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•NEUES THEMA04.02.2024, 22:20 Uhr
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• Zum 100. Geb. von Edward P. Thompson
jW gestern:
Klasse werden
Auf der Suche nach dem kollektiven Handeln. Zum 100. Geburtstag des marxistischen Historikers Edward Palmer Thompson
Von Ingar Solty
Manche Menschen sind einflussreich, aber nicht brillant. Andere wiederum sind brillant, aber bleiben ihr Leben lang ohne Wirkung. Edward Palmer Thompson (1924–1993) war beides: einflussreich und brillant. Im »Arts and Humanities Citation Index« gehörte der britische Historiker und Marxist für den Zeitraum von 1976 bis 1983 zu den »100 meistzitierten Autoren des 20. Jahrhunderts auf allen vom Index erfassten Gebieten«. Schon zu Lebzeiten sprach man in Großbritannien von der »Thompson-Perspektive« (»Thompsonian view«) der Sozialgeschichte. Noch 2011 wurde er in einer Umfrage der Zeitschrift History Today zum »zweitwichtigsten Historiker der letzten 60 Jahre« gewählt, übertroffen nur noch von Fernand Braudel (1902–1985).
Seinen Ruhm begründete Thompson mit seinem zweiten Buch: »The Making of the English Working Class« (1963; deutsche Übersetzung: »Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse«, 1987). Der 848 Seiten umfassende Riemen sei, so der eng befreundete Eric John Ernest Hobsbawm (1917–2012), ein »historischer Vulkan in der Entladung«. Das Buch habe »junge radikale Leser auf beiden Seiten des Atlantiks (…) in seinen Bann« geschlagen – »und das trotz der fast provozierend kurzen behandelten Zeitspanne und des eng gefassten (…) Gegenstandes«. »The Making of the English Working Class« sei, so Hobsbawm, »wie so viele seiner anderen Werke (…) als erstes Kapitel eines kurzen Lehrbuchs begonnen« worden, »in diesem Fall über die Geschichte der britischen Arbeiter von 1790 bis 1945«, sei dann aber »seiner Kontrolle entglitten«.
Historiker in der KP
Dass sich die »Thompson-Perspektive« als Paradigma in Geschichtswissenschaft, Soziologie und Kulturwissenschaft etablierte, war dabei alles andere als selbstverständlich, denn Thompson war kein Wissenschaftler im herkömmlichen, lizenzierten Sinne. Sein einziger akademischer Grad blieb ein Bachelor der Geschichtswissenschaft. Seine Forschung ergab sich aus seinen Überzeugungen. Schon während seines durch einen Kriegseinsatz unterbrochenen Studiums am Corpus Christi College in Cambridge trat er mit 18 Jahren der »Communist Party of Great Britain« (CPGB) bei. Er folgte dabei seinem vier Jahre älteren Bruder Frank, der »während des Krieges mit den mazedonischen und danach mit den bulgarischen Partisanen« gekämpft hatte und dabei am 10. Juni 1944 »schließlich den Tod fand«.
Auch den jüngeren Edward zog es nach seiner Hinwendung zum proletarischen Internationalismus auf den Balkan. Nachdem Marschall Tito im Sommer 1947 dazu aufgerufen hatte, internationale Jugendarbeitsbrigaden für den Bau der sogenannten Jugendbahn zu bilden, gingen Thompson und seine spätere Ehefrau Dorothy Katharine Gane Towers (1923–2011) zusammen mit vielen anderen Bewunderern des dortigen Arbeiterselbstverwaltungskommunismus für kürzere Zeit nach Jugoslawien.
Nach seinem Hochschulabschluss arbeitete Thompson dann im Yorkshire-Bezirkskomitee der CPGB. In der Partei engagierte er sich ab 1946 insbesondere in der »Historians Group«. In ihr waren einige der namhaftesten britischen Historiker versammelt, darunter Maurice Herbert Dobb, der 1947 sein Hauptwerk »Studies in the Development of Capitalism« veröffentlichte, und ferner John Edward Christopher Hill, Rodney Howard Hilton, Orestis Stamatopoulos alias John Saville, Raymond Henry Williams, George Rudé sowie Hobsbawm und Thompsons Frau Dorothy, die er 1948 heiratete.
Es sei, schrieb Hobsbawm 2002, »ein zenÂtrales Thema (…), warum der Kommunismus so viele der Besten meiner Generation angezogen« habe. Nach dem Urteil des marxistischen Universalgelehrten »Perry« Anderson könne die Bedeutung der »Historians Group« nicht überschätzt werden. Sie sei wesentlich dafür verantwortlich, so der langjährige New Left Review-Herausgeber (seit 1962), dass sich eine Hegemonie des Angelsächsischen im »westlichen Marxismus« herausgebildet habe. Auch der westdeutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler hat, obwohl selbst ein von Max Weber beeinflusster Sozialdemokrat, die Relevanz der »Communist Party Historians’ Group« als fundamentale Erneuerungskraft der internationalen Geschichtswissenschaft anerkannt.
Vor allem in der Anfangszeit war Thompson allerdings in erster Linie politischer Aktivist. In der »Historians Group« soll er, so Dieter Groh, der »einzige« gewesen sein, der »im engeren Sinn Parteiarbeit leistete«. Sein Brot verdiente sich Thompson als Tutor und Organisator in der außeruniversitären Erwachsenenbildung der Universität Leeds. Erst nach Erscheinen seines Hauptwerkes 1963 konnte er, trotz fehlender akademischer Titel, die Leitung des »Center for the Study of Social History« an der Universität Warwick übernehmen. 1970 nahm er dort seinen Hut, um sich als Privatgelehrter »fortan ausschließlich der Forschung zu widmen«.
In der CPGB stellte der Tito-Stalin-Bruch, der unter dem Vorwurf des »Titoismus« eine Welle von »Säuberungen« provozierte – darunter der Schauprozess gegen Rudolf Slánský Âund 13 weitere Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPÄŒ) in Prag 1952 –, Thompsons bis dahin unverbrüchliche Solidarität mit der Sowjetunion erstmalig auf die Probe. Der 20. Parteitag der KPdSU von 1956, auf dem drei Jahre nach Stalins Tod die Verbrechen des Stalinismus offen thematisiert wurden, sowie der sowjetische Einmarsch in Ungarn im selben Jahr, führten schließlich dazu, dass Thompson gemeinsam mit Saville und anderen ein – in den Worten von Hobsbawm, der damals den Vorsitz der Historikergruppe in der KP innehatte – »beispielloses und nach den Usancen der Partei völlig illegitimes oppositionelles Periodikum innerhalb der Partei in Umlauf« brachte: The Reasoner. Ein halbes Jahr später trat er schließlich aus, blieb aber, so Hobsbawm, ȟberzeugter Kommunist«. Zugleich seien es »die Ereignisse von 1956« gewesen, »die ihn primär zum Historiker machten«.
