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•NEUES THEMA21.01.2021, 17:56 Uhr
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• China gewinnt im Systemvergleich
Q: Link ...jetzt anmelden!
Lange Zeit gingen Sozialwissenschaftler davon aus, dass das liberale Gesellschaftsmodell, bestehend aus den Elementen individueller Selbstbestimmung, Demokratie, kapitalistischer Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat, der Königsweg gesellschaftlicher Entwicklung und Modernisierung sei. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien der Siegeszug des Westens unaufhaltsam zu sein.
Doch es kam anders. Existierende liberale Demokratien erwiesen sich als weitaus instabiler und gefährdeter, wie die autokratischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten, Polen oder Ungarn zeigen. Und bestehende Autokratien wie vor allem das durch die kommunistische Partei regierte China entpuppten sich als enorm erfolgreich. In einem atemberaubenden Tempo hat das Reich der Mitte in fast allen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung den Abstand zu den westlichen Gesellschaften verringert. Dies gilt für die Wohlstandsentwicklung und die Anzahl der Menschen, die jenseits der Armutsgrenze leben, ebenso wie für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur und neuer Technologien, für die Wissenschaftsentwicklung, die Entwicklung des Bildungssektors und den Aufbau von Stadtkernen mit globaler Strahlkraft wie in Schanghai.
Diese Entwicklungen haben auch die sozialwissenschaftliche Forschung nicht unbeeindruckt gelassen. Nicht mehr die Diffusion des westlichen Demokratiemodells steht heute im Fokus der Analyse, sondern die inneren und äußeren Herausforderer des liberalen Gesellschaftsmodells, allen voran das autoritär regierte China. China ist heute mehr als nur der Gegenpol in einem multipolaren Machtgefüge der internationalen Politik. Es ist zum zentralen Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme aufgestiegen, so dass selbst die EU den Begriff der Systemkonkurrenz reaktiviert hat.
Dabei geht es in der Konkurrenz der Systeme nicht nur um Wachstum und Entwicklung. Zur Disposition steht letztlich die Legitimität unterschiedlicher Gesellschaftssysteme. Und diese speist sich aus zwei Faktoren. Was leisten politische Ordnungen für ihre Bürger, und in welchem Maße sind sie demokratisch und erlauben ihren Bürgern, über ihre eigenen Angelegenheiten zu entscheiden? Vor allem für das zuerst genannte Kriterium war das Jahr 2020 kein gutes Jahr für den Westen. Es wird in die Geschichte als dasjenige Jahr eingehen, in dem China den Abstand zu den westlichen Gesellschaften aufgrund einer deutlich besser gelungenen Bewältigung der Corona-Pandemie erheblich verkleinert hat. Trotzdem könnte es voreilig sein, China als Jahressieger in der Systemkonkurrenz auszurufen.
Der Aufstieg Chinas hat eindrucksvoll gezeigt, dass sich zentrale, von den Bürgern einer Gesellschaft wertgeschätzte Ziele auch ohne Demokratie und mit einer autoritären kommunistischen Parteiführung erreichen lassen. Zu diesen gesellschaftlichen Gütern gehören unter anderem die Wohlstandssteigerung und die Verbesserung der Konsummöglichkeiten, die innere und äußere Sicherheit, die Verbesserung der Bildung und nicht zuletzt eine gute Gesundheitsversorgung. Sind Gesellschaftsordnungen erfolgreich im Erreichen der skizzierten Ziele, dann sind die Bürger zufrieden und unterstützen ihr Gesellschaftssystem, auch wenn sie selbst nur wenig Einfluss auf die Entscheidungen haben. Eine gute Performanz sichert zumindest partiell die Legitimität einer Gesellschaftsordnung.
