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NEUES THEMA23.04.2010, 07:42 Uhr
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Demokratie "nicht prioritär" BERLIN (21.04.2010) - Angesichts zunehmender Gefechtsverluste in Afghanistan soll Berlin die Verschmelzung von "Entwicklungshilfe" und Aufstandsbekämpfung rasch vorantreiben. Dies empfiehlt eine aktuelle Studie des Sonderforschungsbereichs 700 der Feien Universität Berlin, die vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Auftrag gegeben wurde. Die Untersuchung schließt an tradierte Modelle der Anti-Guerilla-Kriegführung an, wie sie unter anderem von Frankreich während seines Kampfes gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung entwickelt wurden. Danach sind ausländische Interventionstruppen zur Sicherung ihrer Herrschaft auf die enge Kooperation mit lokalen Eliten und Warlords angewiesen - selbst wenn diese wie in Afghanistan von der einheimischen Bevölkerung als Bedrohung wahrgenommen werden. Das von der westlichen Propaganda zur Legitimation des Afghanistan-Krieges immer wieder angeführte Argument, man strebe eine Demokratisierung der afghanischen Gesellschaft an, wird ausdrücklich suspendiert.

Keine Berührungsängste

Wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bekannt gibt, haben Mitarbeiter des Sonderforschungsbereichs 700 (SFB 700) der Freien Universität Berlin eine aktuelle "Wirkungsanalyse" der deutschen "Entwicklungszusammenarbeit" in Afghanistan vorgelegt. Die Untersuchung zeige, sagt der zuständige Minister Dirk Niebel (FDP), dass die von Deutschland in seinem Einflussbereich gewährte "Hilfe" von der afghanischen Bevölkerung zwar "positiv wahrgenommen" werde, aber unbedingt militärisch abzusichern sei.1 Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte Niebel gefordert, die Aktivitäten deutscher humanitärer Organisationen "dort zu konzentrieren, wo die Bundeswehr aktiv ist".2 Dies entspreche sowohl dem von deutscher Seite favorisierten Konzept der "vernetzten Sicherheit" als auch den Empfehlungen des SFB 700, erklärt der Minister: "Berührungsängste zwischen dem militärischen und zivilen Bereich sind gemäß der Studie unangebracht."3

Die Frage der Akzeptanz

Die Grundlage der Untersuchung bildet die Befragung von rund 2.000 Haushalten in 80 nordafghanischen Dörfern während der Jahre 2007 und 2009. Ziel war es, herauszufinden, inwieweit sich die von Deutschland gewährte "Entwicklungshilfe" positiv auf das Verhältnis der afghanischen Bevölkerung zu lokalen Machthabern und westlichen Besatzungstruppen auswirkt. Begründet wurde der Forschungsansatz damit, dass das gesamte "Schicksal" der "Afghanistan-Mission" davon abhänge, ob die einheimische Landbevölkerung die westlichen Besatzer und die von ihnen installierte afghanische Regierung als legitim akzeptiere. Wie die Autoren der Studie erklären, wurden Interviews erst nach Absprache mit den lokalen Autoritäten und ausschließlich mit männlichen "Haushaltsvorständen" geführt. Dass Frauen demgemäß überhaupt nicht zu Wort kommen, sei der "konservativen Struktur" der afghanischen Gesellschaft geschuldet, heißt es.4

Lokale Multiplikatoren

Entsprechend diesem Befund empfehlen die Forscher des SFB 700 den westlichen Besatzungsmächten, sich zur Herrschaftssicherung primär auf traditionelle Eliten zu stützen. Zu fördern seien all jene "lokalen Multiplikatoren", die den "westlichen Akteuren" positiv gegenüberstehen, heißt es: "Die Afghanen müssen ihre Mitbürger davon überzeugen, dass die Zusammenarbeit mit ausländischen Akteuren für sie von Vorteil ist" ("It is the Afghans who need to convince fellow Afghans that cooperation with foreign actors is beneficial").

