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NEUES THEMA16.07.2020, 14:42 Uhr
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FPeregrin

• Italien: Zur Lage der Linken jW heute:

Tristezza e Resitenza

Land ohne Linke

Vorabdruck. Der Rechtsruck in Italien stößt auf Widerstand, doch tradierte Parteien spielen dabei kaum eine Rolle

Von Jens Renner

In diesen Tagen erscheint im Berliner Verlag Bertz und Fischer von Jens Renner das Buch »Neuer Faschismus? Der Aufstieg der Rechten in Italien«. Wir veröffentlichen daraus mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag das Kapitel »Linke Gegenwehr«. (jW)

»Noch nie wurde so viel gegen die herkömmliche Differenzierung zwischen rechts und links geschrieben wie heute; sie wird als überholt betrachtet, als sinnlos«, schrieb der Philosoph Norberto Bobbio (1909–2004) in seinem zum Klassiker gewordenen Büchlein »Rechts und Links. Gründungen und Bedeutungen einer politischen Unterscheidung«. Es erschien erstmals 1994, nach der Auflösung der Sowjetunion und dem damit angeblich vollzogenen »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama). Ideologien seien überwunden, ab sofort würde es in der Politik nur noch um die Lösung von Problemen gehen, lautete die gängige Doktrin. Ihr hat Bobbio mit der gebotenen Deutlichkeit widersprochen, und natürlich hat die Entwicklung ihm recht gegeben. Das »Fortbestehen des für unveräußerlich gehaltenen Rechts auf Privateigentum« schaffe und festige Ungleichheit, schrieb er. Insbesondere der Blick auf die internationale soziale Frage zeige, »dass die Linke ihren Weg nicht nur nicht zu Ende gegangen ist, sondern ihn überhaupt erst beginnt«.¹

Die ersten, die sich in Italien auf die gewandelten Rahmenbedingungen nach dem Ende der Blockkonfrontation einstellten, waren die Kommunisten. Auf ihrem »Parteitag der Wende« Anfang 1991 vollzogen sie einen ähnlichen Schwenk wie die westdeutschen Sozialdemokraten 1959 mit ihrem Godesberger Parteitag. Unter Achille Occhetto wurde aus dem Partito Comunista Italiano (PCI) der Partito Democratico della Sinistra (PDS). Diejenigen PCI-Genossen, die diesen Weg nicht mitgehen wollten, konstituierten sich als Partei der Kommunistischen Neugründung (Partito della Rifondazione Comunista/PRC). In den bürgerlichen Medien als Sammlung unbelehrbarer Nostalgiker abqualifiziert, entwickelte sich eine bunte, pluralistische Partei, die auch für junge Menschen aus den sozialen Bewegungen attraktiv wurde und bei nationalen Wahlen um die fünf, 1996 sogar 8,4 Prozent erreichte. Nach diversen Spaltungen existiert sie immer noch, ist aber schon lange nur noch eine von mehreren Gruppierungen der radikalen (oder »antagonistischen«) Linken.

Für deren Niedergang gibt es viele Ursachen. Die staatliche Repression im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Genua 2001 spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch die Schwierigkeit, in der mit Silvio Berlusconis Einstieg in die Politik begonnenen Konfrontation zwischen Mitte-rechts (centrodestra) und Mitte-links (centrosinistra) nicht zerrieben zu werden. Ab 1994 stand man vor dem Problem, den Sieg des Rechtsblocks verhindern zu helfen, dabei aber mit eigenem Profil sichtbar zu bleiben. Das galt für Rifondazione Comunista ebenso wie für die anderen linken Gruppierungen wie Comunisti Italiani oder Sinistra Ecologia Libertà (SEL), und es gilt heute für die Sinistra Italiana (SI), die bedeutendste der verbliebenen linken Kleinparteien. In den Jahren der Mitte-links-Regierungen (1996 bis 2001, 2006 bis 2008 und 2013 bis 2018) hat die radikale Linke mal mitregiert, mal das kleinere Übel toleriert, dann wieder konstruktive Opposition betrieben. Bei Vertrauensabstimmungen, wenn es auf ihre Stimmen ankam, votierten die linken Parlamentarier meist »mit zugehaltener Nase« für Regierungen, deren Politik sie in großen Teilen von links kritisierten, um Schlimmeres zu verhindern.