China verkörpert einen neuartigen Typus eines autokratischen Systems, der im Gegensatz zu früheren systemischen Herausforderern der demokratischen Ordnung beides zugleich ist: anders und sehr erfolgreich. Dass China anders als jede liberale Ordnung funktioniert, hat sich in den vergangenen Jahren am augenfälligsten an der Unterdrückung der Uiguren und der Demokratiebewegung in Hongkong gezeigt. Zugleich ist das System enorm erfolgreich. Wer innerhalb von drei Jahrzehnten mehrere hundert Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit, kann auf einen historisch einmaligen Erfolg verweisen.
Das chinesische System ist mehr als nur ein Selbstbedienungsladen der Herrschenden. Und wer ein solches Ausmaß an gesellschaftlicher und politischer Veränderung zulässt, wie das China seit einigen Jahrzehnten tut, ist mehr als eine plutokratische Diktatur, die nur durch Angst der Bevölkerung und eine Kooptation der Eliten zusammengehalten wird. Sie unterscheidet sich auch von den totalitären Apparaten des Nationalsozialismus und des Stalinismus, die die Gesellschaft in eine allumfassende Ideologie gepresst haben. China ist eine technokratische Autokratie mit einer erkennbaren Gemeinwohlorientierung und einer Verpflichtung auf den Erfolg. Ähnlich gelagerte Autokratien gibt es in Singapur oder Vietnam.
Auf den ersten Blick ist China der eindeutige Gewinner beim zentralen Thema des Jahres. Die chinesischen Antworten auf die Covid-19-Pandemie und die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise erwiesen sich als besonders effektiv, wie ein Vergleich der großen Akteure des Weltgeschehens – die Vereinigten Staaten, Europa und China – eindrucksvoll zeigt.
Lektionen aus der Pandemie
Dies gilt zum einen für die Frage, in welchem Maße es gelungen ist, die Pandemie einzuhegen und die Zahl der Todesopfer zu begrenzen. Am Ende des Jahres 2020 verzeichneten die Vereinigten Staaten fast 350 000 Tote bei einer Bevölkerungszahl von fast 330 Millionen Einwohnern; die EU (inklusive Großbritannien) kommt insgesamt auf fast 430 000 Tote bei einer Bevölkerungszahl von 513 Millionen. Und China? Rund 5000 Tote bei einer Einwohnerzahl von fast 1,4 Milliarden. Die Differenz ist gigantisch und das Ergebnis für westlich-liberale Demokratien wenig vorteilhaft, auch wenn man den Zahlen aus China nicht in Gänze trauen kann.
Da die Pandemie in den Vereinigten Staaten und in Europa im Unterschied zu China zum gegenwärtigen Zeitpunkt in keiner Weise eingedämmt ist, wird sich im Jahr 2021 die Bilanz zu Ungunsten der westlichen Gesellschaften nochmals verschlechtern.
Aber nicht nur gesundheitspolitisch ist China in der Corona-Krise beeindruckend erfolgreich, auch die Bilanz bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Krise spricht eine klare Sprache. Gerade weil es China und einigen anderen asiatischen Ländern gelungen ist, die Pandemie einzuhegen, konnte das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben nach relativ kurzem Stillstand wieder aufgenommen werden, wenn auch unter verstärkten Kontrollbedingungen, während die westlichen Gesellschaften durch halbherzige Maßnahmen massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden hinnehmen mussten.
Fast alle Wirtschaftsindikatoren zeigen für China seit dem Sommer nach oben, so dass Experten für das Jahr 2020 insgesamt ein Wachstum von rund zwei Prozent vorausgesagt haben. Die Wirtschaft der Länder des Euroraums wird 2020 Prognosen zufolge hingegen um rund acht Prozent schrumpfen, die der Vereinigten Staaten um ungefähr 3,8 Prozent. Hinter den spröden Zahlen verbergen sich größere gesellschaftliche Verwerfungen wie Armut, Verschuldung, Arbeitslosigkeit und eine vergrößerte soziale Ungleichheit. Zur Kompensation des Wirtschaftseinbruchs haben sich die westlichen Staaten in einem hohen Maße verschuldet, was die zukünftigen Handlungsspielräume der Politik begrenzen und zukünftige Generationen belasten und binden wird.
