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•NEUES THEMA13.11.2020, 14:04 Uhr
EDIT: FPeregrin
13.11.2020, 14:12 Uhr
13.11.2020, 14:12 Uhr
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• 30 Jahre Schlacht um die Mainzer Straße
Es ist sehr verdienstvoll, daß die jW heute auf der Themenseite daran erinnert. Es sei auch daran erinnert, daß die Bullenaktion seinerzeit dazu reichte, eine Berliner Koalition aus SPD und AL auseinanderfliegen zu lassen. Ob meine Partei, die PdL, dergleichen z.Z. in Berlin in einer ähnlichen Situation überhaupt nur in Erwägung ziehen würde, entzieht sich meiner Kenntnis. Bevor mir was unterstellt wird - ich habe geschrieben: "in Erwägung ziehen"; das es im Einzelfall gute - und auch schlechten - Gründe geben kann, dies nicht zu tun, ist dabei unbenommen. Aber erwogen hätte es schon unlängst werden müssen ...
Erprobter Bürgerkrieg
Vor 30 Jahren ließ der Berliner Senat seine Polizei von der Leine, um die besetzten Häuser in der Mainzer Straße zu räumen. Der brutale Einsatz bescherte der Westberliner Immobilienmafia einen Sieg
Von Gerd Bedszent
In Erwägung, dass da Häuser stehen
Während ihr uns ohne Bleibe lasst
Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen
Weil es uns in unsren Löchern nicht mehr passt.
Bertolt Brecht: Resolution der Kommunarden
Die Schlacht um die Mainzer Straße im Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain gilt als einer der heftigsten Polizeieinsätze der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Auseinandersetzungen dauerten vom Vormittag des 12. November bis zum Mittag des 14. November des Jahres 1990 und endeten schließlich mit der Erstürmung der besetzen Häuser und der Festnahme von insgesamt 417 Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern. Über die Zahl der auf beiden Seiten verletzten Personen gibt es keine zuverlässigen Angaben; es waren in jedem Fall Hunderte. Bei einem der Besetzer musste eine Schussverletzung behandelt werden, bei einem anderen ein durch Fußtritte herbeigeführter Milzriss. An der Räumung der Häuser sowie der Abriegelung der Umgebung waren mehrere tausend Polizeibeamte aus mehreren Bundesländern beteiligt. Zum Einsatz kamen unter anderem Räumpanzer, Wasserwerfer und Tränengas.
»Deutschlands Soldateska probt den Bürgerkrieg«, hieß es in einem damals populärem Ostberliner Infoblatt. Der Telegraph war ein originäres Produkt der DDR-Opposition. Unter dem Namen Umweltblätter fungierte das Bulletin bis Ende 1989 als halblegale Diskussionsplattform für unter dem Dach der evangelischen Kirche aktive Bürgerrechtler.
Protestbriefe und Sitzblockaden
Die ungewöhnliche Brutalität des polizeilichen Vorgehens rief damals aber auch in gemäßigt linken Kreisen allgemeine Empörung hervor. Der von den Vorgängen offensichtlich überraschte Stadtbezirksbürgermeister Helios Mendiburu (SPD) versuchte vergeblich, zwischen den Hausbesetzen und der Polizeiführung zu vermitteln, ebenso der evangelische Landesbischof von Berlin. Am Abend des 14. November bildeten sich im Stadtbezirk mehrfach Menschenketten, die sich den vorrückenden Polizeieinheiten in den Weg stellten. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Sitzblockaden, die immer wieder von Wasserwerfern von der Straße gefegt wurden, gehörten mehrere in der Spätphase der DDR bekannt gewordene Bürgerrechtler, darunter die wenige Monate zuvor von den Massenmedien zur »Mutter der friedlichen Revolution« stilisierte Malerin Bärbel Bohley.
In einer am 13. November verbreiteten gemeinsamen Erklärung von Politikern aus SPD, PDS, Bündnis 90, den Grünen, dem Neuen Forum und dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) hieß es: »Müssen erst Tote zu beklagen sein, bevor allen klar wird, dass nur durch den Abzug der Polizei bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen vermieden werden könnten? Wir fordern darum den sofortigen Rückzug der Polizei und die Aufnahme sofortiger Verhandlungen mit dem Ziel, durch Verträge Sicherheit für die besetzten Häuser herzustellen.« Der Forderung nach einem sofortigen Ende der Polizeigewalt schlossen sich auch mehrere bekannte DDR-Künstler an – unter anderem die Schriftstellerin Christa Wolf, der Dichter Volker Braun sowie die Schauspielerin und Brecht-Schülerin Käthe Reichel.
In einem damals kursierenden Flugblatt, unterzeichnet von Vertreterinnen und Vertretern der Bürgerrechtsgruppen »Demokratie jetzt«, »Lila Offensive«, »Initiative für Frieden und Menschenrechte« und »Vereinigte Linke« wurde ein sofortiger Rücktritt des Innensenators gefordert. Der Text endete mit dem Satz: »Wir brauchen diese Bürgerkriegspolizei nicht!«
Auf der anderen Seite erging sich die bürgerliche Presse in Hasstiraden gegen die »gewaltbereiten Chaoten« in der Mainzer Straße. In dieselbe Kerbe schlugen auch führende Politiker. Innensenator Erich Pätzold (SPD) kündigte umgehend ein härteres Vorgehen gegen Hausbesetzer an. Der CDU-Landesvorsitzende Eberhard Diepgen beklagte die angebliche Untätigkeit der Landesregierung angesichts der »Hausbesetzerproblematik und der ansteigenden Kriminalität«. Der Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) warf den Besetzern »blanke Mordlust« vor und unterstellte ihnen, sie seien zu keiner Zeit zu Verhandlungen bereit gewesen. Besagter Momper startete dann wenige Jahre nach seinem erzwungenen Rücktritt eine Zweitkarriere im »Sumpf der Berliner Bauwirtschaft« – wie die damals noch linke Taz in ihrer Ausgabe vom 3. Oktober 1993 schrieb.
Ungeachtet der Hetze von Medien und Politikbetrieb demonstrierten am Abend des 14. November in Berlin 10.000 Menschen gegen die ausufernde Polizeigewalt. Der Demonstrationszug wurde am Frankfurter Tor von gepanzerten Einheiten des Bundesgrenzschutzes (der heutigen Bundespolizei) zum Stehen gebracht. Noch am selben Tag zerbrach die bis dahin in Berlin regierende Koalition aus SPD und Alternativer Liste (heute: Bündnis 90/Die Grünen).
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Erprobter Bürgerkrieg
Vor 30 Jahren ließ der Berliner Senat seine Polizei von der Leine, um die besetzten Häuser in der Mainzer Straße zu räumen. Der brutale Einsatz bescherte der Westberliner Immobilienmafia einen Sieg
Von Gerd Bedszent
In Erwägung, dass da Häuser stehen
Während ihr uns ohne Bleibe lasst
Haben wir beschlossen, jetzt dort einzuziehen
Weil es uns in unsren Löchern nicht mehr passt.
Bertolt Brecht: Resolution der Kommunarden
Die Schlacht um die Mainzer Straße im Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain gilt als einer der heftigsten Polizeieinsätze der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Auseinandersetzungen dauerten vom Vormittag des 12. November bis zum Mittag des 14. November des Jahres 1990 und endeten schließlich mit der Erstürmung der besetzen Häuser und der Festnahme von insgesamt 417 Hausbesetzerinnen und Hausbesetzern. Über die Zahl der auf beiden Seiten verletzten Personen gibt es keine zuverlässigen Angaben; es waren in jedem Fall Hunderte. Bei einem der Besetzer musste eine Schussverletzung behandelt werden, bei einem anderen ein durch Fußtritte herbeigeführter Milzriss. An der Räumung der Häuser sowie der Abriegelung der Umgebung waren mehrere tausend Polizeibeamte aus mehreren Bundesländern beteiligt. Zum Einsatz kamen unter anderem Räumpanzer, Wasserwerfer und Tränengas.
»Deutschlands Soldateska probt den Bürgerkrieg«, hieß es in einem damals populärem Ostberliner Infoblatt. Der Telegraph war ein originäres Produkt der DDR-Opposition. Unter dem Namen Umweltblätter fungierte das Bulletin bis Ende 1989 als halblegale Diskussionsplattform für unter dem Dach der evangelischen Kirche aktive Bürgerrechtler.
Protestbriefe und Sitzblockaden
Die ungewöhnliche Brutalität des polizeilichen Vorgehens rief damals aber auch in gemäßigt linken Kreisen allgemeine Empörung hervor. Der von den Vorgängen offensichtlich überraschte Stadtbezirksbürgermeister Helios Mendiburu (SPD) versuchte vergeblich, zwischen den Hausbesetzen und der Polizeiführung zu vermitteln, ebenso der evangelische Landesbischof von Berlin. Am Abend des 14. November bildeten sich im Stadtbezirk mehrfach Menschenketten, die sich den vorrückenden Polizeieinheiten in den Weg stellten. Zu den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Sitzblockaden, die immer wieder von Wasserwerfern von der Straße gefegt wurden, gehörten mehrere in der Spätphase der DDR bekannt gewordene Bürgerrechtler, darunter die wenige Monate zuvor von den Massenmedien zur »Mutter der friedlichen Revolution« stilisierte Malerin Bärbel Bohley.
