Das Unwort vom „Unrechtsstaat DDR" wurde seit Ende 1989 verstärkt in den Medien verwendet. Diese Vokabel ist weder ein wissenschaftlicher noch ein juristischer Begriff.
Das Völkerrecht kennt ihn schon deshalb nicht, weil nach dem Völkerrecht alle Staaten vor diesem Recht gleich sind — ganz so wie im innerstaatlichen Recht (gem. Art. 3 Grundgesetz) alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind. Demgemäß wurde auch die DDR im Jahr 1973 gleichzeitig mit der Bundesrepublik Mitglied der UNO, der Vereinten Nationen, ohne dass ein Mangel an Rechtsstaatlichkeit der DDR moniert wurde.
Das Unwort vom Unrechtsstaat, ein politischer Kampfbegriff, bewegt sich auf einem Niveau des Vokabulars des vormaligen US-Präsidenten Bush, der nach seinem Belieben einige Staaten zu Schurkenstaaten erklärte.
Als politischen Kampfbegriff verwendete der Vorsitzende einer Schwurgerichtskammer des Landgerichts Berlin im Jahr 1992 — in der mündlichen Begründung des Urteils im ersten Grenzerprozess — dieses Unwort: Da die Verteidigung auf tödliche Schüsse an der Westgrenze der Bundesrepublik und die Rechtssprechung dazu hingewiesen hatte, sah er sich genötigt — anstelle einer sachlichen juristischen Argumentation — zu verkünden: „Jene (bundesdeutschen Beamten) dienten einem Rechtsstaat, diese einem Un-rechtsstaat." Nun wusste auch dieser Gerichtsvorsitzende sehr wohl, dass die Strafbarkeit wegen eines Tötungsdelikts nicht davon abhängt, welche Uniform der Angeklagte getragen, welcher Institution oder welchem Staat
er gedient hatte. Mit dieser Äußerung verließ er den Boden des Rechts und bewegte sich im Bereich politischer Denunziation, der Diskreditierung der DDR. Mit dieser Äußerung beschädigte er den Rechtsstaat BRD.
Rechtsstaat — weder Recht noch Gerechtigkeit[file-periodicals#75]Nicht einmal der positiv besetzte Gegenbegriff „Rechtsstaat", ohne den man im Gegensatz dazu nicht von einem Unrechtsstaat sprechen könnte, ist eindeutig definiert. Im Art. 20, Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes (GG) kann man einige Merkmale eines Rechtsstaates finden, obzwar der Begriff Rechtsstaat in diesem Artikel überhaupt nicht vorkommt. Im Jahre 1949 war der Begriff Rechtsstaat in deutschen Landen kein Thema!
Und viele DDR-Bürger, die den Begriff Rechtsstaat mit dem des Rechts und der Gerechtigkeit in Verbindung brachten, waren (nach dem „Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" per 3. Oktober 1990) schwer enttäuscht. Diese Enttäuschung drückte Bärbel Bohley mit den Worten aus: Wir hatten auf Gerechtigkeit gehofft und bekamen nun einen Rechtsstaat — was andere präziser mit Rechtswegestaat oder Gerichtsstaat umschreiben. Der anerkannte Verfassungsrechtler Prof. Dr. Dieter Simon meint deshalb zutreffend: Der materielle Begriff des Rechtsstaates sei eine Illusion.
Nicht einmal der formelle Begriff des Rechtsstaates gibt viel her. Nach diesem komme es gem. Art. 20 Abs. 2 und 3 GG darauf an, dass (im Sinne der Idee der Gewaltenteilung) Parlament (Legislative), Exekutive und Judikative scharf voneinander unterschieden werden müssten und der Grundsatz gelte, dass nicht nur alle Bürger, sondern auch die Exekutive und Judikative die Gesetze einhalten sollten. Die Richter seien nach Art. 97 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen.