Der von Thompson und Saville herausgegebene New Reasoner: A Quarterly Journal of Socialist Humanism, erschienen in den Jahren 1957 bis 1959, bildete im Zuge der Fusion mit der Universities and Left Review dann die Keimform der New Left Review. Deren Redaktion wies im Gründungsjahr 1960 ein Durchschnittsalter von gerade einmal 24 Jahren auf. In der neben Historical Materialism bis heute bedeutendsten Zeitschrift der britischen, marxistisch orientierten Linken gehörte der damals 36jährige Thompson zusammen mit den Kulturtheoretikern Raymond Williams und Stuart Hall also damals schon zu den Älteren, die man als »First New Left« bezeichnete und die, schreibt Hobsbawm, im Gegensatz zur trotzkistisch orientierten »Second New Left« um Perry Anderson noch stärker »mit der Arbeiterbewegung (und) der sozialistischen Politik verbunden«, aber zugleich weniger theoretisch und internationalistisch orientiert waren. Die »Neue Linke« sei jedoch, so Hobsbawms Einschätzung, in der Praxis »trotz ihrer intellektuellen Produktivität fast völlig unbedeutend« geblieben, insofern sie »weder die Labour Party (der sie ambivalent gegenüberstand) noch die CPGB (…) reformierte«. Thompson habe »zutiefst am Scheitern der (ersten) ›Neuen Linken‹ von 1956« gelitten. Verstärkt worden sei dies dadurch, dass er mit der zweiten »Neuen Linken« der Studentenbewegung fremdelte, in der er »ein ›irrationales‹, ›revoltierendes Bürgertum‹« zu erkennen glaubte.
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Auf der Suche nach dem kollektiven Handeln. Zum 100. Geburtstag des marxistischen Historikers Edward Palmer Thompson
Von Ingar Solty
Manche Menschen sind einflussreich, aber nicht brillant. Andere wiederum sind brillant, aber bleiben ihr Leben lang ohne Wirkung. Edward Palmer Thompson (1924–1993) war beides: einflussreich und brillant. Im »Arts and Humanities Citation Index« gehörte der britische Historiker und Marxist für den Zeitraum von 1976 bis 1983 zu den »100 meistzitierten Autoren des 20. Jahrhunderts auf allen vom Index erfassten Gebieten«. Schon zu Lebzeiten sprach man in Großbritannien von der »Thompson-Perspektive« (»Thompsonian view«) der Sozialgeschichte. Noch 2011 wurde er in einer Umfrage der Zeitschrift History Today zum »zweitwichtigsten Historiker der letzten 60 Jahre« gewählt, übertroffen nur noch von Fernand Braudel (1902–1985).
Seinen Ruhm begründete Thompson mit seinem zweiten Buch: »The Making of the English Working Class« (1963; deutsche Übersetzung: »Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse«, 1987). Der 848 Seiten umfassende Riemen sei, so der eng befreundete Eric John Ernest Hobsbawm (1917–2012), ein »historischer Vulkan in der Entladung«. Das Buch habe »junge radikale Leser auf beiden Seiten des Atlantiks (…) in seinen Bann« geschlagen – »und das trotz der fast provozierend kurzen behandelten Zeitspanne und des eng gefassten (…) Gegenstandes«. »The Making of the English Working Class« sei, so Hobsbawm, »wie so viele seiner anderen Werke (…) als erstes Kapitel eines kurzen Lehrbuchs begonnen« worden, »in diesem Fall über die Geschichte der britischen Arbeiter von 1790 bis 1945«, sei dann aber »seiner Kontrolle entglitten«.
Historiker in der KP
Dass sich die »Thompson-Perspektive« als Paradigma in Geschichtswissenschaft, Soziologie und Kulturwissenschaft etablierte, war dabei alles andere als selbstverständlich, denn Thompson war kein Wissenschaftler im herkömmlichen, lizenzierten Sinne. Sein einziger akademischer Grad blieb ein Bachelor der Geschichtswissenschaft. Seine Forschung ergab sich aus seinen Überzeugungen. Schon während seines durch einen Kriegseinsatz unterbrochenen Studiums am Corpus Christi College in Cambridge trat er mit 18 Jahren der »Communist Party of Great Britain« (CPGB) bei. Er folgte dabei seinem vier Jahre älteren Bruder Frank, der »während des Krieges mit den mazedonischen und danach mit den bulgarischen Partisanen« gekämpft hatte und dabei am 10. Juni 1944 »schließlich den Tod fand«.
Auch den jüngeren Edward zog es nach seiner Hinwendung zum proletarischen Internationalismus auf den Balkan. Nachdem Marschall Tito im Sommer 1947 dazu aufgerufen hatte, internationale Jugendarbeitsbrigaden für den Bau der sogenannten Jugendbahn zu bilden, gingen Thompson und seine spätere Ehefrau Dorothy Katharine Gane Towers (1923–2011) zusammen mit vielen anderen Bewunderern des dortigen Arbeiterselbstverwaltungskommunismus für kürzere Zeit nach Jugoslawien.
Nach seinem Hochschulabschluss arbeitete Thompson dann im Yorkshire-Bezirkskomitee der CPGB. In der Partei engagierte er sich ab 1946 insbesondere in der »Historians Group«. In ihr waren einige der namhaftesten britischen Historiker versammelt, darunter Maurice Herbert Dobb, der 1947 sein Hauptwerk »Studies in the Development of Capitalism« veröffentlichte, und ferner John Edward Christopher Hill, Rodney Howard Hilton, Orestis Stamatopoulos alias John Saville, Raymond Henry Williams, George Rudé sowie Hobsbawm und Thompsons Frau Dorothy, die er 1948 heiratete.
Es sei, schrieb Hobsbawm 2002, »ein zenÂtrales Thema (…), warum der Kommunismus so viele der Besten meiner Generation angezogen« habe. Nach dem Urteil des marxistischen Universalgelehrten »Perry« Anderson könne die Bedeutung der »Historians Group« nicht überschätzt werden. Sie sei wesentlich dafür verantwortlich, so der langjährige New Left Review-Herausgeber (seit 1962), dass sich eine Hegemonie des Angelsächsischen im »westlichen Marxismus« herausgebildet habe. Auch der westdeutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler hat, obwohl selbst ein von Max Weber beeinflusster Sozialdemokrat, die Relevanz der »Communist Party Historians’ Group« als fundamentale Erneuerungskraft der internationalen Geschichtswissenschaft anerkannt.
