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Von Stephan

Bei der Bundestagswahl vom 27. September kam das erwartete Ergebnis zustande! Die großen Parteien verloren – die HkFKk* noch mehr als die CSU, derweil die CDU sich dank gesunkener Wahlbeteiligung einen fast unveränderten Stimmanteil sichern konnte – aus den kleinen Parteien wurden mittelgroße. Vorbei die Zeit, in der man FDP mit Fast Drei Prozent übersetzen konnte, vorbei auch die Zeit, als man das Jever ob seines Alkoholgehaltes als FDP-Bier bezeichnen konnte (4,9%) – für die Liberalen rückt die Vision eines Fallschirmspringenden Antisemiten und Einkaufswagenchippromoter („wirklich eine pfiffige Idee“) immer näher. Das Guidomobil parkt schon einmal vor dem Außenministerium. Die Linke hat deutlich zugelegt, ist jetzt in jedem Bundesland über den magischen 5% (auch Bayern), die Grünen sind zumindest dritte Kraft unter den Oppositionsparteien geworden.

Das Wahlergebnis in Bezug auf die tatsächlichen Wähler:
Wahlbeteiligung 70,8%
Nichtwähler 29,2%
ungültig 1,03%
SPD 16,08% 146 Sitze (- 76)
CDU 19,03% 194 Sitze (+ 14) (davon 21 Ãœberhangmandate)
CSU 4,56% (in Bayern 30,29%) 45 Sitze (-1) (davon 3 Ãœberhangmandate)
FDP 10,16% 93 Sitze (+32)
Partei Die Linke 8,29% 76 Sitze (+22)
Grüne 7,47% 68 Sitze (+17)
Piraten 1,30 %
Nazis (Σ NPD, Rep, DVU) 1,41%
DKP 0,0031%
sonst. 1,47%

Bei den Wahlkreisen hat die SPD ebenfalls erdrutschartig verloren: 66 Kreise verlor sie an die CDU, 12 an Die Linke und einen an die CSU (München Süd).

Und noch ein wichtiger Fakt: Abgeordnete mit Tiernamen: Die CSU ist hier klarer Sieger, mit Dorothee Bär, Florian Hahn und Bartholomäus Kalb 3 ordentliche Mitglieder, mit Hans Peter Uhl immer noch ein Hilfsmitglied, die FDP steuert mit Joachim Spatz und Johannes Vogel sowie Hartfried Wolff zwei reguläre und ein Hilfsmitglied bei, die CDU vertraut auf Michael Fuchs und Volkmar Vogel, die SPD scheitert auch hier und kann nur Anton Schaaf und Waltraud Katharina Wolff zu den Hilfsmitgliedern schicken. Linke und Grüne verzichten auf solche Mitglieder!
Wie kommt es zu diesen Ergebnissen? Hat das taktische Wählen (Beleg Anteil Erststimmen) eine Rolle gespielt?
Vieles wurde im Vorfeld über Stimmensplitting zugunsten des bürgerlichen Lagers FDP/CDU spekuliert: Deren Wähler machen das Erststimmenkreuz bei der Union – und sichern somit die Überhangmandate – und das Zweitstimmenkreuz bei den Liberalen, um denen die Listenplätze zu bescheren. Vergleicht man das Verhältnis Erststimmen-Zweitstimmen kann man das nicht ganz nachvollziehen! Die SPD liegt bei 120,91 %, die Union bei 117,15% (CDU) und 112,15 % (CSU) – da haben eher die Sozis noch mehr Erststimmen abgreifen können. Ansonsten hat nur noch die NPD mit 120,89% mehr Erst – als Zweitstimmen, ich vermute mal „Denkzettel-Verteiler, die aber nichts anrichten wollten. Und umgekehrt? Die FDP hat es am Ehesten begriffen: gerade einmal 64,55 % der Zweitstimme FDP-Wähler machte auch das Kreuz bei dem liberalen Wahlkreiskandidaten, bei den Grünen sind es stolze 85,64 %!, bei den Linken (West) 87,8 % (Im Osten gilt die Linke als große Partei mit Chancen auf Wahlkreisgewinne, hier haben sie auch 100,64 der Zweitstimmen in Erststimmen „umsetzen“ können. Bei allen anderen Parteien ist ein solcher Vergleich nicht möglich, da es einfach zu wenig Direktkandidaten gab. Doch die hohen Verluste der SPD zeigen, dass die FDP-ler es mit der Unionsunterstützung richtig gemacht haben, der hohe Erststimmenanteil, den die SPD retten konnte, belegt allerdings die Beliebtheit der SPD-Kandidaten im Verhältnis zur Gesamtpartei. Grundsätzlich wird aber deutlich, dass unser Wahlsystem den Wählerwillen nicht korrekt abbildet, CDU und FDP sind überrepräsentiert, was allerdings am wesentlichen Ergebnis der Wahl, die Mehrheit für diese drei Parteien, nichts ändert. Der Vorsprung ist nur deutlich größer. Und Abgeordnete, nur ihrem gewissen verpflichtet, wechseln auch schon mal die Lager oder werden ausgeschlossen. Wer Zeit hat, kann sich in dieser Richtung die 6. Legislaturperiode von 1969 – 1972 ansehen.