Nach dem Ende von Berlusconis letzter Rechtsregierung 2011 und dem Intermezzo unter dem parteilosen Premier Mario Monti setzte sich das Dilemma bei den Parlamentswahlen 2013 auf andere Weise fort. Das Linksbündnis Rivoluzione Civile (RC) mit dem Antimafiaaktivisten Antonio Ingroia als Spitzenkandidaten scheiterte mit nur 2,2 Prozent an der Vierprozenthürde. Nicola »Nichi« Vendolas Partei SEL, die auch nur 3,2 Prozent erreichte, hatte sich dagegen mit der Demokratischen Partei auf der gemeinsamen Liste Italia Bene Comune (Gemeinwohl) zusammengetan und auf diese Weise eine Reihe von Kandidaten ins Parlament gebracht. Dort begaben sie sich dann in die Opposition, während Premier Gianni Letta (PD) im März 2013 eine große Koalition mit Berlusconi und Monti einging.

Renzis »tausend Tage«

Auf eine kurze Übergangszeit mit Letta folgten, zwischen Februar 2014 und Dezember 2016, die »tausend Tage« Matteo Renzis, auf die der immer noch stolz ist. Die Selbstbeweihräucherung wurde ein Leitmotiv seiner Amtszeit. Zwar umgab er sich mit einem außergewöhnlich jungen Kabinett (Durchschnittsalter bei Amtsantritt 47 Jahre), in dem anfangs sieben Frauen und neun Männer saßen. Den Kurs aber bestimmte er allein und dies, wenn die parlamentarische Mehrheit fehlte, auch immer wieder per Dekret oder Vertrauensabstimmung über seine Regierung. Allein die Zahl der Gesetzesänderungen verkaufte Renzi als Beweis für die Dynamik seiner Regierung. Dabei handelte es sich – aller Reformrhetorik zum Trotz – fast durchgehend um Maßnahmen zum Wohle des Kapitals.

Das gilt insbesondere für das Kernstück seiner Reformpolitik, das Gesetzespaket zur neoliberalen Umstrukturierung des Arbeitsmarktes. Im Rahmen der »Jobs Act« genannten Maßnahmen erhielten Unternehmen stattliche Steuergeschenke. Auch der Kündigungsschutz der abhängig Beschäftigten wurde erheblich eingeschränkt, vor allem durch die Aufhebung des Artikels 18 aus dem 1970 erkämpften Arbeiterstatut (statuto dei lavoratori): Er legte fest, dass in Fällen gerichtlich festgestellter unrechtmäßiger Kündigung die Betroffenen wieder eingestellt werden mussten; nach seiner Abschaffung gibt es nur noch Abfindungen. Die in Aussicht gestellte Gegenleistung der Unternehmen blieb weitgehend aus: Sie würden mehr Menschen unbefristet einstellen, wenn sie diese bei Bedarf leichter als bisher wieder loswerden könnten, hatte die Regierungspropaganda vorgerechnet. Statt dessen ist seit vielen Jahren prekäre Beschäftigung zu Niedriglöhnen auf dem Vormarsch; die Beschäftigungsverhältnisse sind meistens befristet, und die Zahl der Jobs auf Abruf stieg drastisch. Durch eine Verschärfung der gesetzlichen Regelungen erhielten zudem weniger vorübergehend Entlassene Zuwendungen aus dem Kurzarbeitsfonds der Cassa Integrazione Guadagni (CIG).

Unangetastet blieb während der »tausend Tage« dagegen die schon von Mario Montis Arbeits- und Sozialministerin Elsa Fornero durchgesetzte Rentenreform, durch die das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre erhöht wurde. Einzige soziale »Wohltat« der Ära Renzi war ein Steuerrabatt von 80 Euro monatlich für untere und mittlere Einkommen; Arme, die keine Einkommenssteuer zahlen, gingen leer aus.

Per Referendum vereitelt wiederum wurde eine weitreichende Änderung der Verfassung: das Renzi-Boschi-Gesetz, benannt nach dem Premier und seiner Reformministerin Maria Elena Boschi. Danach wäre der Senat, die zweite Kammer des Parlaments, von 315 auf 100 Mitglieder verkleinert und in seinen Kompetenzen beschnitten worden. So wäre er nicht mehr an Vertrauensabstimmungen über den Regierungschef beteiligt gewesen – das Ende des »perfekten Zwei-Kammer-Systems« (bicameralismo perfetto). 1948, bei der Verabschiedung der republikanischen Verfassung, war dieses System ausdrücklich mit den Erfahrungen des Faschismus begründet worden. Ziel war es, der Regierung durch eine starke Legislative Grenzen zu setzen. Dafür wurde ein etwas schwerfälliges Verfahren in Kauf genommen: Beide Kammern, Abgeordnetenhaus und Senat, müssen – jeweils für sich – jedes einzelne Gesetz beschließen. Das behindere effektives Regieren und verursache unnötige Kosten, argumentierten die Befürworter der Verfassungsreform. Mit 40 Prozent der abgegebenen Stimmen blieben sie beim Referendum am 4. Dezember 2016 aber deutlich in der Minderheit – für Renzi eine krachende Niederlage. Da er die Abstimmung zum Plebiszit über seine Person erklärt hatte, trat er danach als Regierungschef zurück, blieb aber PD-Sekretär bis März 2018.