In einer am 13. November verbreiteten gemeinsamen Erklärung von Politikern aus SPD, PDS, Bündnis 90, den Grünen, dem Neuen Forum und dem Unabhängigen Frauenverband (UFV) hieß es: »Müssen erst Tote zu beklagen sein, bevor allen klar wird, dass nur durch den Abzug der Polizei bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen vermieden werden könnten? Wir fordern darum den sofortigen Rückzug der Polizei und die Aufnahme sofortiger Verhandlungen mit dem Ziel, durch Verträge Sicherheit für die besetzten Häuser herzustellen.« Der Forderung nach einem sofortigen Ende der Polizeigewalt schlossen sich auch mehrere bekannte DDR-Künstler an – unter anderem die Schriftstellerin Christa Wolf, der Dichter Volker Braun sowie die Schauspielerin und Brecht-Schülerin Käthe Reichel.
In einem damals kursierenden Flugblatt, unterzeichnet von Vertreterinnen und Vertretern der Bürgerrechtsgruppen »Demokratie jetzt«, »Lila Offensive«, »Initiative für Frieden und Menschenrechte« und »Vereinigte Linke« wurde ein sofortiger Rücktritt des Innensenators gefordert. Der Text endete mit dem Satz: »Wir brauchen diese Bürgerkriegspolizei nicht!«
Auf der anderen Seite erging sich die bürgerliche Presse in Hasstiraden gegen die »gewaltbereiten Chaoten« in der Mainzer Straße. In dieselbe Kerbe schlugen auch führende Politiker. Innensenator Erich Pätzold (SPD) kündigte umgehend ein härteres Vorgehen gegen Hausbesetzer an. Der CDU-Landesvorsitzende Eberhard Diepgen beklagte die angebliche Untätigkeit der Landesregierung angesichts der »Hausbesetzerproblematik und der ansteigenden Kriminalität«. Der Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD) warf den Besetzern »blanke Mordlust« vor und unterstellte ihnen, sie seien zu keiner Zeit zu Verhandlungen bereit gewesen. Besagter Momper startete dann wenige Jahre nach seinem erzwungenen Rücktritt eine Zweitkarriere im »Sumpf der Berliner Bauwirtschaft« – wie die damals noch linke Taz in ihrer Ausgabe vom 3. Oktober 1993 schrieb.
Ungeachtet der Hetze von Medien und Politikbetrieb demonstrierten am Abend des 14. November in Berlin 10.000 Menschen gegen die ausufernde Polizeigewalt. Der Demonstrationszug wurde am Frankfurter Tor von gepanzerten Einheiten des Bundesgrenzschutzes (der heutigen Bundespolizei) zum Stehen gebracht. Noch am selben Tag zerbrach die bis dahin in Berlin regierende Koalition aus SPD und Alternativer Liste (heute: Bündnis 90/Die Grünen).
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•NEUER BEITRAG13.11.2020, 14:07 Uhr
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Zur Vorgeschichte
Berlin war nicht immer jenes Eldorado für Grundstücksspekulanten und Immobilienbesitzer, das es heute ist. Schon im 19. Jahrhundert, als die Stadt im Zuge der Industrialisierungswelle aus allen Nähten platzte und die Errichtung von Mietskasernen in Arbeitervierteln zur lohnenden Geldanlage wurde, kam es zu Protesten gegen Obdachlosigkeit, überhöhte Mieten und menschenunwürdige Wohnbedingungen, auch Besetzungen von spekulativ ungenutztem Wohnraum waren damals bereits ein Mittel des Widerstands. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die damals europaweit tobende Welle von Krawallen und Protesten der städtischen Unterschicht auch Berlin. Einer der Höhepunkte dieser Bewegung waren die sogenannten Blumenstraßenkrawalle des Jahres 1872 im Berliner Osten. Bewohner der Armutsviertel, über ihre soziale Lage erbittert, errichteten Barrikaden und wehrten sich drei Tage lang mit Steinen und Knüppeln gegen anrückende Einheiten von Polizei und Militär.
Die städtebauliche Entwicklung Berlins geriet dann ungeachtet allen Widerstandes zum Siegeszug von Spekulanten und Miethaien gegen durchaus vorhandene Ansätze sozialer Stadtplanung. Dem sozialkritischen Karikaturisten Heinrich Zille (1858–1929) wird der Ausspruch zugeschrieben, dass man mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten könne wie mit einer Axt. Zilles erschütternde Bilder der damals auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen in Armut prägten ganze Generationen linker Aktivistinnen und Aktivisten.
In den Jahrzehnten, als Ost- und Westberlin durch eine Staatsgrenze getrennt waren, machten beide Stadthälften dann eine sehr unterschiedliche Entwicklung durch.
Berlin-Ost: Neubau und Selbsthilfe
Die DDR-Regierung hatte die Wohnungsfrage als soziale Frage durchaus verinnerlicht, bemühte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur um einen Wiederaufbau der zerstörten Industriestandorte, sondern auch der zerschossenen oder zerbombten Wohngebiete. »Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut …« hieß es in einem damals populären Lied.
Die vorhandene Wohnraumsubstanz wurde in der DDR hauptsächlich von Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) bewirtschaftet. Deren Häuser befanden sich entweder schon vor 1945 in öffentlichem Eigentum oder aber sie wurden durch Verstaatlichung des Besitzes von Großunternehmern und belasteten Nazis in ein solches überführt. In den Bestand der KWV gingen allerdings auch Wohnhäuser über, deren Besitzer sich unter Zurücklassung ihrer Vermögenswerte in den Westen abgesetzt hatten. Die Höhe der Mieten wurde auf dem Nachkriegsstand eingefroren; Mietzahlungen machten in der Folge einen nur sehr geringen Anteil der Lebenshaltungskosten eines durchschnittlichen DDR-Bürgers aus. Private Besitzer von vermieteten Wohnimmobilien, die es auch in der DDR gab, hatten nur ein eingeschränktes Verfügungsrecht über ihr Eigentum. Eine Kündigung von Wohnraum war faktisch unmöglich, Zwangsräumung ein Fremdwort. Die wurde nicht einmal praktiziert, wenn Bewohner ohne Not die Zahlung der vergleichsweise geringen Miete verweigerten.
Im Jahre 1973 verabschiedete das Zentralkomitee der SED (ZK) ein gigantisches Wohnungsbauprogramm. Mit Hilfe der Plattenbautechnologie sollten in kürzester Frist etwa drei Millionen Wohnungen neu geschaffen bzw. vorhandene Wohneinheiten modernisiert werden. Erklärtes Ziel war laut ZK-Beschluss, bis zum Jahre 1990 in der DDR die Wohnungsfrage als soziale Frage zu lösen. Diese unbedingt zu erfüllende Zielstellung wurde zum Politikum.
Die in dieser Zeit am östlichen Stadtrand Berlins errichteten Neubauviertel Marzahn, Hellersdorf und Neu-Hohenschönhausen stießen zwar unter stadtplanerischen Gesichtspunkten zum Teil auf heftige Kritik, zumal die Errichtung der notwendigen städtebaulichen Infrastruktur mit dem Tempo des Wohnungsbaus nicht mitkam und die Bewohner der neuen Viertel nicht selten längere Zeit auf die versprochenen Kaufhallen, Schulen, Kindergärten und Jugendklubs warten mussten. Zudem waren die Mieten für Neubauwohnungen zwar ebenfalls bezahlbar, lagen aber deutlich über der durchschnittlichen Miete einer Altbauwohnung. Angenommen wurden die neu aus dem Boden gestampften Wohnviertel dennoch.
Als eigentliches Problem erwies sich dann in den 80er Jahren, dass infolge der einseitigen Konzentrierung auf den Bau neuer Wohnviertel die Substanz der Altbauviertel Ostberlins mehr und mehr verrottete und die heruntergewirtschafteten und personell ausgedünnten Wohnungsverwaltungen den Überblick über den Erhaltungszustand ihrer Immobilien verloren. Zu Beginn der 80er Jahre getätigte Versuche der DDR-Bauwirtschaft, dieser Entwicklung gegenzusteuern, blieben halbherzig, da an den einmal getroffenen Beschlüssen nicht gerüttelt werden durfte.
Nicht wenige wohnungssuchende DDR-Bürger machten daraufhin aus der Not eine Tugend, zogen auch ohne offizielle Zuweisung in leerstehende Wohnungen und brachten diese selbst wieder in Ordnung. Sobald sie eine erste Mietzahlung geleistet hatten, erhielten sie im Regelfall auch einen Vertrag. Die faktische Besetzung war damit legalisiert.