Vor allem in der Anfangszeit war Thompson allerdings in erster Linie politischer Aktivist. In der »Historians Group« soll er, so Dieter Groh, der »einzige« gewesen sein, der »im engeren Sinn Parteiarbeit leistete«. Sein Brot verdiente sich Thompson als Tutor und Organisator in der außeruniversitären Erwachsenenbildung der Universität Leeds. Erst nach Erscheinen seines Hauptwerkes 1963 konnte er, trotz fehlender akademischer Titel, die Leitung des »Center for the Study of Social History« an der Universität Warwick übernehmen. 1970 nahm er dort seinen Hut, um sich als Privatgelehrter »fortan ausschließlich der Forschung zu widmen«.
In der CPGB stellte der Tito-Stalin-Bruch, der unter dem Vorwurf des »Titoismus« eine Welle von »Säuberungen« provozierte – darunter der Schauprozess gegen Rudolf Slánský Âund 13 weitere Mitglieder der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPÄŒ) in Prag 1952 –, Thompsons bis dahin unverbrüchliche Solidarität mit der Sowjetunion erstmalig auf die Probe. Der 20. Parteitag der KPdSU von 1956, auf dem drei Jahre nach Stalins Tod die Verbrechen des Stalinismus offen thematisiert wurden, sowie der sowjetische Einmarsch in Ungarn im selben Jahr, führten schließlich dazu, dass Thompson gemeinsam mit Saville und anderen ein – in den Worten von Hobsbawm, der damals den Vorsitz der Historikergruppe in der KP innehatte – »beispielloses und nach den Usancen der Partei völlig illegitimes oppositionelles Periodikum innerhalb der Partei in Umlauf« brachte: The Reasoner. Ein halbes Jahr später trat er schließlich aus, blieb aber, so Hobsbawm, ȟberzeugter Kommunist«. Zugleich seien es »die Ereignisse von 1956« gewesen, »die ihn primär zum Historiker machten«.
Der von Thompson und Saville herausgegebene New Reasoner: A Quarterly Journal of Socialist Humanism, erschienen in den Jahren 1957 bis 1959, bildete im Zuge der Fusion mit der Universities and Left Review dann die Keimform der New Left Review. Deren Redaktion wies im Gründungsjahr 1960 ein Durchschnittsalter von gerade einmal 24 Jahren auf. In der neben Historical Materialism bis heute bedeutendsten Zeitschrift der britischen, marxistisch orientierten Linken gehörte der damals 36jährige Thompson zusammen mit den Kulturtheoretikern Raymond Williams und Stuart Hall also damals schon zu den Älteren, die man als »First New Left« bezeichnete und die, schreibt Hobsbawm, im Gegensatz zur trotzkistisch orientierten »Second New Left« um Perry Anderson noch stärker »mit der Arbeiterbewegung (und) der sozialistischen Politik verbunden«, aber zugleich weniger theoretisch und internationalistisch orientiert waren. Die »Neue Linke« sei jedoch, so Hobsbawms Einschätzung, in der Praxis »trotz ihrer intellektuellen Produktivität fast völlig unbedeutend« geblieben, insofern sie »weder die Labour Party (der sie ambivalent gegenüberstand) noch die CPGB (…) reformierte«. Thompson habe »zutiefst am Scheitern der (ersten) ›Neuen Linken‹ von 1956« gelitten. Verstärkt worden sei dies dadurch, dass er mit der zweiten »Neuen Linken« der Studentenbewegung fremdelte, in der er »ein ›irrationales‹, ›revoltierendes Bürgertum‹« zu erkennen glaubte.
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»Geschichte von unten«
Thompson beschrieb seine Arbeit als »Geschichte von unten«. Heute ist sie etabliert. Sie musste indes erst durchgesetzt werden. Die »Geschichte von unten« sei, so Thompson, per se oppositionell, da bis dahin die unteren Klassen nur aus der Perspektive von oben als arbeitsmarktpolitisches, polizeiliches usw. »Problem« betrachtet wurden. Es sei ein Paradox, dass England mit seinen »Trade Unions« zwar als Heimatland der weltweit ältesten Arbeiterbewegung gelte, aber keine adäquat-institutionalisierte »Labour History« (Geschichte der Arbeiterbewegung) hervorgebracht habe.
Aber auch als die »Labour History« endlich als Disziplin etabliert war, verfolgte Thompson ein alternatives Forschungsprogramm. Während das Gros ihrer Anhänger sich auf die Gewerkschafts- und Parteiengeschichte der Arbeiterbewegung konzentrierte, galt Thompsons Interesse darüber hinaus und vor allem der Kultur der Arbeiterklasse. Seine Geschichtsschreibung richtete sich dabei nicht nur gegen den Mainstream der Geschichtswissenschaft, sondern explizit auch gegen eine als solche wahrgenommene »marxistisch-leninistische Orthodoxie«. Dazu gehörte insbesondere die Wendung gegen eine rigide und mechanistische Interpretation der Basis-Überbau-Metapher, die dazu diente, Phänomene der Kultur, der Ideologie, der Politik aus der Ökonomie abzuleiten.
Ein auf diese Weise »orthodox erstarrter Marxismus« könne, so Thompson in seinem programmatischen Aufsatz »History from Below«, die »Beharrungskräfte des Nationalismus, das ganze Problem des Nazismus, das Problem des Stalinismus, der chinesischen Kulturrevolution, des Kalten Kriegs heute« nicht erklären, da diese »nicht aus einem Konflikt zwischen Produktionsweisen oder Wirtschaftsformen entspringen« würden. Entsprechend richtete sich Thompsons Forschung auf das, was er in »The Poverty of Theory« (1978), das dialektische »Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein« nannte.
Thompsons Kritik beschränkte sich indes nicht auf die während der Stalin-Zeit vollzogene Dogmatisierung des Marxschen Denkens, auf die Kritik eines ökonomistischen »Vulgärmarxismus«. Im Gegensatz zu vielen, die die späte Veröffentlichung der »Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie« als einen Ansatz zu solcher Kritik sahen, weil diese Vorarbeiten zum »Kapital« die Frage des Verhältnisses zwischen Theorie und Historie, zwischen begrifflicher Abstraktion und stofflicher Konkretion aufwarf, richtete sich Thompsons Kritik nicht gegen Stalin und auch nicht, je nach Spielart, gegen Lenin oder gegen Engels, sondern gegen Marx selbst.