Gesellschaftssysteme sind kein Selbstzweck. Sie müssen sich unter anderem daran messen lassen, wie sie Krisen bewältigen. Mit Blick auf die Pandemie sieht die Bilanz des Westens im Jahr 2020 nicht gut aus. Die großen Unterschiede in der Bewältigung der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Folgen lassen China als Legitimationssieger aus dem Systemwettbewerb des Jahres 2020 erscheinen.
Doch ein solcher Schluss ist vorschnell und übersieht zwei notwendige Differenzierungen. Erstens spricht manches dafür, dass nicht liberale Demokratie als solche versagt haben, sondern besonders diejenigen Staaten innerhalb der Gruppe der liberalen Demokratien, die wie die Vereinigten Staaten und Brasilien durch autoritär-populistische Regierungen geführt werden. Das wiederum verweist auf einen zweiten wichtigen Unterschied. Politiken, die zu einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung geführt haben, sind nicht inkompatibel mit liberalen Demokratien.
Was also hätte der Westen anders machen können, und was kann man für zukünftige Pandemien lernen? Der Einwand, dass nur autoritäre Regime in der Lage sind, durch Überwachung der Bürger und Zwangsmaßnahmen die Pandemie effektiv zu begrenzen, greift zu kurz, da auch Länder wie Japan, Taiwan, Neuseeland oder Südkorea die Ausbreitung des Virus sehr gut im Griff haben. In Südkorea, einem Land mit 52 Millionen Einwohnern, wurden beispielsweise bis Ende Dezember nur rund 950 Corona-Tote registriert. Der gesellschaftliche Lockdown fand nur kurzfristig statt, was größere wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen verhindert hat.
Lange Zeit gingen Sozialwissenschaftler davon aus, dass das liberale Gesellschaftsmodell, bestehend aus den Elementen individueller Selbstbestimmung, Demokratie, kapitalistischer Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaat, der Königsweg gesellschaftlicher Entwicklung und Modernisierung sei. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schien der Siegeszug des Westens unaufhaltsam zu sein.
Doch es kam anders. Existierende liberale Demokratien erwiesen sich als weitaus instabiler und gefährdeter, wie die autokratischen Entwicklungen in den Vereinigten Staaten, Polen oder Ungarn zeigen. Und bestehende Autokratien wie vor allem das durch die kommunistische Partei regierte China entpuppten sich als enorm erfolgreich. In einem atemberaubenden Tempo hat das Reich der Mitte in fast allen Bereichen der gesellschaftlichen Entwicklung den Abstand zu den westlichen Gesellschaften verringert. Dies gilt für die Wohlstandsentwicklung und die Anzahl der Menschen, die jenseits der Armutsgrenze leben, ebenso wie für die Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur und neuer Technologien, für die Wissenschaftsentwicklung, die Entwicklung des Bildungssektors und den Aufbau von Stadtkernen mit globaler Strahlkraft wie in Schanghai.
Diese Entwicklungen haben auch die sozialwissenschaftliche Forschung nicht unbeeindruckt gelassen. Nicht mehr die Diffusion des westlichen Demokratiemodells steht heute im Fokus der Analyse, sondern die inneren und äußeren Herausforderer des liberalen Gesellschaftsmodells, allen voran das autoritär regierte China. China ist heute mehr als nur der Gegenpol in einem multipolaren Machtgefüge der internationalen Politik. Es ist zum zentralen Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme aufgestiegen, so dass selbst die EU den Begriff der Systemkonkurrenz reaktiviert hat.