Zu den Wohngegenden, die man damals verloren gegeben hatte und die für einen Abriss vorgesehen waren, gehörten Teile der Mainzer Straße. Der Abrissbeschluss wurde aber schon im November 1989, also noch unter Verantwortung der Regierung Hans Modrow (damals noch SED), ausgesetzt.
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Zur Vorgeschichte
Berlin war nicht immer jenes Eldorado für Grundstücksspekulanten und Immobilienbesitzer, das es heute ist. Schon im 19. Jahrhundert, als die Stadt im Zuge der Industrialisierungswelle aus allen Nähten platzte und die Errichtung von Mietskasernen in Arbeitervierteln zur lohnenden Geldanlage wurde, kam es zu Protesten gegen Obdachlosigkeit, überhöhte Mieten und menschenunwürdige Wohnbedingungen, auch Besetzungen von spekulativ ungenutztem Wohnraum waren damals bereits ein Mittel des Widerstands. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte die damals europaweit tobende Welle von Krawallen und Protesten der städtischen Unterschicht auch Berlin. Einer der Höhepunkte dieser Bewegung waren die sogenannten Blumenstraßenkrawalle des Jahres 1872 im Berliner Osten. Bewohner der Armutsviertel, über ihre soziale Lage erbittert, errichteten Barrikaden und wehrten sich drei Tage lang mit Steinen und Knüppeln gegen anrückende Einheiten von Polizei und Militär.
Die städtebauliche Entwicklung Berlins geriet dann ungeachtet allen Widerstandes zum Siegeszug von Spekulanten und Miethaien gegen durchaus vorhandene Ansätze sozialer Stadtplanung. Dem sozialkritischen Karikaturisten Heinrich Zille (1858–1929) wird der Ausspruch zugeschrieben, dass man mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten könne wie mit einer Axt. Zilles erschütternde Bilder der damals auf engstem Raum zusammengepferchten Menschen in Armut prägten ganze Generationen linker Aktivistinnen und Aktivisten.
In den Jahrzehnten, als Ost- und Westberlin durch eine Staatsgrenze getrennt waren, machten beide Stadthälften dann eine sehr unterschiedliche Entwicklung durch.
Berlin-Ost: Neubau und Selbsthilfe
Die DDR-Regierung hatte die Wohnungsfrage als soziale Frage durchaus verinnerlicht, bemühte sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht nur um einen Wiederaufbau der zerstörten Industriestandorte, sondern auch der zerschossenen oder zerbombten Wohngebiete. »Fort mit den Trümmern und was Neues hingebaut …« hieß es in einem damals populären Lied.
Die vorhandene Wohnraumsubstanz wurde in der DDR hauptsächlich von Kommunalen Wohnungsverwaltungen (KWV) bewirtschaftet. Deren Häuser befanden sich entweder schon vor 1945 in öffentlichem Eigentum oder aber sie wurden durch Verstaatlichung des Besitzes von Großunternehmern und belasteten Nazis in ein solches überführt. In den Bestand der KWV gingen allerdings auch Wohnhäuser über, deren Besitzer sich unter Zurücklassung ihrer Vermögenswerte in den Westen abgesetzt hatten. Die Höhe der Mieten wurde auf dem Nachkriegsstand eingefroren; Mietzahlungen machten in der Folge einen nur sehr geringen Anteil der Lebenshaltungskosten eines durchschnittlichen DDR-Bürgers aus. Private Besitzer von vermieteten Wohnimmobilien, die es auch in der DDR gab, hatten nur ein eingeschränktes Verfügungsrecht über ihr Eigentum. Eine Kündigung von Wohnraum war faktisch unmöglich, Zwangsräumung ein Fremdwort. Die wurde nicht einmal praktiziert, wenn Bewohner ohne Not die Zahlung der vergleichsweise geringen Miete verweigerten.
Im Jahre 1973 verabschiedete das Zentralkomitee der SED (ZK) ein gigantisches Wohnungsbauprogramm. Mit Hilfe der Plattenbautechnologie sollten in kürzester Frist etwa drei Millionen Wohnungen neu geschaffen bzw. vorhandene Wohneinheiten modernisiert werden. Erklärtes Ziel war laut ZK-Beschluss, bis zum Jahre 1990 in der DDR die Wohnungsfrage als soziale Frage zu lösen. Diese unbedingt zu erfüllende Zielstellung wurde zum Politikum.
Die in dieser Zeit am östlichen Stadtrand Berlins errichteten Neubauviertel Marzahn, Hellersdorf und Neu-Hohenschönhausen stießen zwar unter stadtplanerischen Gesichtspunkten zum Teil auf heftige Kritik, zumal die Errichtung der notwendigen städtebaulichen Infrastruktur mit dem Tempo des Wohnungsbaus nicht mitkam und die Bewohner der neuen Viertel nicht selten längere Zeit auf die versprochenen Kaufhallen, Schulen, Kindergärten und Jugendklubs warten mussten. Zudem waren die Mieten für Neubauwohnungen zwar ebenfalls bezahlbar, lagen aber deutlich über der durchschnittlichen Miete einer Altbauwohnung. Angenommen wurden die neu aus dem Boden gestampften Wohnviertel dennoch.
Als eigentliches Problem erwies sich dann in den 80er Jahren, dass infolge der einseitigen Konzentrierung auf den Bau neuer Wohnviertel die Substanz der Altbauviertel Ostberlins mehr und mehr verrottete und die heruntergewirtschafteten und personell ausgedünnten Wohnungsverwaltungen den Überblick über den Erhaltungszustand ihrer Immobilien verloren. Zu Beginn der 80er Jahre getätigte Versuche der DDR-Bauwirtschaft, dieser Entwicklung gegenzusteuern, blieben halbherzig, da an den einmal getroffenen Beschlüssen nicht gerüttelt werden durfte.
Nicht wenige wohnungssuchende DDR-Bürger machten daraufhin aus der Not eine Tugend, zogen auch ohne offizielle Zuweisung in leerstehende Wohnungen und brachten diese selbst wieder in Ordnung. Sobald sie eine erste Mietzahlung geleistet hatten, erhielten sie im Regelfall auch einen Vertrag. Die faktische Besetzung war damit legalisiert.
Zu den Wohngegenden, die man damals verloren gegeben hatte und die für einen Abriss vorgesehen waren, gehörten Teile der Mainzer Straße. Der Abrissbeschluss wurde aber schon im November 1989, also noch unter Verantwortung der Regierung Hans Modrow (damals noch SED), ausgesetzt.
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Berlin-West: Mafia und Besetzer
In Westberlin entzündete sich bereits in den 70er Jahren – also im Gefolge der 68er-Bewegung – eine heftige Kontroverse zwischen zwei verschiedenen Konzepten der Stadterneuerung. Die CDU-dominierte Senatsverwaltung betrieb eine Kahlschlagpolitik – also den Abriss der vorhandenen Bausubstanz bei anschließendem Neubau. In Abgrenzung davon bildete sich im Zuge der entstehenden grün eingefärbten Alternativbewegung das Konzept für eine behutsame Stadterneuerung heraus: Die vorhandene Bausubstanz sollte nach Möglichkeit erhalten bleiben und lediglich einer Erneuerung unterzogen werden. Der soziale Hintergrund dieser zunächst eher akademisch ausgetragenen Debatte war, dass hinter Neubauprojekten handfeste Profitinteressen anlagehungriger Kapitalgruppen standen, während die Mehrheit der Bevölkerung eher an niedrigen Mieten interessiert war. Und die Mieten für Neubauten waren für ärmere Bevölkerungsgruppen schon damals unerschwinglich.
Da die Senatsverwaltung zunächst keine Anstalten machte, von ihrer bisherigen Politik abzurücken, und verschiedene Immobilienfirmen dazu übergingen, ihre Objekte mit voller Absicht in einen unbewohnbaren Zustand zu versetzen, entwickelten die eher sozialreformerischen Ansätze der alternativen Stadtplanung nach und nach eine politische Brisanz. In Folge der im Interesse von Bauwirtschaft und Immobilienhaien umgesetzten Politik standen nämlich Tausende Wohnungen leer und warteten auf den Abriss, während umgekehrt Zehntausende Menschen verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchten.
Autonom organisierte Stadteilinitiativen besetzten daraufhin für den Abriss vorgesehene Gebäude, setzten sie in Eigeninitiative wieder instand und entwickelten sie zu selbstverwalteten Wohnprojekten und lokalen Kulturzentren. Linke Aktivisten organisierten zeitgleich Massenproteste gegen Abriss und Entmietung. Zwangsräumungen und darauf folgende Polizeieinsätze eskalierten zu erbittert ausgetragenen Straßenschlachten. Bereits im Jahre 1980 war die Bewegung so weit angewachsen, dass leerstehende Häuser schneller besetzt wurden, als die Polizei sie räumen konnte. Allein im Jahre 1981 gab es in Westberlin 160 Hausbesetzungen.