Schon in seinem Buch über den britischen Sozialisten William Morris (1955) habe ihn, so Thompson rückblickend in einem Interview mit der Radical History Review, Marx’ Schweigen »in Bezug auf das, was Anthropologen Wertesysteme nennen würden«, beschäftigt. Er kritisierte eine »Degeneration des theoretischen Begriffsinstrumentarium im Mainstream-Marxismus – die Verkümmerung seiner Sensibilität«. Kurz, in Marx’ Hinwendung zur politischen Ökonomie sah Thompson den Verlust des humanistischen jungen Marx.
In »The Poverty of Theory« schreibt er: »Es steckt in Marx’ Begegnung mit der politischen Ökonomie etwas Obsessives. Denn was war diese ›politische Ökonomie‹? Sie bot keine Gesamtdarstellung der Gesellschaft oder ihrer Geschichte; beziehungsweise, wo sie es tat, da steckten die Schlussfolgerungen in ihren Prämissen(…).« »Von außen betrachtet« sei die politische Ökonomie Marx in den 1840er Jahren noch »als Ideologie oder, schlimmer noch, Apologetik erschienen. Er wandte sich ihr zu mit dem Ziel, sie umzustürzen. Aber als er mittendrin war, blieb die Struktur erhalten, ganz gleich, wieviele Begriffe er ins Wanken brachte (und wie oft)(…). Aus dem Postulat des menschlichen Eigeninteresses wurden die Logik und Formen des Kapitals, dem die Menschen unterworfen sind; das Kapital wurde entlarvt als der Aneigner von Mehrarbeit anstatt der gütige Spender von Vorteilen; Gruppen-›Interessen‹ wurden entschlüsselt als antagonistische Klassen; und Widersprüchlichkeit trat an die Stelle des allgemeinen Fortschritts. Und dennoch ist, was am Ende dabei herauskam, nicht der Umsturz der ›politischen Ökonomie‹, sondern eine andere ›politische Ökonomie‹.«
Mit der Wendung zur politischen Ökonomie jedenfalls sei bei Marx auch das Historische in den Hintergrund gerückt: Die »Marxsche Denkbewegung in den ›Grundrissen‹ ist in einer statischen, antihistorischen Struktur eingesperrt.« Thompson selbst schränkte diese Einschätzung zwar gleich wieder ein: mit dem Verweis auf die Marxsche Kritik der bürgerlichen Ökonomie und ihre abstrakte Gesetzesfixierung, auf Marx’ Betonung der Dialektik und seine Einschränkung, dass es sich bei den von ihm beobachteten Gesetzen (der Akkumulation, der Konkurrenz, der wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und des tendenziellen Falls der Profitrate etc.) um Tendenzgesetze handele. Darum sei auch in Marx’ Werk keine Teleologie, kein Geschichtsdeterminismus zu identifizieren. »Schließlich ermöglichten Marx und Engels die Geburt des historischen Materialismus.« Und dennoch war die Kritik ausgesprochen.
»Poverty of Theory«
Thompsons Kritik brachte ihn, wie er es sah, in einen schroffen Gegensatz zu einem anderen, sehr einflussreichen zeitgenössischen Denker des Marxismus, dem französischen Philosophen Louis Althusser. Während Thompson zum sozialistischen Humanismus des jungen Marx zurückkehren wollte, trachtete Althusser, der Vordenker des marxistischen Strukturalismus, danach, genau diesen Humanismus zu überwinden. Während Thompson das Geschichtliche betonte, hatte sich Althusser scharf gegen den humanistischen Marx gewandt, der unmarxistisch sei. Bei Marx bestehe, so Althusser, eine »Konfusion in bezug auf den Geschichtsbegriff«, insofern dieser nicht voll entwickelt sei. Die Aufgabe sei »den Begriff der geschichtlichen Zeit« zu entwickeln und »die Geschichtswissenschaft (…) als Theorie« zu denken. Auch betonte Althusser mehrfach, dass die Geschichte ein »Prozess ohne Subjekt« sei. So hatte Althusser für das Jahr 1845 einen »epistemologischen Bruch« konstatiert, der den jungen (links-)hegelianischen, humanistischen Marx vom marxistischen Marx unterscheide.
Marx hatte in »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« geschrieben: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Das war längst nach dem »epistemologischen Bruch«. Der Strukturalist Althusser, der von der Subjektlosigkeit der Geschichte ausging, schrieb dahingegen: »Man braucht kein großer Gelehrter zu sein, um zu begreifen, dass, wenn man zu den Proletariern sagt: ›Die Menschen machen die Geschichte‹, man auf kurz oder lang dazu beiträgt, sie zu verwirren und wehrlos zu machen. Man macht ihnen vor, dass sie als ›Menschen‹ allmächtig seien, während sie als Proletarier wehrlos der eigentlichen Allmacht gegenüberstehen, nämlich derjenigen der Bourgeoisie, die die materiellen Bedingungen (Produktionsmittel) und die politischen Bedingungen (den Staat), welche die Geschichte steuern, unter Kontrolle hält«. Für Althusser war die theoriearme Geschichtswissenschaft eine Form des Subjektivismus, wissenschaftsmethodisch mit dem Empirizismus verknüpft. Die Theorie hingegen sei selbst eine Form der Praxis, nämlich »theoretische Praxis« und diese wiederum Teil und Voraussetzung des revolutionären Klassenkampfs.
Thompson erschien diese Argumentation als der »theoretische Imperialismus« eines Philosophen mit begrenzten historischen Kenntnissen, der die reale Geschichte rückwirkend in seine theoretische Form zu pressen gedenke. Thompson unterstellte Althusser eine Haltung, die hinauslaufe auf: »Tschüss! Eure Arbeit langweilt mich. Ich geh zurück in mein Theater, um dort das Drehbuch einer besseren, revolutionären Geschichte zu schreiben.« In Althusser entdeckte Thompson also die Tendenz, abstrakte Gesellschaftsgesetze anzunehmen, die er schon beim späten Marx wahrgenommen hatte. »Wir müssen«, konstatierte er, »damit anfangen, uns einig zu sein, dass ›Das Kapital‹ kein historisches Werk ist.« Was beim späten Marx Tendenz sei, sei bei Althusser Doktrin: »Das Kapital ist eine operative Kategorie, das seine eigene Entwicklung gesetzmäßig vollzieht, und der Kapitalismus ist (…) der Effekt dieser Gesetze. Diese Analysemethode muss notwendigerweise antihistorisch sein, insofern die wirkliche Geschichte nur als Ausdruck von äußerlichen Gesetzen betrachtet werden kann (…). Das ist eine bemerkenswerte Denkweise für einen Materialisten, denn das Kapital ist zur Idee geworden, die sich in der Geschichte entfaltet (…).« Schon in den »Grundrissen« fänden sich – und »zwar nicht nur einmal oder zweimal, sondern in der gesamten Darstellungsweise – Beispiele für einen unveränderten Hegelianismus«.