Offensichtlich ist er vor allem an Selbstüberschätzung gescheitert. Die knapp 41 Prozent, die seine Partei 2014 bei den Wahlen zum Europäischen Parlament geholt hatte, verleiteten ihn zu der irrigen Annahme, auf linke Bündnispartner verzichten zu können. Aus dem Partito Democratico wollte er einen Partito della Nazione machen – ein größenwahnsinniges und wegen seiner Anklänge an den historischen Faschismus geschichtsvergessenes Projekt: Partito Nazionale Fascista (PNF) war der offizielle Name der Partei Mussolinis.
Buchbasar

In sozialer Hinsicht war die Hinterlassenschaft von Renzis Amtszeit (und die seines Nachfolgers und Parteifreundes Paolo Gentiloni) verheerend. Das bestätigen die offiziellen Zahlen des staatlichen italienischen Statistikinstituts (Istat) wie auch die des Istituto Nazionale della Previdenza Sociale (INPS), des größten italienischen Sozialversicherungsträgers. Ende 2017 lebten mehr als 20 Prozent der Italienerinnen und Italiener und ein Drittel der Kinder in Armut oder waren von Armut bedroht; im Süden des Landes sah es noch schlimmer aus. Laut Oxfam besaßen die sieben reichsten Italiener ebensoviel wie die 18 Millionen ärmsten.

Bei der Parlamentswahl im März 2018 hätten diese offiziellen Sozialdaten eine Argumentationshilfe für die linke Opposition bedeuten können – profitiert haben aber die »Fünf Sterne« und die Lega. Deren Versprechen, ein Bürgereinkommen einzuführen bzw. die Steuern zu senken, waren für viele Wähler offenbar verlockender als die weniger konkreten Reformprogramme der Linken.


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Schwache Linke, starke Bewegungen

Nach den Erfahrungen mit mehreren Mitte-links-Regierungen ist in Italien schon das Wort links (sinistra) alles andere als populär. Auch Linke geben ihren Projekten gern unverfängliche und vermeintlich mehr Erfolg versprechende Namen, besonders wenn sie zu Wahlen antreten: Da gab es zur Europawahl 2014 die Liste L’Altra Europa con Tsipras (Das andere Europa mit Tsipras), bei der Parlamentswahl 2018 dann Potere al Popolo (Die Macht dem Volk/PaP) und die Liberi e Uguali (Freie und Gleiche/LeU). Letztere sind seit September 2019 sogar an der Regierung beteiligt, ohne dort besonders aufzufallen. Auch wohlmeinende Beobachter führen das unter anderem auf das Fehlen charismatischer Leader zurück. Der letzte dieser Art war Nichi Vendola, offen schwuler Kommunist und Katholik, der zehn Jahre lang, von 2005 bis 2015, Präsident der süditalienischen Region Apulien war. Sein Versuch, die radikale Linke zu einen, scheiterte allerdings und mit ihm der »Leaderismo« genannte Personenkult.

Bleiben als Hoffnungsträger also die sozialen Bewegungen. Ihnen, wie auch den Gewerkschaften, gelingen immer wieder beachtliche Mobilisierungen, Massendemonstrationen in Rom oder anderen Metropolen inklusive. Sie widersetzen sich dem Ausverkauf öffentlicher Güter (beni comuni), kämpfen für das Recht auf Stadt und den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Kultur, gegen die Privatisierung der Wasserversorgung und des öffentlichen Nahverkehrs, gegen die Wohnungsnot, die immer noch steigende Erwerbslosigkeit sowie Umweltschäden durch rücksichtslosen Raubbau. Unabhängig von der parteipolitischen Ausrichtung der jeweiligen Regierung sind sie immer wieder harter Repression ausgesetzt. Zum Alltag gehört staatliche Repression auch für Menschen, die in besetzten Häusern leben; allein in Rom sind das etwa 10.000 Menschen, darunter viele Migranten. Oft wird ihnen Wasser und Strom abgestellt, oder die Häuser werden gewaltsam geräumt.