Nach dem Tod des achtzehnjährigen Hausbesetzers Klaus-Jürgen Rattay, der 1981 bei einem durch den damaligen Innensenator Heinrich Lummer (CDU) verantworteten Polizeieinsatz ums Leben kam, war klar, dass das ursprüngliche Sanierungskonzept nicht mehr durchzusetzen war. »Für den Profit der Reichen geht Lummer über Leichen!« war ein damals auf linken Demonstrationen häufig skandierter Spruch. Lummer galt als Vertreter einer »harten Linie« und war für nicht wenige Räumungen verantwortlich.
Das ursprüngliche von der CDU getragene Sanierungskonzept wurde dann im Jahre 1983 offiziell beerdigt und durch das von der Alternativbewegung favorisierte Konzept einer behutsamen Stadtsanierung ersetzt. Die meisten besetzten Häuser erhielten Nutzungsverträge. Obwohl die Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzerszene und Immobilienwirtschaft dann noch Jahre andauerten, war damit deutlich geworden, dass die soziale Bewegung einen Sieg ertrotzt hatte. Was natürlich auch daran lag, dass der Westberliner Senat unmittelbar vor der Haustür der DDR keinen offen ausgetragenen Bürgerkrieg riskieren konnte. Aus den Westberliner Landtagswahlen vom März 1989 ging die »Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz« (AL) deutlich gestärkt hervor und stellte dann als Juniorpartner der SPD zwei Senatorinnen.
1990: Hausbesetzung auch im Osten
Die Situation in Berlin änderte sich schlagartig mit der Grenzöffnung des Jahres 1989. Der Westberliner Immobilienmafia tat sich nun ein ihr bisher verschlossenes Riesenterrain auf. Während ein Großteil der künftigen Neubundesbürger noch eifrig damit beschäftigt war, sich mit Bild, Bananen und Westschokolade einzudecken, scharten Altbesitzer, Spekulanten und Immobilienhaie bereits mit den Hufen und schielten gierig auf die Ostberliner Wohnviertel. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Wohneinheiten wechselten in den Folgejahren für ein Butterbrot den Besitzer.
Auf der anderen Seite ergab sich auch für die immer noch starke Hausbesetzerszene ein neues Gebiet. Infolge der sehr schnell stattfindenden Vernetzung zwischen den Alternativszenen in Ost- und Westberlin gerieten im Frühjahr 1990 ganze Listen von leerstehenden Häusern im Osten der Stadt nach Westberlin, um dort in Kulturzentren und auf linken Demos herumgereicht zu werden. Binnen weniger Monate wurden dann in Ostberlin 130 leerstehende Häuser besetzt, davon allein 90 im Stadtbezirk Friedrichshain. Die Mainzer Straße mit ihren zwölf besetzten Häusern galt für kurze Zeit als Zentrum der Berliner Hausbesetzerbewegung. Die Mehrzahl der Besetzerinnen und Besetzer kam aus dem Westteil der Stadt. Zwischen Juni und Oktober 1990 gab es dann intensive Verhandlungen zwischen dem Ostberliner Magistrat und den Vertretern der besetzten Häuser.
Die in der sich auflösenden DDR agierenden Verwaltungsapparate waren von der plötzlich über sie hereinbrechenden Welle von Hausbesetzungen überrascht worden, reagierten aber anfangs durchaus pragmatisch. »In Objekten, die zur kompletten Rekonstruktion« vorgesehen seien, »ist ein zeitweiliges Verbleiben in den Häusern möglich. Dies betrifft die in der Mainzer Str. 1 bis 13 besetzten Häuser.« So hieß es noch am 21. Mai 1990 in einem Schreiben der KWV Berlin-Friedrichshain.
Das Verhältnis zwischen Einheimischen und neu ankommenden Hausbesetzern war nicht frei von Widersprüchen. Von vielen Leuten in Ostberlin wurden die Besetzungen achselzuckend toleriert, von anderen freundlich begrüßt. Es gab aber auch Beschwerden der an Ruhe und Ordnung gewöhnten Noch-DDR-Bürger angesichts buntbemalter Häuserfassaden und laut abgespielter Punkmusik. Dies umso mehr, als die rechte Presse sich nach Kräften bemühte, Hausbesetzer generell als kriminelle Psychopathen abzustempeln.
Antifaschismus und die Vision einer sozial gerechten Gesellschaft erwiesen sich dann aber als Bindeglieder. Es gab gemeinsame Veranstaltungen und Straßenfeste. In einem damals mit mehreren Besetzern der Mainzer Straße geführten Interview sagte einer beispielsweise: »Ich versuche, für eine sozialere und menschlichere Gesellschaft einzutreten, die der Kapitalismus und diese Gesellschaft, die wir hier haben, garantiert nicht ist.« Im selben Interview wurde auch erwähnt, dass man einen 80jährigen Antifaschisten eingeladen hatte, seine Haft im Konzentrationslager der Nazis zu schildern. Die Veranstaltung sei ein Riesenerfolg gewesen. Militanten Rechtsradikalen war dies natürlich ein Greuel; es kam zu ersten Angriffen auf die besetzten Häuser. Die Besetzer reagierten, indem sie die Häuser befestigten.
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Berlin-West: Mafia und Besetzer
In Westberlin entzündete sich bereits in den 70er Jahren – also im Gefolge der 68er-Bewegung – eine heftige Kontroverse zwischen zwei verschiedenen Konzepten der Stadterneuerung. Die CDU-dominierte Senatsverwaltung betrieb eine Kahlschlagpolitik – also den Abriss der vorhandenen Bausubstanz bei anschließendem Neubau. In Abgrenzung davon bildete sich im Zuge der entstehenden grün eingefärbten Alternativbewegung das Konzept für eine behutsame Stadterneuerung heraus: Die vorhandene Bausubstanz sollte nach Möglichkeit erhalten bleiben und lediglich einer Erneuerung unterzogen werden. Der soziale Hintergrund dieser zunächst eher akademisch ausgetragenen Debatte war, dass hinter Neubauprojekten handfeste Profitinteressen anlagehungriger Kapitalgruppen standen, während die Mehrheit der Bevölkerung eher an niedrigen Mieten interessiert war. Und die Mieten für Neubauten waren für ärmere Bevölkerungsgruppen schon damals unerschwinglich.
Da die Senatsverwaltung zunächst keine Anstalten machte, von ihrer bisherigen Politik abzurücken, und verschiedene Immobilienfirmen dazu übergingen, ihre Objekte mit voller Absicht in einen unbewohnbaren Zustand zu versetzen, entwickelten die eher sozialreformerischen Ansätze der alternativen Stadtplanung nach und nach eine politische Brisanz. In Folge der im Interesse von Bauwirtschaft und Immobilienhaien umgesetzten Politik standen nämlich Tausende Wohnungen leer und warteten auf den Abriss, während umgekehrt Zehntausende Menschen verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchten.
Autonom organisierte Stadteilinitiativen besetzten daraufhin für den Abriss vorgesehene Gebäude, setzten sie in Eigeninitiative wieder instand und entwickelten sie zu selbstverwalteten Wohnprojekten und lokalen Kulturzentren. Linke Aktivisten organisierten zeitgleich Massenproteste gegen Abriss und Entmietung. Zwangsräumungen und darauf folgende Polizeieinsätze eskalierten zu erbittert ausgetragenen Straßenschlachten. Bereits im Jahre 1980 war die Bewegung so weit angewachsen, dass leerstehende Häuser schneller besetzt wurden, als die Polizei sie räumen konnte. Allein im Jahre 1981 gab es in Westberlin 160 Hausbesetzungen.
Nach dem Tod des achtzehnjährigen Hausbesetzers Klaus-Jürgen Rattay, der 1981 bei einem durch den damaligen Innensenator Heinrich Lummer (CDU) verantworteten Polizeieinsatz ums Leben kam, war klar, dass das ursprüngliche Sanierungskonzept nicht mehr durchzusetzen war. »Für den Profit der Reichen geht Lummer über Leichen!« war ein damals auf linken Demonstrationen häufig skandierter Spruch. Lummer galt als Vertreter einer »harten Linie« und war für nicht wenige Räumungen verantwortlich.
Das ursprüngliche von der CDU getragene Sanierungskonzept wurde dann im Jahre 1983 offiziell beerdigt und durch das von der Alternativbewegung favorisierte Konzept einer behutsamen Stadtsanierung ersetzt. Die meisten besetzten Häuser erhielten Nutzungsverträge. Obwohl die Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzerszene und Immobilienwirtschaft dann noch Jahre andauerten, war damit deutlich geworden, dass die soziale Bewegung einen Sieg ertrotzt hatte. Was natürlich auch daran lag, dass der Westberliner Senat unmittelbar vor der Haustür der DDR keinen offen ausgetragenen Bürgerkrieg riskieren konnte. Aus den Westberliner Landtagswahlen vom März 1989 ging die »Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz« (AL) deutlich gestärkt hervor und stellte dann als Juniorpartner der SPD zwei Senatorinnen.