Es sei der alte Friedrich Engels gewesen, der die historische Lücke und theoretische Schlagseite im Marxschen »Kapital« kurz vor seinem Tod erkannt habe. Engels habe begriffen, dass »nicht nur der historische Materialismus, sondern der gesamte Bereich, der dem ›Kapital‹ am nächsten steht, die Wirtschaftsgeschichte«, sich »noch ganz am Anfang« befunden habe. Und zur Untermauerung dieser These führte Thompson einen Engels-Brief an Franz Mehring an, aus dem er schlussfolgerte: »Mit zunehmender Dringlichkeit erschien ihm, dass das, was an Marx’ unvollständig gebliebenem Werk falsch sei, die Tatsache sei, dass es nicht historisch genug war«
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»Geschichte von unten«
Thompson beschrieb seine Arbeit als »Geschichte von unten«. Heute ist sie etabliert. Sie musste indes erst durchgesetzt werden. Die »Geschichte von unten« sei, so Thompson, per se oppositionell, da bis dahin die unteren Klassen nur aus der Perspektive von oben als arbeitsmarktpolitisches, polizeiliches usw. »Problem« betrachtet wurden. Es sei ein Paradox, dass England mit seinen »Trade Unions« zwar als Heimatland der weltweit ältesten Arbeiterbewegung gelte, aber keine adäquat-institutionalisierte »Labour History« (Geschichte der Arbeiterbewegung) hervorgebracht habe.
Aber auch als die »Labour History« endlich als Disziplin etabliert war, verfolgte Thompson ein alternatives Forschungsprogramm. Während das Gros ihrer Anhänger sich auf die Gewerkschafts- und Parteiengeschichte der Arbeiterbewegung konzentrierte, galt Thompsons Interesse darüber hinaus und vor allem der Kultur der Arbeiterklasse. Seine Geschichtsschreibung richtete sich dabei nicht nur gegen den Mainstream der Geschichtswissenschaft, sondern explizit auch gegen eine als solche wahrgenommene »marxistisch-leninistische Orthodoxie«. Dazu gehörte insbesondere die Wendung gegen eine rigide und mechanistische Interpretation der Basis-Überbau-Metapher, die dazu diente, Phänomene der Kultur, der Ideologie, der Politik aus der Ökonomie abzuleiten.
Ein auf diese Weise »orthodox erstarrter Marxismus« könne, so Thompson in seinem programmatischen Aufsatz »History from Below«, die »Beharrungskräfte des Nationalismus, das ganze Problem des Nazismus, das Problem des Stalinismus, der chinesischen Kulturrevolution, des Kalten Kriegs heute« nicht erklären, da diese »nicht aus einem Konflikt zwischen Produktionsweisen oder Wirtschaftsformen entspringen« würden. Entsprechend richtete sich Thompsons Forschung auf das, was er in »The Poverty of Theory« (1978), das dialektische »Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein« nannte.
Thompsons Kritik beschränkte sich indes nicht auf die während der Stalin-Zeit vollzogene Dogmatisierung des Marxschen Denkens, auf die Kritik eines ökonomistischen »Vulgärmarxismus«. Im Gegensatz zu vielen, die die späte Veröffentlichung der »Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie« als einen Ansatz zu solcher Kritik sahen, weil diese Vorarbeiten zum »Kapital« die Frage des Verhältnisses zwischen Theorie und Historie, zwischen begrifflicher Abstraktion und stofflicher Konkretion aufwarf, richtete sich Thompsons Kritik nicht gegen Stalin und auch nicht, je nach Spielart, gegen Lenin oder gegen Engels, sondern gegen Marx selbst.
Schon in seinem Buch über den britischen Sozialisten William Morris (1955) habe ihn, so Thompson rückblickend in einem Interview mit der Radical History Review, Marx’ Schweigen »in Bezug auf das, was Anthropologen Wertesysteme nennen würden«, beschäftigt. Er kritisierte eine »Degeneration des theoretischen Begriffsinstrumentarium im Mainstream-Marxismus – die Verkümmerung seiner Sensibilität«. Kurz, in Marx’ Hinwendung zur politischen Ökonomie sah Thompson den Verlust des humanistischen jungen Marx.
In »The Poverty of Theory« schreibt er: »Es steckt in Marx’ Begegnung mit der politischen Ökonomie etwas Obsessives. Denn was war diese ›politische Ökonomie‹? Sie bot keine Gesamtdarstellung der Gesellschaft oder ihrer Geschichte; beziehungsweise, wo sie es tat, da steckten die Schlussfolgerungen in ihren Prämissen(…).« »Von außen betrachtet« sei die politische Ökonomie Marx in den 1840er Jahren noch »als Ideologie oder, schlimmer noch, Apologetik erschienen. Er wandte sich ihr zu mit dem Ziel, sie umzustürzen. Aber als er mittendrin war, blieb die Struktur erhalten, ganz gleich, wieviele Begriffe er ins Wanken brachte (und wie oft)(…). Aus dem Postulat des menschlichen Eigeninteresses wurden die Logik und Formen des Kapitals, dem die Menschen unterworfen sind; das Kapital wurde entlarvt als der Aneigner von Mehrarbeit anstatt der gütige Spender von Vorteilen; Gruppen-›Interessen‹ wurden entschlüsselt als antagonistische Klassen; und Widersprüchlichkeit trat an die Stelle des allgemeinen Fortschritts. Und dennoch ist, was am Ende dabei herauskam, nicht der Umsturz der ›politischen Ökonomie‹, sondern eine andere ›politische Ökonomie‹.«
Mit der Wendung zur politischen Ökonomie jedenfalls sei bei Marx auch das Historische in den Hintergrund gerückt: Die »Marxsche Denkbewegung in den ›Grundrissen‹ ist in einer statischen, antihistorischen Struktur eingesperrt.« Thompson selbst schränkte diese Einschätzung zwar gleich wieder ein: mit dem Verweis auf die Marxsche Kritik der bürgerlichen Ökonomie und ihre abstrakte Gesetzesfixierung, auf Marx’ Betonung der Dialektik und seine Einschränkung, dass es sich bei den von ihm beobachteten Gesetzen (der Akkumulation, der Konkurrenz, der wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und des tendenziellen Falls der Profitrate etc.) um Tendenzgesetze handele. Darum sei auch in Marx’ Werk keine Teleologie, kein Geschichtsdeterminismus zu identifizieren. »Schließlich ermöglichten Marx und Engels die Geburt des historischen Materialismus.« Und dennoch war die Kritik ausgesprochen.