Aber es gibt auch inhaltliche Gründe:
Was sind die Kernprobleme in diesem Land: Die Außenpolitik hat Afghanistan, die Finanzpolitik hat eine Krise, dank der Freigabe der Märkte und Steuerfreistellung der Kapitalgewinne richtig angefeuert (glaube ja keiner, es wäre nicht auch sonst zu einer Krise gekommen, unterstützt wurde sie allerdings von den Maßnahmen der Bundesregierung) und die Arbeiter kämpfen gegen die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse (Hartz IV, 400 €, Minijobs, Abdrängung in die (Schein-)Selbständigkeit, Rente mit 67). Die Kaltstellung der Gewerkschaften gab es gleich en passent dazu, die Multiminijobber, die befristet Beschäftigten und die Arbeiter, die sich jetzt Subunternehmer nennen müssen, haben keinen Sinn für gewerkschaftliches Engagement. Und kennt noch jemand den § 116 AFG?

Alle diese Bausteine zum Untergang Deutschlands hat die SPD zu verantworten – zumeist in der Regierungszeit mit den Grünen. Da lassen sich zwei Fragen leicht beantworten: Muss man jetzt wirklich Panik haben, weil die Sozen nicht mehr mitregieren? Und muss man sie deswegen bedauern? Die SPD wird sich erneuern, um wieder ins Proletariat einzutauchen und dort Sympathien zu gewinnen. Wie, steht unten. Eine Bemerkung noch am Rande: Die einzige SPD-Politikerin, die sich deutlich gegen die Lobbyisten auflehnte und ein gerechteres Gesundheitssystem erkämpfen wollte, war Ulla Schmidt. Sie verkörpert mehr soziales Gewissen ihrer Partei als Andrea Nahles oder Wolfgang Clement – die Tatsache, dass der geklaute Dienstwagen wieder aufgetaucht ist, und eben nicht nach Afrika oder Osteuropa verschifft wurde, sollte einen guten Untersuchungsbeamten (cui bono) in Richtung Hartmannbund oder Pharmafirmen ermitteln lassen.

Zu den anderen Parteien:
Ãœberhangmandate:
Gewinnt eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise, als sie nach der Zweitstimme in den Bundestag schicken dürfte, gehen diese Mehrkandidaten zusätzlich ins Parlament und vergrößern die Sitzzahl. Das gelingt, wenn eine Partei relativ stark in den Wahlkreisen und
relativ schwach bei den Zweitstimmen abschneidet, beispielsweise die CSU in Bayern. Sie errang 42 % der gültigen Stimmen, gewann aber alle Wahlkreise (entsprechend 50%). Bislang konnte sie nie ein Überhangmandat erzielen, weil sie immer über 50% der Stimmen lag.