Auch nach Art. 96 der Verfassung der DDR, die im Jahre 1968 — anders als das Grundgesetz — durch Volksentscheid angenommen worden war, waren die Richter in ihrer Rechtssprechung nur an die Verfassung, das Gesetz und andere Rechtsvorschriften der DDR gebunden. Im Übrigen dürfte es selbstverständlich sein, dass die Bürger und erst recht die Behörden die Gesetze einhalten.
Soweit der Rechtsstaatsbegriff mit der auf Montesquieu zurückgehenden Idee der „Gewaltenteilung" in Verbindung gebracht wird, ist auch dies eine Illusion. Denn die einzige Behörde im Staate, die wirklich Gewalt anzuwenden in der Lage und befugt ist, ist die Polizei. Sie wird zum Vollzug von Gesetzen, von Verwaltungsakten und anderen Entscheidungen der Verwaltungsbehörden und von gerichtlichen Entscheidungen in Anspruch genommen, wenn die Betroffenen nicht einsichtig sind. Auch das war in der DDR ebenso.
Realistischerweise sollte man nicht von Gewaltenteilung, sondern von unterschiedlicher Zuständigkeit und eigenständigen Befugnissen, ggfs. von Arbeitsteilung sprechen, wie es in der DDR üblich war.
Anspruch auf Zugang zu den GerichtenVon Bedeutung ist demgegenüber der mit dem Begriff Rechtsstaat in Verbindung gebrachte Begriff der Justizgewährung, der Zusicherung eines Justizgewährungsanspruchs.
Indessen hängt — was oft vergessen wird — dieser Justizgewährungsanspruch schon juristisch davon ab, dass das materielle Recht des Staates, so hier der Bundesrepublik, einen entsprechenden Rechtsanspruch vorsieht. Beispielsweise kennt das Grundgesetz — im Gegensatz zur DDR-Verfassung — kein Recht auf Arbeit als verfassungsmäßiges Grundrecht.
Demzufolge besteht in der BRD kein dahingehender Justizgewährungsanspruch. Gleiches gilt für alle anderen sozialen, ökonomischen und kulturellen Menschen- und Grundrechte, die das GG — im Gegensatz zur Verfassung der DDR — nicht kennt. Der Justizgewährungsanspruch ist demzufolge in der BRD weitgehend auf den Bereich der klassischen politischen und Bürger-
rechte — als Abwehrrechte gegen den Staat und seine Behörden, aber nicht gegen oft übermächtige Wirtschaftsunternehmen und Medien — und auf die verschiedenen traditionellen Rechtsansprüche des Privatrechts beschränkt.
Die Realität des Justizgewährungsanspruchs hängt praktisch von zahlreichen, auch speziellen juristischen und justiziellen Voraussetzungen ab. Selbst die Möglichkeit, mit einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG zu gehen, seine Rechte einzuklagen, erweist sich aufgrund weiterer juristischer Voraussetzungen (z. B. dass der Weg zum BVerfG erst eröffnet ist, wenn zuvor die Instanzen der Gerichtsbarkeit ausgeschöpft wurden) als nur selten erfolgreich, nämlich nur in 3 % der erhobenen Verfassungsbeschwerden.
Vor allem können die Bundesbürger den ihnen nach dem Gesetz eingeräumten Justizgewährungsanspruch letztlich nur bei Inanspruchnahme und Bezahlung eines Rechtsanwalts geltend machen. Nicht zuletzt wegen des durch die Kompliziertheit der bundesdeutschen Rechtsordnung erzeugten Bedarfs an Anwälten sind seit Jahresbeginn über 150.000 Rechtsanwälte zugelassen, während die DDRBürger — aufgrund der anderen sozialen und rechtlichen Voraussetzungen — mit etwa 600 Rechtsanwälten auskamen, ohne dass sie in den 40 Jahren des Bestehens ihres Staates darin ernsthaft einen Mangel sahen
Von der Rechtslage her ist somit bei einer sachlichen Betrachtung kein Argument dafür zu finden, dass die DDR — im Gegensatz zur BRD — ein Unrechtsstaat gewesen sei.