Dabei geht es in der Konkurrenz der Systeme nicht nur um Wachstum und Entwicklung. Zur Disposition steht letztlich die Legitimität unterschiedlicher Gesellschaftssysteme. Und diese speist sich aus zwei Faktoren. Was leisten politische Ordnungen für ihre Bürger, und in welchem Maße sind sie demokratisch und erlauben ihren Bürgern, über ihre eigenen Angelegenheiten zu entscheiden? Vor allem für das zuerst genannte Kriterium war das Jahr 2020 kein gutes Jahr für den Westen. Es wird in die Geschichte als dasjenige Jahr eingehen, in dem China den Abstand zu den westlichen Gesellschaften aufgrund einer deutlich besser gelungenen Bewältigung der Corona-Pandemie erheblich verkleinert hat. Trotzdem könnte es voreilig sein, China als Jahressieger in der Systemkonkurrenz auszurufen.
Der Aufstieg Chinas hat eindrucksvoll gezeigt, dass sich zentrale, von den Bürgern einer Gesellschaft wertgeschätzte Ziele auch ohne Demokratie und mit einer autoritären kommunistischen Parteiführung erreichen lassen. Zu diesen gesellschaftlichen Gütern gehören unter anderem die Wohlstandssteigerung und die Verbesserung der Konsummöglichkeiten, die innere und äußere Sicherheit, die Verbesserung der Bildung und nicht zuletzt eine gute Gesundheitsversorgung. Sind Gesellschaftsordnungen erfolgreich im Erreichen der skizzierten Ziele, dann sind die Bürger zufrieden und unterstützen ihr Gesellschaftssystem, auch wenn sie selbst nur wenig Einfluss auf die Entscheidungen haben. Eine gute Performanz sichert zumindest partiell die Legitimität einer Gesellschaftsordnung.
China verkörpert einen neuartigen Typus eines autokratischen Systems, der im Gegensatz zu früheren systemischen Herausforderern der demokratischen Ordnung beides zugleich ist: anders und sehr erfolgreich. Dass China anders als jede liberale Ordnung funktioniert, hat sich in den vergangenen Jahren am augenfälligsten an der Unterdrückung der Uiguren und der Demokratiebewegung in Hongkong gezeigt. Zugleich ist das System enorm erfolgreich. Wer innerhalb von drei Jahrzehnten mehrere hundert Millionen Menschen aus der absoluten Armut befreit, kann auf einen historisch einmaligen Erfolg verweisen.
Das chinesische System ist mehr als nur ein Selbstbedienungsladen der Herrschenden. Und wer ein solches Ausmaß an gesellschaftlicher und politischer Veränderung zulässt, wie das China seit einigen Jahrzehnten tut, ist mehr als eine plutokratische Diktatur, die nur durch Angst der Bevölkerung und eine Kooptation der Eliten zusammengehalten wird. Sie unterscheidet sich auch von den totalitären Apparaten des Nationalsozialismus und des Stalinismus, die die Gesellschaft in eine allumfassende Ideologie gepresst haben. China ist eine technokratische Autokratie mit einer erkennbaren Gemeinwohlorientierung und einer Verpflichtung auf den Erfolg. Ähnlich gelagerte Autokratien gibt es in Singapur oder Vietnam.
Auf den ersten Blick ist China der eindeutige Gewinner beim zentralen Thema des Jahres. Die chinesischen Antworten auf die Covid-19-Pandemie und die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise erwiesen sich als besonders effektiv, wie ein Vergleich der großen Akteure des Weltgeschehens – die Vereinigten Staaten, Europa und China – eindrucksvoll zeigt.
Lektionen aus der Pandemie
Dies gilt zum einen für die Frage, in welchem Maße es gelungen ist, die Pandemie einzuhegen und die Zahl der Todesopfer zu begrenzen. Am Ende des Jahres 2020 verzeichneten die Vereinigten Staaten fast 350 000 Tote bei einer Bevölkerungszahl von fast 330 Millionen Einwohnern; die EU (inklusive Großbritannien) kommt insgesamt auf fast 430 000 Tote bei einer Bevölkerungszahl von 513 Millionen. Und China? Rund 5000 Tote bei einer Einwohnerzahl von fast 1,4 Milliarden. Die Differenz ist gigantisch und das Ergebnis für westlich-liberale Demokratien wenig vorteilhaft, auch wenn man den Zahlen aus China nicht in Gänze trauen kann.