1990: Hausbesetzung auch im Osten
Die Situation in Berlin änderte sich schlagartig mit der Grenzöffnung des Jahres 1989. Der Westberliner Immobilienmafia tat sich nun ein ihr bisher verschlossenes Riesenterrain auf. Während ein Großteil der künftigen Neubundesbürger noch eifrig damit beschäftigt war, sich mit Bild, Bananen und Westschokolade einzudecken, scharten Altbesitzer, Spekulanten und Immobilienhaie bereits mit den Hufen und schielten gierig auf die Ostberliner Wohnviertel. Eine nicht unbeträchtliche Zahl von Wohneinheiten wechselten in den Folgejahren für ein Butterbrot den Besitzer.
Auf der anderen Seite ergab sich auch für die immer noch starke Hausbesetzerszene ein neues Gebiet. Infolge der sehr schnell stattfindenden Vernetzung zwischen den Alternativszenen in Ost- und Westberlin gerieten im Frühjahr 1990 ganze Listen von leerstehenden Häusern im Osten der Stadt nach Westberlin, um dort in Kulturzentren und auf linken Demos herumgereicht zu werden. Binnen weniger Monate wurden dann in Ostberlin 130 leerstehende Häuser besetzt, davon allein 90 im Stadtbezirk Friedrichshain. Die Mainzer Straße mit ihren zwölf besetzten Häusern galt für kurze Zeit als Zentrum der Berliner Hausbesetzerbewegung. Die Mehrzahl der Besetzerinnen und Besetzer kam aus dem Westteil der Stadt. Zwischen Juni und Oktober 1990 gab es dann intensive Verhandlungen zwischen dem Ostberliner Magistrat und den Vertretern der besetzten Häuser.
Die in der sich auflösenden DDR agierenden Verwaltungsapparate waren von der plötzlich über sie hereinbrechenden Welle von Hausbesetzungen überrascht worden, reagierten aber anfangs durchaus pragmatisch. »In Objekten, die zur kompletten Rekonstruktion« vorgesehen seien, »ist ein zeitweiliges Verbleiben in den Häusern möglich. Dies betrifft die in der Mainzer Str. 1 bis 13 besetzten Häuser.« So hieß es noch am 21. Mai 1990 in einem Schreiben der KWV Berlin-Friedrichshain.
Das Verhältnis zwischen Einheimischen und neu ankommenden Hausbesetzern war nicht frei von Widersprüchen. Von vielen Leuten in Ostberlin wurden die Besetzungen achselzuckend toleriert, von anderen freundlich begrüßt. Es gab aber auch Beschwerden der an Ruhe und Ordnung gewöhnten Noch-DDR-Bürger angesichts buntbemalter Häuserfassaden und laut abgespielter Punkmusik. Dies umso mehr, als die rechte Presse sich nach Kräften bemühte, Hausbesetzer generell als kriminelle Psychopathen abzustempeln.
Antifaschismus und die Vision einer sozial gerechten Gesellschaft erwiesen sich dann aber als Bindeglieder. Es gab gemeinsame Veranstaltungen und Straßenfeste. In einem damals mit mehreren Besetzern der Mainzer Straße geführten Interview sagte einer beispielsweise: »Ich versuche, für eine sozialere und menschlichere Gesellschaft einzutreten, die der Kapitalismus und diese Gesellschaft, die wir hier haben, garantiert nicht ist.« Im selben Interview wurde auch erwähnt, dass man einen 80jährigen Antifaschisten eingeladen hatte, seine Haft im Konzentrationslager der Nazis zu schildern. Die Veranstaltung sei ein Riesenerfolg gewesen. Militanten Rechtsradikalen war dies natürlich ein Greuel; es kam zu ersten Angriffen auf die besetzten Häuser. Die Besetzer reagierten, indem sie die Häuser befestigten.
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Gewollte Eskalation
Der kurze Sommer der Anarchie in der Mainzer Straße endete dann abrupt. Am 11. November 1990 wurde bekannt, dass mehrere besetzte Häuser in den Stadtbezirken Lichtenberg und Prenzlauer Berg geräumt werden sollten. Die polizeiliche Räumung dieser drei Häuser begann dann am Morgen des 12. November; die Besetzer wurden im Schlaf überrascht und leisteten keinen Widerstand.
Als die Vorgänge in der Mainzer Straße bekanntwurden, entschloss sich ein Teil der Besetzer zu einer spontanen Protestdemonstration. Genau dies war offensichtlich gewollt. Denn die Blockade des Straßenverkehrs nahm die Polizei zum Anlass für ihr Eingreifen. Die Besetzer reagierten mit dem Bau von Barrikaden, was dann zur Gelegenheit für weitere Angriffe der Staatsmacht geriet. Obwohl eine am 12. November abgehaltene Pressekonferenz die Verhandlungsbereitschaft des Straßenplenums Mainzer Straße bekanntgab, setzte die Polizei ihre Attacken fort. Offensichtlich geschah dies mit der vollen Absicht, eine Verhandlungslösung zu torpedieren. Denn das Straßenplenum hatte als einzige Bedingung für den Abbau der Barrikaden eine Nichträumungsgarantie verlangt.
Dass die Alternative Liste unter dem Druck ihres linken Flügels als Antwort auf die Polizeigewalt – mehrere ihrer Abgeordneten, die um eine Verhandlungslösung bemüht waren, hatte die Polizei bei der Erstürmung der Straße kurzerhand festgenommen – die »rot-grüne« Landesregierung platzen ließ, war konsequent. Bei den folgenden Neuwahlen in Berlin siegte allerdings die CDU. Unter der Regie des neugewählten Bürgermeisters Eberhard Diepgen ging die Berliner Polizei rabiat gegen besetzte Häuser und linke Demonstranten vor. Und im Windschatten von politischer Repression und Polizeigewalt konnte die Westberliner Immobilienwirtschaft ihren ganz großen Raubzug im Osten Berlins störungsfrei fortsetzen. In der Folge explodierten auch hier die Mieten, zuvor günstig bewohnte Häuser wurden luxussaniert und damit unbezahlbar. Ein großer Teil der plötzlich begehrten Altbaubezirke Ostberlins ging der ursprünglichen Einwohnerschaft verlustig – sie wurden dann meist von zahlungskräftigen Neuankömmlingen aus den südwestlichen Bundesländern bezogen. Bereits Ende der 90er Jahre wurde gespottet, dass in Ostberlin mittlerweile mehr geschwäbelt würde als in Stuttgart.
Die im Westen Berlins starke grün-alternative Bewegung entledigte sich dann nach 1990 schrittweise ihres linken Flügels, schwor allen Formen politischer Gewalt ab und versuchte so nach Kräften, sich »regierungsfein« zu machen. Was ihr dann auch gelang. Die noch 1989 in allen Medien präsenten Ostberliner Bürgerrechtsgruppen erholten sich von dem Schock nicht mehr und verschwanden in der politischen Bedeutungslosigkeit. Der Autor des anfangs zitierten Telegraph-Artikels präsentierte sich dann als Auflöser der längst nicht mehr existierenden DDR-Staatssicherheit, wechselte als gewählter Landtagsabgeordneter mehrmals die Fraktion und landete schließlich in einer marktradikalen Splitterpartei.
Immerhin findet sich in einem damals kursierenden Infoblatt der Gruppierung »Initiative für eine Vereinigte Linke« ein vergleichsweise hellsichtiger Kommentar zum Thema: »Wer spricht jetzt von der Gewalt durch Mietwucher, Wohnungsnot und verfehlte Jugendpolitik? Wer spricht von der Ghettoisierung der HausbesetzerInnenszene durch die Gesellschaft, durch deren Ablehnung und Ignoranz? Auch das ist Gewalt!«
Verwendete Literatur:
– Susan Arndt et al.: Berlin Mainzer Straße. Wohnen ist wichtiger als das Gesetz. Basisdruck, Berlin 1992
– Christine Bartlitz et al. (Hg.): Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin. Verlag Ch. Links, Berlin 2020
– Telegraph Nr. 16 vom 23. November 1990
– Infoblatt Vau-Ell Nr. 9 vom 25. November 1990
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Gewollte Eskalation
Der kurze Sommer der Anarchie in der Mainzer Straße endete dann abrupt. Am 11. November 1990 wurde bekannt, dass mehrere besetzte Häuser in den Stadtbezirken Lichtenberg und Prenzlauer Berg geräumt werden sollten. Die polizeiliche Räumung dieser drei Häuser begann dann am Morgen des 12. November; die Besetzer wurden im Schlaf überrascht und leisteten keinen Widerstand.