»Poverty of Theory«
Thompsons Kritik brachte ihn, wie er es sah, in einen schroffen Gegensatz zu einem anderen, sehr einflussreichen zeitgenössischen Denker des Marxismus, dem französischen Philosophen Louis Althusser. Während Thompson zum sozialistischen Humanismus des jungen Marx zurückkehren wollte, trachtete Althusser, der Vordenker des marxistischen Strukturalismus, danach, genau diesen Humanismus zu überwinden. Während Thompson das Geschichtliche betonte, hatte sich Althusser scharf gegen den humanistischen Marx gewandt, der unmarxistisch sei. Bei Marx bestehe, so Althusser, eine »Konfusion in bezug auf den Geschichtsbegriff«, insofern dieser nicht voll entwickelt sei. Die Aufgabe sei »den Begriff der geschichtlichen Zeit« zu entwickeln und »die Geschichtswissenschaft (…) als Theorie« zu denken. Auch betonte Althusser mehrfach, dass die Geschichte ein »Prozess ohne Subjekt« sei. So hatte Althusser für das Jahr 1845 einen »epistemologischen Bruch« konstatiert, der den jungen (links-)hegelianischen, humanistischen Marx vom marxistischen Marx unterscheide.
Marx hatte in »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« geschrieben: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.« Das war längst nach dem »epistemologischen Bruch«. Der Strukturalist Althusser, der von der Subjektlosigkeit der Geschichte ausging, schrieb dahingegen: »Man braucht kein großer Gelehrter zu sein, um zu begreifen, dass, wenn man zu den Proletariern sagt: ›Die Menschen machen die Geschichte‹, man auf kurz oder lang dazu beiträgt, sie zu verwirren und wehrlos zu machen. Man macht ihnen vor, dass sie als ›Menschen‹ allmächtig seien, während sie als Proletarier wehrlos der eigentlichen Allmacht gegenüberstehen, nämlich derjenigen der Bourgeoisie, die die materiellen Bedingungen (Produktionsmittel) und die politischen Bedingungen (den Staat), welche die Geschichte steuern, unter Kontrolle hält«. Für Althusser war die theoriearme Geschichtswissenschaft eine Form des Subjektivismus, wissenschaftsmethodisch mit dem Empirizismus verknüpft. Die Theorie hingegen sei selbst eine Form der Praxis, nämlich »theoretische Praxis« und diese wiederum Teil und Voraussetzung des revolutionären Klassenkampfs.
Thompson erschien diese Argumentation als der »theoretische Imperialismus« eines Philosophen mit begrenzten historischen Kenntnissen, der die reale Geschichte rückwirkend in seine theoretische Form zu pressen gedenke. Thompson unterstellte Althusser eine Haltung, die hinauslaufe auf: »Tschüss! Eure Arbeit langweilt mich. Ich geh zurück in mein Theater, um dort das Drehbuch einer besseren, revolutionären Geschichte zu schreiben.« In Althusser entdeckte Thompson also die Tendenz, abstrakte Gesellschaftsgesetze anzunehmen, die er schon beim späten Marx wahrgenommen hatte. »Wir müssen«, konstatierte er, »damit anfangen, uns einig zu sein, dass ›Das Kapital‹ kein historisches Werk ist.« Was beim späten Marx Tendenz sei, sei bei Althusser Doktrin: »Das Kapital ist eine operative Kategorie, das seine eigene Entwicklung gesetzmäßig vollzieht, und der Kapitalismus ist (…) der Effekt dieser Gesetze. Diese Analysemethode muss notwendigerweise antihistorisch sein, insofern die wirkliche Geschichte nur als Ausdruck von äußerlichen Gesetzen betrachtet werden kann (…). Das ist eine bemerkenswerte Denkweise für einen Materialisten, denn das Kapital ist zur Idee geworden, die sich in der Geschichte entfaltet (…).« Schon in den »Grundrissen« fänden sich – und »zwar nicht nur einmal oder zweimal, sondern in der gesamten Darstellungsweise – Beispiele für einen unveränderten Hegelianismus«.
Es sei der alte Friedrich Engels gewesen, der die historische Lücke und theoretische Schlagseite im Marxschen »Kapital« kurz vor seinem Tod erkannt habe. Engels habe begriffen, dass »nicht nur der historische Materialismus, sondern der gesamte Bereich, der dem ›Kapital‹ am nächsten steht, die Wirtschaftsgeschichte«, sich »noch ganz am Anfang« befunden habe. Und zur Untermauerung dieser These führte Thompson einen Engels-Brief an Franz Mehring an, aus dem er schlussfolgerte: »Mit zunehmender Dringlichkeit erschien ihm, dass das, was an Marx’ unvollständig gebliebenem Werk falsch sei, die Tatsache sei, dass es nicht historisch genug war«
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Klasse und Klassenkampf
Thompson verstand Marxismus als eine soziologische Geschichtswissenschaft im Geiste des historischen Materialismus. Er definierte den geschichtlichen Prozess als einen, der aus kollektivem menschlichen Handeln entsteht: »Die Vergangenheit der Menschen ist keine Aggregation getrennter Geschichten, sondern die einheitliche Summe von menschlichem Handeln.« Dabei sei jede Handlung eine in Beziehung zu anderen, genauso wie das Individuum allgemein vermittelt ist (durch den Markt, die Macht- und Unterordnungsverhältnisse etc.).
Klasse definierte Thompson in »Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse« so: »ein historisches Phänomen, das eine Reihe getrennter und scheinbar unverbundener Ereignisse vereint, sowohl in dem rohen Material der Erfahrung als auch im Bewusstsein.« Klasse, betonte Thompson, sei »ein historisches Phänomen« und nicht »eine ›Struktur‹, nicht einmal ein ›Begriff‹, sondern etwas, das sich in menschlichen Verhältnissen ereignet (und das sich als Ereignetes zeigen lässt).« Klasse definiere sich als »Menschen, wie sie ihre eigene Geschichte leben. Am Ende ist dies die einzige Definition.« Dabei könne Klasse, so fügte Thompson in seinem Aufsatz »The Pecularities of the English« hinzu, nur als Prozess und über eine Zeitdimension beobachtet werden. In diesem Sinne ist Thompsons Klassentheorie als eine dynamische und subjektive Klassentheorie zu begreifen. Die deutsche Übersetzung »Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse«, die Thompson verstanden wissen wollte als »eine Biografie der englischen Arbeiterklasse von ihrer Kindheit bis in ihr junges Erwachsenenleben«, vermochte dies nicht übersetzen.
