragwürdigen Einschätzungen des "Verfassungsschutzes" stützt, bedroht existenziell die wichtige Arbeit antifaschistischer, antirassistischer und anderer demokratischer Projekte.
Eine politische Auseinandersetzung über die schwerwiegende Beschädigung der demokratischen Kultur durch die Berufsverbotspolitik steht bis heute aus. Sie ist dringlicher denn je. Unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus werden wesentliche demokratische Rechte eingeschränkt. Die in den letzten Monaten des Jahres 2011 zu Tage getretenen "Verfassungsschutz"-Skandale haben gezeigt, wie tief der Inlandsgeheimdienst ideologisch und personell in die neonazistische Szene verstrickt ist. Seit seiner Gründung im Jahr 1950 - unter Beteiligung von NS-Verbrechern - hat der "Verfassungsschutz" an der Ausgrenzung, Einschüchterung und letztendlichen Kriminalisierung antifaschistischer Politik und linker Opposition gearbeitet. Dieser antidemokratische Geheimdienst ist nicht reformierbar, er muss abgeschafft werden.
Der "Radikalenerlass" und die ihn stützende Rechtssprechung bleiben ein juristisches, politisches und menschliches Unrecht. Wir als damalige Betroffene des "Radikalenerlasses" fordern von den Verantwortlichen in Verwaltung und Justiz, in Bund und Ländern unsere vollständige Rehabilitierung. Die Bespitzelung kritischer politischer Opposition muss ein Ende haben. Wir fordern die Herausgabe und Vernichtung der "Verfassungsschutz"-Akten, wir verlangen die Aufhebung der diskriminierenden Urteile und eine materielle Entschädigung der Betroffenen. (Stand: 20. November 2011)
Erstunterzeichnerinnen und -unterzeichner: Sigrid Altherr-König (Esslingen) - Michael Csaszkóczy (Heidelberg) - Lothar Letsche (Weinstadt/Tübingen) - Klaus Lipps (Baden-Baden) - Hans Schaefer (Reutlingen) - Werner Siebler (Freiburg)
#berufsverbot
JPG-Datei •
Bild öffnen
...ohne Wasserzeichen: anmelden!
index.jpg

• Hier gibt's was extra: mehr Debatten aus den www.secarts.org-Foren
Splitter zur Geschichte des KB
FPeregrin
• 21.07.2024
FPeregrin
• 21.07.2024
VR China und der Unterwasser-Ramjet
Zur Geschichte des #VS
FPeregrin
• 18.07.2024
FPeregrin
• 18.07.2024
FPeregrin
• 18.07.2024
Rußlands Engagement auf dem afrikan. Kontinent
FPeregrin
• 06.07.2024
FPeregrin
• 06.07.2024
FPeregrin
• 06.07.2024
USA: Vor Faschismus und Bürgerkrieg?
FPeregrin
NEU
05.04.2025
FPeregrin
• 26.01.2025
FPeregrin
• 26.01.2025
Magnus Hirschfeld - Sexualforschung Anf. d. 20 Ja..
arktika
• 26.05.2024

2
>>>
Die Jungle.World resumierte am 14. November 2013:
Die Geschichte der K-Gruppen bei den Grünen
Der große Irrtu...mehr



Die VR China scheint sich in einer starken Phase der notwendigen und zielgerichteten Verbesserung und Entwicklung von Waffen ...mehr
FPeregrin
• 26.11.2024

7
>>>
Epilog
Dieser Beitrag beruht im Kern auf Artikeln, Expertisen und Vorträgen, die der Autor in den vergangenen Jahr...mehr




5
>>>
Neue Allianzen
Die Zeiten, in denen Frankreichs Strategen mit käuflichem Personal, mit Mord und Totschlag Regierun...mehr




36
In all dem erwartbaren lustigen Zirkus, mit dem die "Freie Welt" sich selbst zum Narren hält - das hier ist eine sehr intere...mehr




1
>>>>>
Zerstörung des Instituts
Den Nationalsozialisten passte all das nicht in ihre Ideologie. Sie bezeichneten die Fo...mehr