Als die Vorgänge in der Mainzer Straße bekanntwurden, entschloss sich ein Teil der Besetzer zu einer spontanen Protestdemonstration. Genau dies war offensichtlich gewollt. Denn die Blockade des Straßenverkehrs nahm die Polizei zum Anlass für ihr Eingreifen. Die Besetzer reagierten mit dem Bau von Barrikaden, was dann zur Gelegenheit für weitere Angriffe der Staatsmacht geriet. Obwohl eine am 12. November abgehaltene Pressekonferenz die Verhandlungsbereitschaft des Straßenplenums Mainzer Straße bekanntgab, setzte die Polizei ihre Attacken fort. Offensichtlich geschah dies mit der vollen Absicht, eine Verhandlungslösung zu torpedieren. Denn das Straßenplenum hatte als einzige Bedingung für den Abbau der Barrikaden eine Nichträumungsgarantie verlangt.
Dass die Alternative Liste unter dem Druck ihres linken Flügels als Antwort auf die Polizeigewalt – mehrere ihrer Abgeordneten, die um eine Verhandlungslösung bemüht waren, hatte die Polizei bei der Erstürmung der Straße kurzerhand festgenommen – die »rot-grüne« Landesregierung platzen ließ, war konsequent. Bei den folgenden Neuwahlen in Berlin siegte allerdings die CDU. Unter der Regie des neugewählten Bürgermeisters Eberhard Diepgen ging die Berliner Polizei rabiat gegen besetzte Häuser und linke Demonstranten vor. Und im Windschatten von politischer Repression und Polizeigewalt konnte die Westberliner Immobilienwirtschaft ihren ganz großen Raubzug im Osten Berlins störungsfrei fortsetzen. In der Folge explodierten auch hier die Mieten, zuvor günstig bewohnte Häuser wurden luxussaniert und damit unbezahlbar. Ein großer Teil der plötzlich begehrten Altbaubezirke Ostberlins ging der ursprünglichen Einwohnerschaft verlustig – sie wurden dann meist von zahlungskräftigen Neuankömmlingen aus den südwestlichen Bundesländern bezogen. Bereits Ende der 90er Jahre wurde gespottet, dass in Ostberlin mittlerweile mehr geschwäbelt würde als in Stuttgart.
Die im Westen Berlins starke grün-alternative Bewegung entledigte sich dann nach 1990 schrittweise ihres linken Flügels, schwor allen Formen politischer Gewalt ab und versuchte so nach Kräften, sich »regierungsfein« zu machen. Was ihr dann auch gelang. Die noch 1989 in allen Medien präsenten Ostberliner Bürgerrechtsgruppen erholten sich von dem Schock nicht mehr und verschwanden in der politischen Bedeutungslosigkeit. Der Autor des anfangs zitierten Telegraph-Artikels präsentierte sich dann als Auflöser der längst nicht mehr existierenden DDR-Staatssicherheit, wechselte als gewählter Landtagsabgeordneter mehrmals die Fraktion und landete schließlich in einer marktradikalen Splitterpartei.
Immerhin findet sich in einem damals kursierenden Infoblatt der Gruppierung »Initiative für eine Vereinigte Linke« ein vergleichsweise hellsichtiger Kommentar zum Thema: »Wer spricht jetzt von der Gewalt durch Mietwucher, Wohnungsnot und verfehlte Jugendpolitik? Wer spricht von der Ghettoisierung der HausbesetzerInnenszene durch die Gesellschaft, durch deren Ablehnung und Ignoranz? Auch das ist Gewalt!«
Verwendete Literatur:
– Susan Arndt et al.: Berlin Mainzer Straße. Wohnen ist wichtiger als das Gesetz. Basisdruck, Berlin 1992
– Christine Bartlitz et al. (Hg.): Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin. Verlag Ch. Links, Berlin 2020
– Telegraph Nr. 16 vom 23. November 1990
– Infoblatt Vau-Ell Nr. 9 vom 25. November 1990
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•NEUER BEITRAG13.11.2020, 16:09 Uhr
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arktika | |
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30 Jahre Schlacht um die Mainzer Straße
Dank an die junge Welt für die Erinnerung an die Mainzer Straße - und für die ebenso gute Darstellung des "Drumrum"...!
Auch wenn es etwas früher war und dies auch nicht die allerbeste Aufnahme des Liedes von TonSteineScherben ... es war ein Klassiker, der in den 80ern auf (fast) jeder linken Fete lief:
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Auch wenn es etwas früher war und dies auch nicht die allerbeste Aufnahme des Liedes von TonSteineScherben ... es war ein Klassiker, der in den 80ern auf (fast) jeder linken Fete lief:
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•NEUER BEITRAG13.11.2020, 16:31 Uhr
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arktika | |
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30 Jahre Schlacht um die Mainzer Straße
Eine zweite Hafenstraße sollte/durfte es nach dem Willen der Herrschenden nicht geben. Führte dort, ("Barrikadentage" Hamburg, November 1987) ein kompromißfähiger Erster Bürgermeister (Klaus von Dohnanyi, SPD), um eine völlige Eskalation möglichst zu vermeiden, - auch gegen Widerstände und Anfeindungen in seinen Kreisen - Verhandlungen mit den BewohnerInnen, die letztlich in einer Legalisierung der Häuser endeten, so wurde in Berlin seitens der Stadt von Anfang an auf Eskalation gesetzt.
Die Häuser mußten weg, koste es, was es wolle. Zum ersten Male wurden hier offensichtlich Tote bewußt einkalkuliert.
Die Häuser mußten weg, koste es, was es wolle. Zum ersten Male wurden hier offensichtlich Tote bewußt einkalkuliert.
•NEUER BEITRAG14.11.2020, 14:08 Uhr
EDIT: FPeregrin
14.11.2020, 14:09 Uhr
14.11.2020, 14:09 Uhr
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FPeregrin | |
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30 Jahre Schlacht um die Mainzer Straße
nd heute:
Die Avantgarde-Tunten
Vor 30 Jahren wurde die Mainzer Straße in Berlin geräumt.
Von Mischa Pfisterer und Rainer Rutz
Ich bin stundenlang mit Gasmaske herumgerannt, um irgendeine Art von Kommunikation zwischen den Häusern aufrechtzuerhalten», erinnert sich Bastian Krondorfer an die Vormittagsstunden des 14. November 1990. Pünktchen ist sich sicher, dass sie «irgendwelche Handgranaten gelöscht» habe. Nancy sagt: «Ich selbst war an den Krawallen nicht beteiligt.»
Die Räumung der 13 besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain, die an jenem Mittwoch vor 30 Jahren mit brutaler Polizeigewalt durchgezogen wurde, ist bis heute im Gedächtnis der radikalen Linken präsent. Zwar zählte der Ostteil Berlins allein im Sommer 1990 alles in allem fast 130 Hausbesetzungen. Dass von all diesen Projekten aber insbesondere die Mainzer Straße in Erinnerung geblieben ist, hängt vor allem mit ihrer Räumung zusammen.
Tausende Polizisten, mehrere Spezialeinsatzkommandos, etliche Wasserwerfer, Räumpanzer und Hubschrauber, dazu Blendgranaten und Gummigeschosse: Der damalige Westberliner Innensenator Erich Pätzold (SPD), dessen Polizei Anfang Oktober das Kommando im Osten der Stadt übernommen hatte, ließ sich in seinem Kampf gegen die rund 200 Besetzer nicht lumpen. Am Ende des sechseinhalbstündigen Polizeieinsatzes, kurz vor 13 Uhr, glich die Mainzer Straße einem Trümmerfeld, und die Polizei konnte vermelden: «Übergabe der Häuser an den Verantwortlichen». Darunter befand sich auch das Haus Mainzer Straße 4, das Zuhause von Bastian Krondorfer, Pünktchen, Nancy und gut 30 weiteren schwulen Autonomen und Punks - das Tuntenhaus.
30 Jahre später treffen Krondorfer, Pünktchen und Nancy für «nd» coronabedingt bei einer Online-Konferenz aufeinander. «Wir waren Mitte 20 und in der Besetzerszene eine große Nummer. Nichts ging ohne die Mainzer Straße, und in der Mainzer Straße ging nichts ohne uns, das Tuntenhaus», sagt Krondorfer, wohl wissend, dass das «ein bisschen arrogant» klingt.
Es habe keine Besetzergruppe gegeben, bei der nicht jemand aus dem Tuntenhaus mit an Bord gewesen sei. «Wir waren nicht die schrillen Tunten mit den schrillen Festen. Okay, das waren wir auch», sagt Krondorfer, der heute im Gesundheitsbereich tätig ist. «Aber wir hatten eben auch überall unsere Finger drin und haben wahrscheinlich viel mehr für die Gesamtbewegung gemacht als für unsere schwul-lesbischen Partikularinteressen.»
Nun können Erinnerungen trügen. Selbst Krondorfer, der sich an vieles zu erinnern glaubt, gibt mit Blick auf den Tag der Räumung zu: «Ich weiß es nicht mehr so genau, war ja wie ein Film.» Auch über den Zustand des Hauses gehen die Meinungen auseinander. «Der Seitenflügel war nicht bewohnbar», sagt Pünktchen. «Alle Zimmer waren bewohnbar», interveniert Krondorfer. «Ganz oben war Taubendreck. Da konnte man nicht rein. Aber die meisten Zimmer haben wir irgendwie hergerichtet», vermittelt Nancy.