Verfassungsgericht:
Das BVerfG hat kritisiert, dass durch den Abgleich der Sitze zwischen den Ländern eine Konstellation entstehen kann, dass sich Stimmgewinne negativ auswirken. Das ist dann der Fall, wenn ein solcher Sitz, der (durch Rundungen der Einzelergebnisse entstehend) zwischen zwei Landeslisten einer Partei verteilt wird, an die Liste geht, die ein Überhangmandat erzielt hat. Dort wirkt sich der Sitzzuwachs nicht aus, derweil die andere Liste einen Sitz verliert. Bei der letzten Wahl hätte die Saar-CDU einen Sitz verloren (2 statt 3), der dann nach Sachsen gegangen wäre. Dort hatte die CDU aber von den 10 Mandaten der Zweitstimmenauszählung 14 Mandate nach Wahlkreiserfolgen gemacht. Bei einem Sitz mehr nach Liste (dazu mussten bei einer Nachwahl mehr als 41.000 Leute CDU wählen) wären es ebenfalls nur 14 Abgeordnete, dann aber nur 3 Überhangmandate gewesen.
Die CSU hat, das wird erst auf den zweiten Blick deutlich, ebenfalls verloren und kann zu den Verlierern der Wahl gerechnet werden. Sie holten noch weniger Stimmen als bei schon als desaströs empfundenen Landtagswahl im letzten Jahr – dass sie trotzdem die Hälfte der bayrischen Abgeordneten stellen dürfen, liegt am Überhangmandat, keine Partei profitiert so sehr davon, hat aber auch so gute Voraussetzungen dafür. 25 der 45 CSUler werden auch für die Mehrheit benötigt, das sichert dieses Mal die Regierungsbeteiligung ab.

Die CDU ist einfach irgendwie gewählt worden. Ohne Programm, ohne überzeugendes Personal, man hat sie gewählt, weil man schon immer sie gewählt hat und weil man auch wählen muss. Dieses Mal reichte das locker!

Zur FDP wird allerorten viel geschrieben, hinter Westerwelle hat sich kaum jemand profilieren können. Es wird interessant, mit wem die Posten besetzt werden sollen, da sind noch viele Leute aus der alten Kohl-Ära im Gespräch (Lambsdorff, Genscher und Baum allerdings dann doch nicht mehr). Spannend vielleicht nur, ob der neue Außenminister bei einem Besuch etwa im Iran nach dortiger Sitte aufgeknüpft wird, sollte er seinen Gatten mitbringen. Mit einvernehmlichem Sex zwischen Männern hat man es da ja nicht so.

Die Grünen sind gleichfalls Wahlverlierer, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Jürgen Trittin war zu faul, in seinem Wahlkreis für ein Direktmandat zu kämpfen, es wäre ein wichtiger, wenn auch symbolischer Erfolg gewesen. Cem Özdemir, wie Ströbele nicht über die Landesliste abgesichert, reiht sich nun in die Tradition der Trennung von Amt und Mandat ein, er muss draußen bleiben, auch ohne Chance ggf. nachzurücken!

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Die Linkspartei ist heftig umstritten, Vorwürfe von links und rechts gibt es ohne Limit. Dabei fehlt in aller Regel eine vernünftige Analyse der Struktur und auch der klassenmäßigen (nennen wir es auch gern soziologischen Wählerschichtbeschreibung) Zuordnung. In aller Kürze unsere Einschätzung: Einfach eine neue, linke Sozialdemokratie ist sie nicht, auch wenn gerade aus der WASG im Westen kommende Kräfte das gerne so sehen mögen. Letztlich wird die Linkspartei nicht vor allem daran zu messen sein, ob sie den besseren Keynesianismus vertritt oder wie weit das soziale Programm nun im Detail geht. Im Vordergrund stehen andere Dinge, in denen sie stark und einige sein kann: Antifaschismus und Ablehnung von Kriegseinsätzen, antimilitaristische Politik. In diesen Gebieten gibt es keine Probleme der unterschiedlichen Zugänge und Struktur der Partei in Ost oder West, hier können die West-Gewerkschafter problemlos die Brücke zu den DDR-Traditionen schlagen.