Deutlicher sichtbar geworden sind in den vergangenen Jahren Bewegungen, die sich teuren und ökologisch zerstörerischen Großprojekten widersetzen. 2019 nahmen auch die Klimaproteste im Rahmen von »Fridays for Future« zu. Ebenso unüberhörbar wurde die feministische Bewegung »Non una di meno« (Nicht eine weniger), die sich im November 2016 gründete. Damals demonstrierten in Rom etwa 200.000 Menschen gegen Gewalt gegen Frauen.

Bei Protesten gegen Salvini, die Lega und ihre ultrarechten Bündnispartner sind Aktivisten diverser Bewegungen vereint. So demonstrierten am 2. März 2019 in Mailand mehr als 200.000 Menschen gegen staatlichen Rassismus – doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Kurz darauf folgten in Verona massenhafte Proteste gegen den reaktionären World Congress of Families, den Salvini persönlich unterstützte. Und am 25. April 2019, dem Jahrestag der Befreiung von der Naziokkupation und vom Faschismus (Liberazione), beteiligten sich deutlich mehr Menschen an den traditionellen antifaschistischen Demonstrationen als in den Vorjahren. Offensichtlich ist der Faschismus für viele nicht nur ein erinnerungspolitisches, sondern mehr und mehr ein aktuelles Thema, weil er eine konkrete Bedrohung darstellt.

Auch im Alltag, jenseits von Demonstrationen, wird der Protest regelmäßig sichtbar. Ein einfaches, aber sehr wirksames Mittel ist das gute alte Transparent. Wenn an den von Salvinis Wahlkampfauftritten heimgesuchten Orten Balkone und Häuserwände massenhaft mit Parolen gegen ihn verziert werden, macht das den selbsternannten Volkstribun erkennbar nervös. Kritische Zwischenrufe, Gesänge und andere Störgeräusche bei seinen Wahlkampfauftritten bringen ihn ernsthaft aus der Fassung. Mitunter schaffen es auch vergleichsweise unscheinbare Akte von Zivilcourage in die Medien. So verweigerte im Januar 2020 während des Regionalwahlkampfs in Bologna ein Barbesitzer Salvini und seiner Entourage den Zutritt – ein scheinbar banaler Akt des Protestes, aber auch keine Kleinigkeit für Salvini, der für gewöhnlich seinen Facebook-Account mit Filmchen füttert, auf denen er – von Mensch zu Mensch – mit Wirten, Kellnern, Köchen und anderen »kleinen Leuten« plaudert.

Auch dass es immer wieder Vertreter der katholischen Kirche sind, die gegen seine rassistische Hetze das Wort ergreifen, kann Salvini, dem frömmelnden Verehrer der Jungfrau Maria, nicht gefallen. Auf breite Ablehnung, selbst bei Mitte-rechts-Politikern, stieß im Sommer 2019 seine Ankündigung, die Grenze nach Slowenien durch eine Mauer gegen eine angebliche Invasion abriegeln zu wollen. Hinzu kommt die offene Weigerung etlicher Bürgermeister von Hafenstädten, die sich Salvinis »Politik der geschlossenen Häfen« entgegenstellten. Palermos langjähriger Bürgermeister Leoluca Orlando, ein ehemaliger Christdemokrat, gehört deswegen zu Salvinis Lieblingsfeinden. Er nannte Salvini einen »Protofaschisten«. Salvini konterte, indem er Orlando als Verräter und »Freund illegaler Einwanderer« beschimpfte.²

Zu den aufrechten und mittlerweile international bekannten Persönlichkeiten, die sich dem Rechtskurs widersetzen, gehört auch der ehemalige Bürgermeister des kalabrischen Dorfes Riace, Domenico »Mimmo« Lucano. Unter seiner Regie wurden ab 1998 die dort leerstehenden Häuser Geflüchteten aus Kurdistan, Afghanistan, dem Irak, Somalia und Eritrea überlassen. Davon profitierten nicht nur die neu Eingewanderten, sondern auch die Alteingesessenen: Die kommunale Infrastruktur wurde modernisiert, Ladenbesitzer fanden neue Kunden. In einem politisch motivierten Prozess wurde Lucano beschuldigt, Geld veruntreut, »illegale Einwanderung« und »Scheinehen« gefördert zu haben. Die juristische Verfolgung des dissidenten Bürgermeisters löste in ganz Italien eine Welle der Solidarität aus. Inzwischen ist Lucano, der eine Zeit lang unter Hausarrest stand, wieder frei, die Zukunft des »Modells Riace« aber ungewiss.