Da die Pandemie in den Vereinigten Staaten und in Europa im Unterschied zu China zum gegenwärtigen Zeitpunkt in keiner Weise eingedämmt ist, wird sich im Jahr 2021 die Bilanz zu Ungunsten der westlichen Gesellschaften nochmals verschlechtern.
Aber nicht nur gesundheitspolitisch ist China in der Corona-Krise beeindruckend erfolgreich, auch die Bilanz bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen der Krise spricht eine klare Sprache. Gerade weil es China und einigen anderen asiatischen Ländern gelungen ist, die Pandemie einzuhegen, konnte das wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben nach relativ kurzem Stillstand wieder aufgenommen werden, wenn auch unter verstärkten Kontrollbedingungen, während die westlichen Gesellschaften durch halbherzige Maßnahmen massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Schäden hinnehmen mussten.
Fast alle Wirtschaftsindikatoren zeigen für China seit dem Sommer nach oben, so dass Experten für das Jahr 2020 insgesamt ein Wachstum von rund zwei Prozent vorausgesagt haben. Die Wirtschaft der Länder des Euroraums wird 2020 Prognosen zufolge hingegen um rund acht Prozent schrumpfen, die der Vereinigten Staaten um ungefähr 3,8 Prozent. Hinter den spröden Zahlen verbergen sich größere gesellschaftliche Verwerfungen wie Armut, Verschuldung, Arbeitslosigkeit und eine vergrößerte soziale Ungleichheit. Zur Kompensation des Wirtschaftseinbruchs haben sich die westlichen Staaten in einem hohen Maße verschuldet, was die zukünftigen Handlungsspielräume der Politik begrenzen und zukünftige Generationen belasten und binden wird.
Gesellschaftssysteme sind kein Selbstzweck. Sie müssen sich unter anderem daran messen lassen, wie sie Krisen bewältigen. Mit Blick auf die Pandemie sieht die Bilanz des Westens im Jahr 2020 nicht gut aus. Die großen Unterschiede in der Bewältigung der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Folgen lassen China als Legitimationssieger aus dem Systemwettbewerb des Jahres 2020 erscheinen.
Doch ein solcher Schluss ist vorschnell und übersieht zwei notwendige Differenzierungen. Erstens spricht manches dafür, dass nicht liberale Demokratie als solche versagt haben, sondern besonders diejenigen Staaten innerhalb der Gruppe der liberalen Demokratien, die wie die Vereinigten Staaten und Brasilien durch autoritär-populistische Regierungen geführt werden. Das wiederum verweist auf einen zweiten wichtigen Unterschied. Politiken, die zu einer erfolgreichen Pandemiebekämpfung geführt haben, sind nicht inkompatibel mit liberalen Demokratien.
Was also hätte der Westen anders machen können, und was kann man für zukünftige Pandemien lernen? Der Einwand, dass nur autoritäre Regime in der Lage sind, durch Überwachung der Bürger und Zwangsmaßnahmen die Pandemie effektiv zu begrenzen, greift zu kurz, da auch Länder wie Japan, Taiwan, Neuseeland oder Südkorea die Ausbreitung des Virus sehr gut im Griff haben. In Südkorea, einem Land mit 52 Millionen Einwohnern, wurden beispielsweise bis Ende Dezember nur rund 950 Corona-Tote registriert. Der gesellschaftliche Lockdown fand nur kurzfristig statt, was größere wirtschaftliche und gesellschaftliche Verwerfungen verhindert hat.