Bedrohung

Oberste Priorität habe in diesem Zusammenhang die "Herstellung von Sicherheit". Nur wer sich sicher fühle, entwickle ein "positives Verhältnis" zu den ausländischen Besatzungstruppen, erklären die Wissenschaftler. Gleichzeitig konstatieren sie, dass die afghanische Bevölkerung gerade das ausländische Militär und die Milizen lokaler Herrscher zunehmend als Bedrohung wahrnimmt: Fühlten sich 2007 lediglich knapp fünf Prozent der Befragten von den westlichen Truppen bedroht, waren es 2009 bereits mehr als 28 Prozent. Der Anteil derjenigen, die sich in keiner Weise bedroht fühlten, sank im selben Zeitraum von 87 auf 21 Prozent.

"Empirisch haltlos"

Dessen ungeachtet fordern die Mitarbeiter des SFB 700 von deutschen Entwicklungsorganisationen und der Bundeswehr, "gemeinsam sichere Regionen zu identifizieren" und ihre Anstrengungen dort zu konzentrieren.5 Die insbesondere von Nichtregierungsorganisationen (Non-Governmental Organizations/NGOs) geäußerte Befürchtung, durch die Kooperation mit dem Militär zur Kriegspartei zu werden, wird als "empirisch haltlos" denunziert: Die Akzeptanz der Afghanen für "westliche Akteure" umfasse gleichermaßen ausländische Soldaten wie Entwicklungshelfer, heißt es.6 Um die beschworene "Akzeptanz" nicht aufs Spiel zu setzen, soll nach dem Willen der Forscher auf die vormals propagandistisch überhöhte Forderung nach einer "Demokratisierung" der afghanischen Gesellschaft verzichtet werden; "Aspekte" dieser Art seien "nicht mehr zu priorisieren".7

Wie in Algerien

Bereits in der Vergangenheit hatten sich Forscher des SFB 700 für "zivil-militärische" Formen der Aufstandsbekämpfung ausgesprochen (german-foreign-policy.com berichtete8). Die jetzt präsentierten Konzepte erinnern stark an ein Modell des Anti-Guerilla-Kampfes, das von Frankreich während des algerischen Unabhängigkeitskrieges entwickelt wurde und heute von den USA umgesetzt wird. Die entsprechende Formel lautet "Clear" - "Hold" - "Build": Nach der militärischen "Säuberung" einer Region von Aufständischen ("Clear") übernehmen lokale Kollaborateure dort die Regierungsgewalt ("Hold"); "zivil-militärische" Entwicklungsprojekte sollen die lokale Bevölkerung dann dazu bringen, sich endgültig von den Aufständischen zu trennen ("Build"). Dass die französische Aufstandsbekämpfung in den früheren Kolonien tatsächlich von westlichen Militärs in Afghanistan als Quelle der heutigen Praktiken genannt wird, hat erst kürzlich der Journalist Marc Thörner nachgewiesen (german-foreign-policy.com berichtete9).


Anmerkungen:
1 Deutsche Hilfe für Afghanistan kommt an. BMZ stellt Wirkungsanalyse der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan vor. Pressemitteilung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 16.04.2010
2 Raus aus Afghanistan; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 03.01.2010
3 Deutsche Hilfe für Afghanistan kommt an. BMZ stellt Wirkungsanalyse der Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan vor. Pressemitteilung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 16.04.2010
4 hierzu und im Folgenden: Jan Böhnke/Jan Koehler/Christoph Zürcher: Assessing the Impact of Development Cooperation in North East Afghanistan 2005 - 2009. Final Report. Bonn 2010
5 "Civilian and military actors should jointly identify regions which are reasonably safe and (…) then concentrate their efforts on these regions."
6 "The acceptance of military and civilian actors is, in the eyes of Afghan respondents, tied together."
7 "This may require that aspects of the modernization of society which are hard to reconcile with local customs should not be prioritized."
8 s. dazu Partner ohne Uniform. Zum SFB 700 s. auch Interventionsforschung und Rückzugsperspektive
9 s. dazu Die Kolonialisten kommen zurück, Klassische Warlords und Rezension Marc Thörner: Afghanistan Code

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