Während Salvini und seine Anhänger Lucano übelst beleidigen, müssen sie sich gegenüber Liliana Segre zurückhalten – allerdings nur öffentlich. So wird die Holocaustüberlebende aus jüdischer Familie, seit 2018 Senatorin auf Lebenszeit, mit anonymen Hassmails, Morddrohungen inklusive, überschüttet. Zugleich machen rechte Politiker, darunter auch Salvini, ihr zweifelhafte Angebote zur gemeinsamen Bekämpfung des Antisemitismus. Die Kommunalverwaltung von Verona bot ihr gar die Ehrenbürgerschaft an – während sie zeitgleich eine Straße nach dem Faschisten Giorgio Almirante benannte. Segre lehnte beide Zumutungen mit klaren Worten ab: Der Antisemitismus müsse stets gemeinsam mit dem Rassismus bekämpft werden, und zwischen ihrer Person und Almirante müsse man sich schon entscheiden. Beide zu ehren, sei aus Gründen der Geschichte, der Ethik und der Logik »nicht kompatibel«.


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NEUER BEITRAG16.07.2020, 14:47 Uhr
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Die Sardinen

Im November 2019 trat eine neue, völlig unerwartete Kraft auf den Plan, die Bewegung der »Sardinen«. Binnen weniger Tage wurde der kleine Fisch zum Symbol für massenhaften Protest gegen Rassismus und rechte Hetze. Ausgangspunkt war Bologna, die Hauptstadt der Region Emilia-Romagna, wo am 26. Januar 2020 gewählt wurde. Gegen einen Wahlkampfauftritt des Lega-Chefs Matteo Salvini, für den eine 5.700 Menschen fassende Halle angemietet worden war, riefen vier junge Leute – meist nur bei ihren Vornamen Andrea, Giulia, Mattia und Roberto genannt – zum Flashmob der »6.000 Sardinen« auf der Piazza Maggiore. Sie wollten zeigen, dass sie mehr Menschen mobilisieren konnten als die Lega. Es kamen 15.000, die »dicht gepackt wie Sardinen« dem vermeintlich starken Mann die Show stahlen. Ähnliche Versammlungen folgten in allen Teilen Italiens – immer mit dabei: das ungewöhnliche Symboltier, die Sardine, bunt bemalt, aus Stoff, Pappe und Papier, gern auch als Kopfbedeckung. Gängige Parolen lauteten »Palermo non abbocca« (Palermo beißt nicht an) oder »Rimini non si Lega« (Rimini lässt sich nicht von der Lega einfangen: ein Wortspiel). Salvini reagierte mit Bildern von Katzen, die Fische im Maul trugen. Bis Januar 2020 waren es weit mehr als 100 Orte, an denen die Sardinen auftauchten. Trotz der Spontaneität gelten strenge Regeln: strikte Gewaltlosigkeit, nicht erlaubt sind Parteifahnen und kommunistische Kampflieder wie »Bandiera Rossa«; dafür singt man allerorten das überparteiliche Partisanenlied »Bella Ciao«, das zur Hymne der Sardinen wurde.

Dass die Bewegung in der Emilia-Romagna entstand, war kein Zufall. Aus den dortigen Regionalwahlen hatte Salvini ein Referendum über die Regierung in Rom machen wollen. Sein Kalkül: Nach einem Sieg der Rechten in der »roten Hochburg« um Bologna würde die Koalition aus »Fünf-Sterne-Bewegung« und Partito Democratico über kurz oder lang auseinanderbrechen; bei den dann unvermeidlichen Neuwahlen aber würde der Rechtsblock triumphieren und er selbst Premier werden.

Das misslang. Am Ende lag der Mitte-links-Kandidat Stefano Bonaccini (PD) fast acht Prozentpunkte vor Lucia Borgonzoni von der Lega. Deren Niederlage ist auch die von Matteo Salvini. Allerdings ist der rechte Durchmarsch erst einmal nur unterbrochen. Denn die Mehrheit für Mitte-links ist vor allem zwei Faktoren zu verdanken. Zum einen ist da die deutlich gestiegene Wahlbeteiligung. Daran hatten die Sardinen einen erheblichen Anteil. Sie mobilisierten auch Wähler, die sich in den vergangenen Jahren enttäuscht von den Mitte-links-Parteien abgewandt hatten. Und sie riefen ganz offen zu taktischer Stimmabgabe auf, dem »Voto disgiunto« (Splitting). Das praktizierten vor allem viele Anhänger der Fünf-Sterne-Bewegung: Mit der Erststimme votierten sie für den PD-Kandidaten, mit der Zweitstimme für die Liste ihrer Partei. Nur so kam die deutliche Mehrheit für Bonaccini zustande. Der bedankte sich denn auch herzlich für die unerwartete Unterstützung durch die Sardinen.