•NEUER BEITRAG21.01.2021, 17:57 Uhr
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Sicherlich konnte Südkorea wie andere asiatische Länder auf Erfahrungen bei der Bewältigung vorheriger Pandemien zurückgreifen, die westlichen Gesellschaften zu Beginn der Krise und während der ersten Welle fehlten. Die westlichen Länder haben es nach der ersten Welle im Sommer 2020 aber versäumt, von den Erfolgen vor allem asiatischer Länder zu lernen und geeignete Maßnahmen für den Herbst und die zweite Infektionswelle zu treffen. Man begnügte sich mit dauerhaften Appellen an die Einsicht der Bürger und die Einhaltung der sogenannten AHA-L+A-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske, Lüften, App-Nutzung). Das Erfolgsrezept besteht aber in einer zusätzlichen und konsequenten Umsetzung der Trias „Testen, nachverfolgen und isolieren“. Dazu muss man erstens die Testkapazitäten deutlich ausbauen und entsprechende Tests durchführen. Die Investition in besser digitalisierte, effektive und leistungsfähige Gesundheitsämter hätte Priorität genießen müssen.
Zweitens kommt man nicht darum herum, Informationen über das Bewegungsverhalten der Bürger und ihre Kontakte zu erheben. Dies stellt einen zumindest temporären Eingriff in die Privatsphäre dar. Wie bei allen politischen Zielkonflikten wäre hier eine öffentlich diskutierte Güterabwägung zwischen den drei zentralen Zielen „Vermeidung hoher Infektionen und einer hohen Sterblichkeit“, „Vermeidung eines Lockdowns mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden“ und „Schutz der informationellen Privatsphäre“ nötig gewesen. Eine solche Diskussion hat faktisch nicht stattgefunden. Stattdessen wurde sehr früh die Privatsphäre als sakrosankt gegenüber staatlichen Eingriffen erklärt. Wie die Erfahrungen demokratisch-asiatischer Länder aber zeigen, lassen sich durchaus Möglichkeiten finden, das Tracking von Personen mit dem Schutz der Privatsphäre zu verbinden.
Drittens kommt es darauf an, Infizierte nach einer möglichst schnellen Identifikation zu isolieren. Ein fast sanktionsloser Appell „Jetzt bleib mal schön zu Hause“ reicht nicht aus, um einer Verbreitung des Virus vorzubeugen.
Insbesondere das zweite Versäumnis verweist auf eine eigenartige Schieflage bei der Gefahreneinschätzung im Zuge der Digitalisierung innerhalb des Westens. Der Missbrauch von Daten ist fraglos ein reales Problem. In Westeuropa und Nordamerika neigt man vor diesem Hintergrund dazu, dem Staat digitale Eingriffe in die Privatsphäre weitgehend zu untersagen, aber zugleich der Kolonisierung der persönlichen Daten durch private Digitalgiganten tatenlos zuzusehen. Das ist der falsche Weg. Es bedarf einer scharfen Kontrolle der Unternehmen bei gleichzeitiger Handlungsermöglichung des Staates, insoweit er Gemeinwohlzwecke wie Gesundheit oder Verbrechensbekämpfung verfolgt.
Politikfehler und Systemfehler
Dabei ist natürlich auch der Staat dem Recht unterworfen und muss einer scharfen Kontrolle unterliegen. Für jeden Euro, der für den Aufbau staatlicher Digitalkompetenz ausgegeben wird, muss ein Euro in die Missbrauchskontrolle fließen. Das entspräche der liberalen Logik der Gewaltenkontrolle. Die Grundeinsicht des liberalen Gesellschaftsmodells, wonach die Gesellschaft einen funktionstüchtigen und kompetenten Leviathan benötigt, der aber einer permanenten internen Kontrolle im Zuge der Gewaltenteilung unterliegen muss, damit die staatliche Gewalt nicht missbräuchlich eingesetzt werden kann, ist im Zuge der Digitalisierung vereinseitigt worden. Bereits der Kompetenzaufbau wird verhindert – zur Freude privater Akteure, die mit dem Missbrauch viel Geld verdienen.