Jenseits dieser Detailfragen, über deren korrekte Beantwortung - «Ja», «Nein», «Doch» - sich die drei heute noch anfrotzeln, stimmen Nancy und Pünktchen ihrem Ex-Mitbesetzer Krondorfer hinsichtlich der Bedeutung des Tuntenhauses für die Mainzer Straße zu. So fanden etwa die Verhandlungen mit dem Senat im Vorfeld der Räumung im Haus Nummer 4 statt, der linksradikalen Kommunikationszentrale. Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley habe ebenso in der Küche des Tuntenhauses rumgehockt und zu vermitteln versucht wie Renate Künast von den Grünen. «Ja, wo denn auch sonst?», meinen die drei.
«Wir waren Avantgarde in Sachen Politik», sagt Nancy, heute Projektleiterin in einer Freiwilligenagentur. Wichtig waren ihr dabei «diese verschiedenen Ebenen von Radikalität». Der Gesamtauftritt als linksradikale Tunten war demnach auch als doppelte Kampfansage zu verstehen: an die Macker in der eigenen Besetzerszene und an die verbürgerlichten Homos in der Schwulenszene. Man hätte, so Nancy weiter, einfach alles und jeden «auf die Schippe» genommen, «und das so gnadenlos, dass man aus vollem Hals lacht». Dass das Tuntenhaus damals viel Aufmerksamkeit bekommen habe, hänge auch damit zusammen, «dass der Typ der Polit-Tunte für viele etwas komplett Ungewohntes war». Männer in Frauenklamotten, geschminkt und aufgetakelt, das alles aber eben nicht nur betont punkig, sondern auch antirassistisch und antikapitalistisch - das war provokativ. «Und wir waren krass provokativ», sagt Nancy. Einige seien bei den Besetzertreffen stets «im Fummel» aufgekreuzt. «Wir haben dann regelmäßig die Heten-Männer in den Hintern gekniffen. Pünktchen, du wirst dich erinnern!» Pünktchen lacht.
Fast alle Hausbewohner hatten zuvor in Westberlin gewohnt, wie Krondorfer und Pünktchen vornehmlich in Kreuzberg. Am 1. Mai, dem Tag der Besetzung, hatten die meisten von ihnen in den Ostteil der Stadt, eben die Mainzer Straße, «rübergemacht». Für viele Anwohner Ost waren die Besetzer im Allgemeinen und die Tunten im Besonderen vor allem eines: durchgedrehte Westler. Die Stimmung? Mitunter freundlich, mitunter desinteressiert, mitunter feindselig. «Man beäugte sich mit der anderen Seite», berichtet Pünktchen. Es habe Alteingesessene gegeben, «die kamen vorbei, standen da und schauten auf die Straße».
Auch die Ur-Friedrichshainerin Nancy schaute recht bald. Nur anders. «Ich dachte mir: Mensch, da gehe ich doch mal gucken! Und schon saß ich beim Plenum mit dabei.» Sie sei schwer beeindruckt gewesen «von diesen Autonomen, Tunten und Schwulen», die so radikal waren. «Als ich dann gesagt habe, ich finde diesen gesetzlosen Zustand gut, fanden das alle toll - und ich bin eingezogen.» Sie war somit eine der wenigen Ost-Tunten.
Überhaupt diese Plenen. Für Bastian Krondorfer war das halbe Jahr ein einziges Dauerplenum. «Das meine ich nicht negativ. Wir haben oft mit 30 Leuten Plenum gemacht. Das war gut, weil es da um etwas ging.» Immer wieder eine Rolle spielte dabei die Verteidigung der Straße gegen Neonazi-Angriffe, ergänzt Nancy. Bei einem Plenum ging schließlich das Nebelhorn. «Das hieß Nazi-Alarm. Da war ich noch neu im Haus und hatte erwartet, dass jetzt alle unter den Tisch krauchen. Aber dann pellten sich ein paar Jungs die Lederjacke über, nahmen sich Knüppel und gingen los zur Tür. Ich war hin und weg.» Krondorfer: «Ich hatte keine Lederjacke, sondern eine Bomberjacke an.» Nancy: «Dann war es halt eine Bomberjacke.»
Die Neonazis hatten ihre Angriffe «irgendwann im Sommer» eingestellt, sagt Krondorfer. Ungefähr zur gleichen Zeit übernahmen Westberliner Wohnungsbaugesellschaften die Kontrolle bei den Ostberliner Kommunalen Wohnungsverwaltungen, darunter auch die, die für die Mainzer Straße zuständig war. Die Tage der Besetzer waren von nun an gezählt. Die West-Verwalter hatten ebenso wenig ein Interesse daran, Verträge abzuschließen und die Besetzungen zu legalisieren, wie ein Großteil der Autonomen, auch wenn, wenigstens in der Küche des Tuntenhauses, verhandelt wurde. Bis zur Räumung. «Ich konnte gerade mal eine Tasche mit Klamotten retten», erinnert sich Pünktchen an den 14. November 1990. «Wir waren zutiefst traumatisiert, noch Jahre danach», so die Maskenbildnerin und Performance-Darstellerin.
Einige Bewohner zogen in ein «neues» Tuntenhaus an der Kastanienallee in Prenzlauer Berg, einige zogen sich zurück. Und heute? Was bleibt, meint Nancy, sei die Erkenntnis, «dass man vom Rand aus, aus einer doppelt abgegrenzten Position, radikale Politik machen und Dinge gestalten kann. Das prägt.»
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Die Avantgarde-Tunten
Vor 30 Jahren wurde die Mainzer Straße in Berlin geräumt.
Von Mischa Pfisterer und Rainer Rutz
Ich bin stundenlang mit Gasmaske herumgerannt, um irgendeine Art von Kommunikation zwischen den Häusern aufrechtzuerhalten», erinnert sich Bastian Krondorfer an die Vormittagsstunden des 14. November 1990. Pünktchen ist sich sicher, dass sie «irgendwelche Handgranaten gelöscht» habe. Nancy sagt: «Ich selbst war an den Krawallen nicht beteiligt.»
Die Räumung der 13 besetzten Häuser in der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain, die an jenem Mittwoch vor 30 Jahren mit brutaler Polizeigewalt durchgezogen wurde, ist bis heute im Gedächtnis der radikalen Linken präsent. Zwar zählte der Ostteil Berlins allein im Sommer 1990 alles in allem fast 130 Hausbesetzungen. Dass von all diesen Projekten aber insbesondere die Mainzer Straße in Erinnerung geblieben ist, hängt vor allem mit ihrer Räumung zusammen.
Tausende Polizisten, mehrere Spezialeinsatzkommandos, etliche Wasserwerfer, Räumpanzer und Hubschrauber, dazu Blendgranaten und Gummigeschosse: Der damalige Westberliner Innensenator Erich Pätzold (SPD), dessen Polizei Anfang Oktober das Kommando im Osten der Stadt übernommen hatte, ließ sich in seinem Kampf gegen die rund 200 Besetzer nicht lumpen. Am Ende des sechseinhalbstündigen Polizeieinsatzes, kurz vor 13 Uhr, glich die Mainzer Straße einem Trümmerfeld, und die Polizei konnte vermelden: «Übergabe der Häuser an den Verantwortlichen». Darunter befand sich auch das Haus Mainzer Straße 4, das Zuhause von Bastian Krondorfer, Pünktchen, Nancy und gut 30 weiteren schwulen Autonomen und Punks - das Tuntenhaus.
30 Jahre später treffen Krondorfer, Pünktchen und Nancy für «nd» coronabedingt bei einer Online-Konferenz aufeinander. «Wir waren Mitte 20 und in der Besetzerszene eine große Nummer. Nichts ging ohne die Mainzer Straße, und in der Mainzer Straße ging nichts ohne uns, das Tuntenhaus», sagt Krondorfer, wohl wissend, dass das «ein bisschen arrogant» klingt.
Es habe keine Besetzergruppe gegeben, bei der nicht jemand aus dem Tuntenhaus mit an Bord gewesen sei. «Wir waren nicht die schrillen Tunten mit den schrillen Festen. Okay, das waren wir auch», sagt Krondorfer, der heute im Gesundheitsbereich tätig ist. «Aber wir hatten eben auch überall unsere Finger drin und haben wahrscheinlich viel mehr für die Gesamtbewegung gemacht als für unsere schwul-lesbischen Partikularinteressen.»
Nun können Erinnerungen trügen. Selbst Krondorfer, der sich an vieles zu erinnern glaubt, gibt mit Blick auf den Tag der Räumung zu: «Ich weiß es nicht mehr so genau, war ja wie ein Film.» Auch über den Zustand des Hauses gehen die Meinungen auseinander. «Der Seitenflügel war nicht bewohnbar», sagt Pünktchen. «Alle Zimmer waren bewohnbar», interveniert Krondorfer. «Ganz oben war Taubendreck. Da konnte man nicht rein. Aber die meisten Zimmer haben wir irgendwie hergerichtet», vermittelt Nancy.