Zur voraussichtlichen Lebensdauer der Bewegung gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen. Manche Beobachter fühlen sich an die Bewegung der Girotondi (Ringelreihen) erinnert, die 2002 aus Protest gegen die Regierung Berlusconi entstand, aber schon nach wenigen Monaten wieder verschwunden war. Im Unterschied zur Basisbewegung der Sardinen gingen die betont friedfertigen Girotondi-Spaziergänge in etlichen großen Städten auf eine Initiative »von oben« zurück, in der namhafte Intellektuelle den Ton angaben; ihr inoffizieller Sprecher war der Filmregisseur und Schauspieler Nanni Moretti.

Dass die Sardinen ein ähnlich kurzlebiges Phänomen bleiben, ist längst nicht ausgemacht. In der linken Tageszeitung Il Manifesto äußerten sich etliche Veteranen geradezu enthusiastisch über deren Potential. Die Sardinen seien der lange erwartete »Weckruf für die Linke«, schrieb Norma Rangeri, die Chefredakteurin.³ Guido Viale, ehemaliger Militanter der linksradikalen Organisation Lotta Continua, sieht in der Bewegung eine große Chance, weil sie bislang getrennte Szenen zusammenbringe.⁴ Fast schon schwärmerisch geriet das Porträt des Historikers Piero Bevilacqua. Den Sardinen sei es gelungen, aus zentralen Plätzen wieder »Salons« für die Bevölkerung zu machen. Wenn sie sich im Alltagsleben des ganzen Landes etablierten, könnten daraus »in wenigen Jahren die neuen Führungszirkel der italienischen Linken« entstehen.⁵ Ähnlich äußerte sich der Historiker Antonio Gibelli: Die Sardinen »spalten nicht, sie vereinen. Und machen in dieser Hinsicht das, was die Linken im weiteren Sinne in den vergangenen Jahren nicht geschafft haben«.⁶

Wiederbelebung des Centrosinistra?

Vereinen statt spalten – das klingt gut, wirft aber auch Fragen auf. Was soll da vereint werden und mit welchem Ziel und Programm? Nicht erst seit es die Sardinen gibt, wird über die Wiederbelebung eines Mitte-links-Bündnisses (centrosinistra) diskutiert. Dabei sind die bisherigen Erfahrungen damit alles andere als positiv. Insbesondere die unter Romano Prodi, Massimo D’Alema, Gianni Letta, Matteo Renzi und Paolo Gentiloni betriebene Austeritätspolitik hat dem rechten Populismus den Weg geebnet. So wurde Mitte-links zu dem sprichwörtlichen kleineren Übel, das zu immer größeren Übeln führt. Das gilt nicht zuletzt für die Antimi­grationspolitik unter Innenminister Marco Minniti (Partito Democratico). Und dazu gehört auch die Kriminalisierung der Fluchthilfeinitiativen und die Zusammenarbeit mit Libyen bei der Internierung von Geflüchteten. Nach Stand der Dinge geht die italienische-libysche Kollaboration weiter, und auch Salvinis rassistische und antidemokratische Sicherheitsdekrete sollen nur in Teilen korrigiert, nicht aber in Gänze aufgehoben werden. Auch in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik fehlt nicht nur der Regierungskoalition, sondern auch der Demokratischen Partei der Wille zu grundlegenden Kurskorrekturen.

Und bislang ist auch keine Kraft in Sicht, die eine Linkswende erzwingen könnte. Italien sei mittlerweile »ein Land ohne Linke«, konstatiert Maurizio Acerbo, Sekretär von Rifondazione Comunista.⁷

Anmerkungen

1 Bobbio, S. 90

2 Süddeutsche Zeitung, 5.1.2019

3 Il Manifesto, 15.12.2020

4 Il Manifesto, 14.12.2019

5 Il Manifesto, 13.12.2019

6 Il Manifesto, 21.1.2020

7 Il Manifesto, 31.1.2020


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