Der Misserfolg des Westens bei der Pandemiebekämpfung liegt also nicht unbedingt in den Strukturmerkmalen des liberalen Gesellschaftssystems begründet, sondern in einer verfehlten Politik und einem einseitigen Umgang mit den Gefahren der Digitalisierung von Daten. Dies ändert natürlich nichts an der Bilanz. Allzu freudig attribuiert die chinesische Regierung den Erfolg ihrer Krisenbewältigung den Systemmerkmalen des eigenen Regimes.
Die Schwäche westlicher Gesellschaften bei der Bekämpfung der Pandemie sowie die innere Spaltung des Westens hat auch zur Folge, dass diese so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, dass sie das eigentliche Legitimationsdefizit des chinesischen Systems, nämlich die fehlende demokratische Legitimation, kaum noch thematisieren. Symptomatisch dafür ist die politische Aufmerksamkeit, die die Demokratiebewegung in Hongkong in der Weltöffentlichkeit vor und während der Pandemie genossen hat. Die Massenproteste gegen die pekingnahe Regierung in Hongkong und die Einflussnahme Pekings auf die Geschehnisse in Hongkong begannen im Sommer 2019 und entzündeten sich an dem sogenannten Auslieferungsgesetz. Sie wurden getragen von der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung Hongkongs, wie der Ausgang der Kommunalwahlen im November 2019 gezeigt hat. Und sie erhielten eine sehr breite Unterstützung durch die Politik und Öffentlichkeit in fast allen demokratischen Gesellschaften.
Mit dem Ausbruch der Pandemie war es damit leider weitgehend vorbei. Die chinesische Regierung verschärfte im Sommer 2020 unter Umgehung des Hongkonger Parlaments mit dem Gesetz zur nationalen Sicherheit den Zugriff auf die Demokratiebewegung in Hongkong. Das Gesetz erlaubt es, Protestierende strafrechtlich zu verfolgen. Und nur wenige Tage nach Verabschiedung gab es in Hongkong die ersten Festnahmen. Die westlichen Gesellschaften waren derweil mit sich selbst und ihrer missglückten Pandemiepolitik beschäftigt und fanden keine Kraft, das Vorgehen Chinas großflächig zu skandalisieren. Die Achillesferse des chinesischen Gesellschaftsmodells, bestehend aus einer fehlenden demokratischen Legitimation, blieb damit im Jahr 2020 unterthematisiert.
Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie an der FU Berlin, Michael Zürn ist dort Professor für Internationale Beziehungen, außerdem ist er Direktor für Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin.
Zweitens kommt man nicht darum herum, Informationen über das Bewegungsverhalten der Bürger und ihre Kontakte zu erheben. Dies stellt einen zumindest temporären Eingriff in die Privatsphäre dar. Wie bei allen politischen Zielkonflikten wäre hier eine öffentlich diskutierte Güterabwägung zwischen den drei zentralen Zielen „Vermeidung hoher Infektionen und einer hohen Sterblichkeit“, „Vermeidung eines Lockdowns mit hohen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgeschäden“ und „Schutz der informationellen Privatsphäre“ nötig gewesen. Eine solche Diskussion hat faktisch nicht stattgefunden. Stattdessen wurde sehr früh die Privatsphäre als sakrosankt gegenüber staatlichen Eingriffen erklärt. Wie die Erfahrungen demokratisch-asiatischer Länder aber zeigen, lassen sich durchaus Möglichkeiten finden, das Tracking von Personen mit dem Schutz der Privatsphäre zu verbinden.
Drittens kommt es darauf an, Infizierte nach einer möglichst schnellen Identifikation zu isolieren. Ein fast sanktionsloser Appell „Jetzt bleib mal schön zu Hause“ reicht nicht aus, um einer Verbreitung des Virus vorzubeugen.