Jenseits dieser Detailfragen, über deren korrekte Beantwortung - «Ja», «Nein», «Doch» - sich die drei heute noch anfrotzeln, stimmen Nancy und Pünktchen ihrem Ex-Mitbesetzer Krondorfer hinsichtlich der Bedeutung des Tuntenhauses für die Mainzer Straße zu. So fanden etwa die Verhandlungen mit dem Senat im Vorfeld der Räumung im Haus Nummer 4 statt, der linksradikalen Kommunikationszentrale. Die DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley habe ebenso in der Küche des Tuntenhauses rumgehockt und zu vermitteln versucht wie Renate Künast von den Grünen. «Ja, wo denn auch sonst?», meinen die drei.
«Wir waren Avantgarde in Sachen Politik», sagt Nancy, heute Projektleiterin in einer Freiwilligenagentur. Wichtig waren ihr dabei «diese verschiedenen Ebenen von Radikalität». Der Gesamtauftritt als linksradikale Tunten war demnach auch als doppelte Kampfansage zu verstehen: an die Macker in der eigenen Besetzerszene und an die verbürgerlichten Homos in der Schwulenszene. Man hätte, so Nancy weiter, einfach alles und jeden «auf die Schippe» genommen, «und das so gnadenlos, dass man aus vollem Hals lacht». Dass das Tuntenhaus damals viel Aufmerksamkeit bekommen habe, hänge auch damit zusammen, «dass der Typ der Polit-Tunte für viele etwas komplett Ungewohntes war». Männer in Frauenklamotten, geschminkt und aufgetakelt, das alles aber eben nicht nur betont punkig, sondern auch antirassistisch und antikapitalistisch - das war provokativ. «Und wir waren krass provokativ», sagt Nancy. Einige seien bei den Besetzertreffen stets «im Fummel» aufgekreuzt. «Wir haben dann regelmäßig die Heten-Männer in den Hintern gekniffen. Pünktchen, du wirst dich erinnern!» Pünktchen lacht.
Fast alle Hausbewohner hatten zuvor in Westberlin gewohnt, wie Krondorfer und Pünktchen vornehmlich in Kreuzberg. Am 1. Mai, dem Tag der Besetzung, hatten die meisten von ihnen in den Ostteil der Stadt, eben die Mainzer Straße, «rübergemacht». Für viele Anwohner Ost waren die Besetzer im Allgemeinen und die Tunten im Besonderen vor allem eines: durchgedrehte Westler. Die Stimmung? Mitunter freundlich, mitunter desinteressiert, mitunter feindselig. «Man beäugte sich mit der anderen Seite», berichtet Pünktchen. Es habe Alteingesessene gegeben, «die kamen vorbei, standen da und schauten auf die Straße».
Auch die Ur-Friedrichshainerin Nancy schaute recht bald. Nur anders. «Ich dachte mir: Mensch, da gehe ich doch mal gucken! Und schon saß ich beim Plenum mit dabei.» Sie sei schwer beeindruckt gewesen «von diesen Autonomen, Tunten und Schwulen», die so radikal waren. «Als ich dann gesagt habe, ich finde diesen gesetzlosen Zustand gut, fanden das alle toll - und ich bin eingezogen.» Sie war somit eine der wenigen Ost-Tunten.
Überhaupt diese Plenen. Für Bastian Krondorfer war das halbe Jahr ein einziges Dauerplenum. «Das meine ich nicht negativ. Wir haben oft mit 30 Leuten Plenum gemacht. Das war gut, weil es da um etwas ging.» Immer wieder eine Rolle spielte dabei die Verteidigung der Straße gegen Neonazi-Angriffe, ergänzt Nancy. Bei einem Plenum ging schließlich das Nebelhorn. «Das hieß Nazi-Alarm. Da war ich noch neu im Haus und hatte erwartet, dass jetzt alle unter den Tisch krauchen. Aber dann pellten sich ein paar Jungs die Lederjacke über, nahmen sich Knüppel und gingen los zur Tür. Ich war hin und weg.» Krondorfer: «Ich hatte keine Lederjacke, sondern eine Bomberjacke an.» Nancy: «Dann war es halt eine Bomberjacke.»
Die Neonazis hatten ihre Angriffe «irgendwann im Sommer» eingestellt, sagt Krondorfer. Ungefähr zur gleichen Zeit übernahmen Westberliner Wohnungsbaugesellschaften die Kontrolle bei den Ostberliner Kommunalen Wohnungsverwaltungen, darunter auch die, die für die Mainzer Straße zuständig war. Die Tage der Besetzer waren von nun an gezählt. Die West-Verwalter hatten ebenso wenig ein Interesse daran, Verträge abzuschließen und die Besetzungen zu legalisieren, wie ein Großteil der Autonomen, auch wenn, wenigstens in der Küche des Tuntenhauses, verhandelt wurde. Bis zur Räumung. «Ich konnte gerade mal eine Tasche mit Klamotten retten», erinnert sich Pünktchen an den 14. November 1990. «Wir waren zutiefst traumatisiert, noch Jahre danach», so die Maskenbildnerin und Performance-Darstellerin.
Einige Bewohner zogen in ein «neues» Tuntenhaus an der Kastanienallee in Prenzlauer Berg, einige zogen sich zurück. Und heute? Was bleibt, meint Nancy, sei die Erkenntnis, «dass man vom Rand aus, aus einer doppelt abgegrenzten Position, radikale Politik machen und Dinge gestalten kann. Das prägt.»
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•NEUER BEITRAG14.11.2020, 15:32 Uhr
Nutzer / in | |
arktika | |
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Schwach, wenn das der einzige Artikel im nd zum Thema Räumung Mainzer Straße sollte, eine bloße Nabelschau von "Tunten" und fast nichts Substanzielles.
•NEUER BEITRAG14.11.2020, 16:55 Uhr
Nutzer / in | |
FPeregrin | |
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In der Tat, das ist die Auflösung jedes gesellschaftlichen Zusammenhangs in der Geschichte in Anekdotismus. Ich lese das nd zu unregelmäßig, um sagen zu können, ob das Masche wird; wundern würde es mich grundsätzlich nicht.
Worüber ich allerdings gestolpert bin ist dies:
"Pünktchen ist sich sicher, dass sie «irgendwelche Handgranaten gelöscht» habe."
Ich habe hier militärische Zweifel. Handgranaten sind keine üblichen Polizeiwaffen. Wären sie seinerzeit eingesetzt worden, wäre das nicht geheim geblieben. Zudem sind sie eine Explosionswaffe mit Zeit- oder Aufschlagzündung, die man nicht mal eben "löschen" kann. Nebenbei würde kein denkender Mensch einfach an ein frisch geworfene Handgranate herantreten wollen. Was ist gemeint? Die Bullen werden Gas- und Blendschockgranaten verwendet haben (evtl. auch Rauchgranaten?); aber die werden geschossen und nicht geworfen. Herumliegende Tränengasgranaten kann man sinnvollerweise löschen - oder besser: zurückwerfen (Achtung: heiß!) -, aber sie sind eben keine Hangranaten. Oder sollten hier die Mollis der eigenen Seite gelöscht worden sein? Das wäre allerdings ein dicker Hund. - Ich kann nur hoffen, daß hier diese "Handgranaten" nicht irgendwie kolportiert werden.
Worüber ich allerdings gestolpert bin ist dies:
"Pünktchen ist sich sicher, dass sie «irgendwelche Handgranaten gelöscht» habe."
Ich habe hier militärische Zweifel. Handgranaten sind keine üblichen Polizeiwaffen. Wären sie seinerzeit eingesetzt worden, wäre das nicht geheim geblieben. Zudem sind sie eine Explosionswaffe mit Zeit- oder Aufschlagzündung, die man nicht mal eben "löschen" kann. Nebenbei würde kein denkender Mensch einfach an ein frisch geworfene Handgranate herantreten wollen. Was ist gemeint? Die Bullen werden Gas- und Blendschockgranaten verwendet haben (evtl. auch Rauchgranaten?); aber die werden geschossen und nicht geworfen. Herumliegende Tränengasgranaten kann man sinnvollerweise löschen - oder besser: zurückwerfen (Achtung: heiß!) -, aber sie sind eben keine Hangranaten. Oder sollten hier die Mollis der eigenen Seite gelöscht worden sein? Das wäre allerdings ein dicker Hund. - Ich kann nur hoffen, daß hier diese "Handgranaten" nicht irgendwie kolportiert werden.
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technischer Jahresrückblick 2023
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Wie immer zum Jahresanfang: Herzlichen Dank für die Zusammenstellung der Daten!!!
Wie immer auch ein wenig Besorgnis: Éin ...mehr
arktika
• 04.01.2024
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arktika
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09.10.2024