Thompson richtete sich gegen drei Orthodoxien des Klassenbegriffs. Erstens gegen den bürgerlich-sozialistischen Fabianismus, der die Arbeiterklasse lediglich als »passive Opfer des laissez-faire«-Kapitalismus auffasste und entsprechend die Arbeiterklasse paternalistisch von oben betrachtete, wie es ja heute auch in großen Teilen einer sozialistischen Linken der Fall ist, die eher Fürsprecher sein will als Vehikel der Selbstorganisation. Zweitens gegen bürgerliche Funktionswissenschaften, die die Arbeiterklasse nur als »Arbeitskräfte, als Migranten oder als Daten in statistischen Reihen« ansehen. Beide Ansätze ließen die Arbeiterklasse passiv erscheinen und ihre »agency«, ihre Kämpfe um Handlungsfähigkeit unterschlagen. Thompson wollte sie dagegen als handelndes Subjekt ihrer eigenen Geschichte rehabilitieren. Das meinte »Geschichte von unten« im emphatischsten Sinne, in diesem Sinne war Thompson radikaler Demokrat jenseits liberaler Elitenherrschaft, jenseits der neuen »kritischen Kritik« der Frankfurter Schule und sektierisch-sozialistischen Avantgardismus.
Schließlich richtete er sich drittens gegen das, was er als die »›Pilgrim’s Progress‹-Orthodoxie« bezeichnete, in der sich die Wissenschaft auf die von ihm untersuchte Periode der Frühgeschichte der Arbeiterbewegung konzentrierte, um »die Pioniere des Wohlfahrtsstaates, die Urväter des sozialistischen Commonwealth oder (in jüngerer Zeit) frühe Beispiele für rationale Industriebeziehungen« zu identifizieren. Dieses Vorgehen, das die Geschichte von ihrem Ende her denke und interpretiere, als habe sie so ablaufen müssen, sei jedoch problematisch. Es biege nicht nur die Geschichte, wie sie sich eigentlich vollzog, zurecht, um sie den Begriffen aus der Gegenwart und den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen anzupassen. Es fehlten damit auch die dem Vergessen überantworteten »Straßen ins Nichts, die verlorenen Sachen und die Verlierer selbst«.
Thompson war davon überzeugt, dass Klassenbewusstsein aus kollektivem Handeln entsteht. Darin schloss er an den Marxschen Gedanken von der Revolution an, die die Revolutionäre schafft. In seinem Aufsatz »Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse?« schreibt Thompson: Die ProÂtagonisten im Klassenkampf »entdecken sich im Verlauf des Kampfes als Klassen«. Eigentlich existieren, so Thompson, die Klassen nicht vor dem Klassenkampf. Klassenbewustsein ist damit unmittelbar politisch. »Heuristisch gebraucht« sei »der Begriff ›Klasse‹ (…) untrennbar mit der Vorstellung des Klassenkampfs verbunden (…).« Seiner Ansicht nach habe »man dem Begriff ›Klasse‹ viel zuviel (meist ganz offensichtlich ahistorische) theoretische Beachtung geschenkt, dem Begriff ›Klassenkampf‹ dagegen zu wenig«. Letzterer sei dabei »in der Tat (…) sowohl der vorgängige als auch der universellere Begriff. Im Klartext: Klassen existieren nicht als gesonderte Wesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklasse finden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil: Die Menschen finden sich in einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise (wesentlich, aber nicht ausschließlich nach Produktionsverhältnissen) strukturiert ist, machen die Erfahrung, dass sie ausgebeutet werden (…), erkennen antagonistische Interessen, beginnen um diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich im Verlauf des Kampfes als Klassen und lernen diese Entdeckung allmählich als Klassenbewusstsein kennen. Klasse und Klasenbewusstsein sind immer die letzte, nicht die erste Stufe im realen historischen Prozess«.
Aktiv in der Friedensbewegung
In den frühen 1980er Jahren verabschiedete sich Thompson allerdings mehr und mehr aus der Beschäftigung mit der Historiografie der Klassen. Wesentlich wichtiger erschien ihm, sich in der Friedensbewegung zu engagieren. Thompson hatte 1944 an der grauenerregenden Schlacht am Monte Cassino teilgenommen. Der Krieg hatte Thompson so geprägt, dass er sein ganzes Wirken der Verhinderung eines neuen Weltkriegs widmete. Er wurde zum Wortführer der »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND), der laut Hobsbawm »mit Abstand wichtigsten Bewegung der britischen Linken nach 1945«.
Thompsons Engagement für den Frieden war mit einem solchen Zeitaufwand verbunden, dass er seine bisherige geschichtswissenschaftliche Arbeit stark vernachlässigte. Als er im Oktober 1985 an der New School for Social Research in New York seine »Agenda für eine radikale Geschichtswissenschaft« vorstellte, begann er seine Rede mit dem Satz: »Ich fühle mich, wenn ich hier spreche, wie ein Hochstapler, weil ich seit sechs Jahren nichts anderes als Friedensaktivisismus betreibe.« Er besitze nicht einmal mehr Ausweise für die britische Nationalbibliothek oder das britische Nationalarchiv, weil er im Auftrag der Friedensbewegung an »fünfhundert Sitzungen in 19 oder 20 Ländern« teilgenommen habe. Als Gründe für diese Entscheidung, »seine ganze Energie auf die Antiatombewegung, zu deren nationalem Star er wurde« (Hobsbawm), gerichtet zu haben, führte Thompson an: »unter der Kritik dieses Schattens eines Atomkriegs wird all das Sprechen über Geschichte und Kultur leer.«
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Klasse und Klassenkampf
Thompson verstand Marxismus als eine soziologische Geschichtswissenschaft im Geiste des historischen Materialismus. Er definierte den geschichtlichen Prozess als einen, der aus kollektivem menschlichen Handeln entsteht: »Die Vergangenheit der Menschen ist keine Aggregation getrennter Geschichten, sondern die einheitliche Summe von menschlichem Handeln.« Dabei sei jede Handlung eine in Beziehung zu anderen, genauso wie das Individuum allgemein vermittelt ist (durch den Markt, die Macht- und Unterordnungsverhältnisse etc.).