Insbesondere das zweite Versäumnis verweist auf eine eigenartige Schieflage bei der Gefahreneinschätzung im Zuge der Digitalisierung innerhalb des Westens. Der Missbrauch von Daten ist fraglos ein reales Problem. In Westeuropa und Nordamerika neigt man vor diesem Hintergrund dazu, dem Staat digitale Eingriffe in die Privatsphäre weitgehend zu untersagen, aber zugleich der Kolonisierung der persönlichen Daten durch private Digitalgiganten tatenlos zuzusehen. Das ist der falsche Weg. Es bedarf einer scharfen Kontrolle der Unternehmen bei gleichzeitiger Handlungsermöglichung des Staates, insoweit er Gemeinwohlzwecke wie Gesundheit oder Verbrechensbekämpfung verfolgt.
Politikfehler und Systemfehler
Dabei ist natürlich auch der Staat dem Recht unterworfen und muss einer scharfen Kontrolle unterliegen. Für jeden Euro, der für den Aufbau staatlicher Digitalkompetenz ausgegeben wird, muss ein Euro in die Missbrauchskontrolle fließen. Das entspräche der liberalen Logik der Gewaltenkontrolle. Die Grundeinsicht des liberalen Gesellschaftsmodells, wonach die Gesellschaft einen funktionstüchtigen und kompetenten Leviathan benötigt, der aber einer permanenten internen Kontrolle im Zuge der Gewaltenteilung unterliegen muss, damit die staatliche Gewalt nicht missbräuchlich eingesetzt werden kann, ist im Zuge der Digitalisierung vereinseitigt worden. Bereits der Kompetenzaufbau wird verhindert – zur Freude privater Akteure, die mit dem Missbrauch viel Geld verdienen.
Der Misserfolg des Westens bei der Pandemiebekämpfung liegt also nicht unbedingt in den Strukturmerkmalen des liberalen Gesellschaftssystems begründet, sondern in einer verfehlten Politik und einem einseitigen Umgang mit den Gefahren der Digitalisierung von Daten. Dies ändert natürlich nichts an der Bilanz. Allzu freudig attribuiert die chinesische Regierung den Erfolg ihrer Krisenbewältigung den Systemmerkmalen des eigenen Regimes.
Die Schwäche westlicher Gesellschaften bei der Bekämpfung der Pandemie sowie die innere Spaltung des Westens hat auch zur Folge, dass diese so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, dass sie das eigentliche Legitimationsdefizit des chinesischen Systems, nämlich die fehlende demokratische Legitimation, kaum noch thematisieren. Symptomatisch dafür ist die politische Aufmerksamkeit, die die Demokratiebewegung in Hongkong in der Weltöffentlichkeit vor und während der Pandemie genossen hat. Die Massenproteste gegen die pekingnahe Regierung in Hongkong und die Einflussnahme Pekings auf die Geschehnisse in Hongkong begannen im Sommer 2019 und entzündeten sich an dem sogenannten Auslieferungsgesetz. Sie wurden getragen von der deutlichen Mehrheit der Bevölkerung Hongkongs, wie der Ausgang der Kommunalwahlen im November 2019 gezeigt hat. Und sie erhielten eine sehr breite Unterstützung durch die Politik und Öffentlichkeit in fast allen demokratischen Gesellschaften.
Mit dem Ausbruch der Pandemie war es damit leider weitgehend vorbei. Die chinesische Regierung verschärfte im Sommer 2020 unter Umgehung des Hongkonger Parlaments mit dem Gesetz zur nationalen Sicherheit den Zugriff auf die Demokratiebewegung in Hongkong. Das Gesetz erlaubt es, Protestierende strafrechtlich zu verfolgen. Und nur wenige Tage nach Verabschiedung gab es in Hongkong die ersten Festnahmen. Die westlichen Gesellschaften waren derweil mit sich selbst und ihrer missglückten Pandemiepolitik beschäftigt und fanden keine Kraft, das Vorgehen Chinas großflächig zu skandalisieren. Die Achillesferse des chinesischen Gesellschaftsmodells, bestehend aus einer fehlenden demokratischen Legitimation, blieb damit im Jahr 2020 unterthematisiert.
Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie an der FU Berlin, Michael Zürn ist dort Professor für Internationale Beziehungen, außerdem ist er Direktor für Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin.
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