Klasse definierte Thompson in »Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse« so: »ein historisches Phänomen, das eine Reihe getrennter und scheinbar unverbundener Ereignisse vereint, sowohl in dem rohen Material der Erfahrung als auch im Bewusstsein.« Klasse, betonte Thompson, sei »ein historisches Phänomen« und nicht »eine ›Struktur‹, nicht einmal ein ›Begriff‹, sondern etwas, das sich in menschlichen Verhältnissen ereignet (und das sich als Ereignetes zeigen lässt).« Klasse definiere sich als »Menschen, wie sie ihre eigene Geschichte leben. Am Ende ist dies die einzige Definition.« Dabei könne Klasse, so fügte Thompson in seinem Aufsatz »The Pecularities of the English« hinzu, nur als Prozess und über eine Zeitdimension beobachtet werden. In diesem Sinne ist Thompsons Klassentheorie als eine dynamische und subjektive Klassentheorie zu begreifen. Die deutsche Übersetzung »Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse«, die Thompson verstanden wissen wollte als »eine Biografie der englischen Arbeiterklasse von ihrer Kindheit bis in ihr junges Erwachsenenleben«, vermochte dies nicht übersetzen.
Thompson richtete sich gegen drei Orthodoxien des Klassenbegriffs. Erstens gegen den bürgerlich-sozialistischen Fabianismus, der die Arbeiterklasse lediglich als »passive Opfer des laissez-faire«-Kapitalismus auffasste und entsprechend die Arbeiterklasse paternalistisch von oben betrachtete, wie es ja heute auch in großen Teilen einer sozialistischen Linken der Fall ist, die eher Fürsprecher sein will als Vehikel der Selbstorganisation. Zweitens gegen bürgerliche Funktionswissenschaften, die die Arbeiterklasse nur als »Arbeitskräfte, als Migranten oder als Daten in statistischen Reihen« ansehen. Beide Ansätze ließen die Arbeiterklasse passiv erscheinen und ihre »agency«, ihre Kämpfe um Handlungsfähigkeit unterschlagen. Thompson wollte sie dagegen als handelndes Subjekt ihrer eigenen Geschichte rehabilitieren. Das meinte »Geschichte von unten« im emphatischsten Sinne, in diesem Sinne war Thompson radikaler Demokrat jenseits liberaler Elitenherrschaft, jenseits der neuen »kritischen Kritik« der Frankfurter Schule und sektierisch-sozialistischen Avantgardismus.
Schließlich richtete er sich drittens gegen das, was er als die »›Pilgrim’s Progress‹-Orthodoxie« bezeichnete, in der sich die Wissenschaft auf die von ihm untersuchte Periode der Frühgeschichte der Arbeiterbewegung konzentrierte, um »die Pioniere des Wohlfahrtsstaates, die Urväter des sozialistischen Commonwealth oder (in jüngerer Zeit) frühe Beispiele für rationale Industriebeziehungen« zu identifizieren. Dieses Vorgehen, das die Geschichte von ihrem Ende her denke und interpretiere, als habe sie so ablaufen müssen, sei jedoch problematisch. Es biege nicht nur die Geschichte, wie sie sich eigentlich vollzog, zurecht, um sie den Begriffen aus der Gegenwart und den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen anzupassen. Es fehlten damit auch die dem Vergessen überantworteten »Straßen ins Nichts, die verlorenen Sachen und die Verlierer selbst«.
Thompson war davon überzeugt, dass Klassenbewusstsein aus kollektivem Handeln entsteht. Darin schloss er an den Marxschen Gedanken von der Revolution an, die die Revolutionäre schafft. In seinem Aufsatz »Die englische Gesellschaft im 18. Jahrhundert: Klassenkampf ohne Klasse?« schreibt Thompson: Die ProÂtagonisten im Klassenkampf »entdecken sich im Verlauf des Kampfes als Klassen«. Eigentlich existieren, so Thompson, die Klassen nicht vor dem Klassenkampf. Klassenbewustsein ist damit unmittelbar politisch. »Heuristisch gebraucht« sei »der Begriff ›Klasse‹ (…) untrennbar mit der Vorstellung des Klassenkampfs verbunden (…).« Seiner Ansicht nach habe »man dem Begriff ›Klasse‹ viel zuviel (meist ganz offensichtlich ahistorische) theoretische Beachtung geschenkt, dem Begriff ›Klassenkampf‹ dagegen zu wenig«. Letzterer sei dabei »in der Tat (…) sowohl der vorgängige als auch der universellere Begriff. Im Klartext: Klassen existieren nicht als gesonderte Wesenheiten, die sich umblicken, eine Feindklasse finden und dann zu kämpfen beginnen. Im Gegenteil: Die Menschen finden sich in einer Gesellschaft, die in bestimmter Weise (wesentlich, aber nicht ausschließlich nach Produktionsverhältnissen) strukturiert ist, machen die Erfahrung, dass sie ausgebeutet werden (…), erkennen antagonistische Interessen, beginnen um diese Streitpunkte zu kämpfen, entdecken sich im Verlauf des Kampfes als Klassen und lernen diese Entdeckung allmählich als Klassenbewusstsein kennen. Klasse und Klasenbewusstsein sind immer die letzte, nicht die erste Stufe im realen historischen Prozess«.
Aktiv in der Friedensbewegung
In den frühen 1980er Jahren verabschiedete sich Thompson allerdings mehr und mehr aus der Beschäftigung mit der Historiografie der Klassen. Wesentlich wichtiger erschien ihm, sich in der Friedensbewegung zu engagieren. Thompson hatte 1944 an der grauenerregenden Schlacht am Monte Cassino teilgenommen. Der Krieg hatte Thompson so geprägt, dass er sein ganzes Wirken der Verhinderung eines neuen Weltkriegs widmete. Er wurde zum Wortführer der »Campaign for Nuclear Disarmament« (CND), der laut Hobsbawm »mit Abstand wichtigsten Bewegung der britischen Linken nach 1945«.
Thompsons Engagement für den Frieden war mit einem solchen Zeitaufwand verbunden, dass er seine bisherige geschichtswissenschaftliche Arbeit stark vernachlässigte. Als er im Oktober 1985 an der New School for Social Research in New York seine »Agenda für eine radikale Geschichtswissenschaft« vorstellte, begann er seine Rede mit dem Satz: »Ich fühle mich, wenn ich hier spreche, wie ein Hochstapler, weil ich seit sechs Jahren nichts anderes als Friedensaktivisismus betreibe.« Er besitze nicht einmal mehr Ausweise für die britische Nationalbibliothek oder das britische Nationalarchiv, weil er im Auftrag der Friedensbewegung an »fünfhundert Sitzungen in 19 oder 20 Ländern« teilgenommen habe. Als Gründe für diese Entscheidung, »seine ganze Energie auf die Antiatombewegung, zu deren nationalem Star er wurde« (Hobsbawm), gerichtet zu haben, führte Thompson an: »unter der Kritik dieses Schattens eines Atomkriegs wird all das Sprechen über Geschichte und Kultur leer.«
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