Plötzlich und neu ist die „Piratenpartei“ innerhalb von Monaten auf der Bühne aufgetaucht und hat gerade bei jüngeren Wählern mächtig abgeräumt. Bewusst ohne Programm und umfassenden Verstand, ist sie eigentlich eher eine Bürgerinitiative mit einer einzigen, zweifellos demokratisch-fortschrittlichen Fordrungen: Für Freiheit des Internets und gegen Überwachungsstaat! Das ist richtig aber natürlich keine Partei. Alles Weitere ist diffus und nach dem Motto: „Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links – wir sind vorne!“. Es erinnert schon so Einiges an die chaotischen Anfänge der Grünen, auch dort saßen Nazis im Vorstand und mit der Jungen Freiheit hätte der so genannte konservative Flügel der Grünen (wie es teils noch harmlos ausgedrückt wurde) auch keine Probleme gehabt. Vermutlich hat die Piratenpartei auch nichts gegen Kriegseinsätze, solange im Internet darüber frei berichtet werden kann. Wie gesagt: Die demokratische Forderung gegen Internetzensur und Überwachung ist richtig, das allein ist dennoch unzureichend für eine Partei und kann wie man sieht von sehr vielen politischen Kräften aufgenommen werden. In ihrer Zusammensetzung ist die Wählerschaft wohl stark geprägt von jungen Menschen mit höherem Bildungsstand, Studenten usw. . Würde die Piratenpartei dauerhaft bestehen, sie müsste sich wohl irgendwo zwischen die Grünen und die FDP zwängen, womit die Konkurrenz auf dieser Seite des Kleinbürgertums schon ziemlich groß würde. Wobei das Verhalten der Piraten im Bundestag bei einer Debatte zum Bundeswehr-Marine-Einsatz vor Somalila schon reizvoll gewesen wäre.

Und nun:
„Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zertreten soll – das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamentarismus, nicht nur in den parlamentarisch-konstitutionellen Monarchien, sondern auch in den allerdemokratischsten Republiken.“
- W.I. Lenin
Jetzt wird es nicht mehr lange dauern und die ersten Sozialdemokraten tauchen bei den sozialen Bündnissen auf. Mit dem Absägen von „Münte“ als Symbol für Agenda 2010, Hartz 4 und der Rente mit 67 erlangen sie genug Rückenwind, um sich dort zu Wort zu melden, Verantwortung zu übernehmen und allmählich in den Vordergrund zu drängen. Im Saarland und in Thüringen kann man jetzt ein Bündnis mit der Linkspartei schließen, dabei schön in deren Parteiprogramm schielen, was man offensiv übernehmen kann und immer schon gefordert hat (bzw. hätte, wenn nicht Münte und die alte Garde....). Anhand der nicht ausbleibenden Kürzungen (wir haben ja eben nicht die Linke oder gar die MLPD gewählt) werden sie schnell ein neues Bekämpfungsobjekt ausfindig machen und bis zum Antritt erneuter Regierungsfähigkeit beschimpfen (es bekämpfen zu nennen, wäre eine Beleidigung aller Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeit). Sie verlassen sich auf das kurze Gedächtnis ihrer Wähler und hoffen, durch geheucheltes Engagement, die vor einigen Tagen daheim gebliebenen Sozifreunde in vier oder acht Jahren wieder an die Urne zu locken.


Anmerkung:
* "Es ist ein Unglück, daß die SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands heißt. Hieße sie seit dem August 1914 Reformistische Partei oder Partei des kleinern Übels oder Hier können Familien Kaffee kochen oder so etwas -: vielen Arbeitern hätte der neue Name die Augen geöffnet." - Kurt Tucholsky.



 
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  Kommentar zum Artikel von Stephan:
Samstag, 03.10.2009 - 08:04

inwieweit das WahlSYSTEM, also die Art und Weise der Zuordnung: Stimmen-Mandate eine Rolle gespielt hat, läßt sich in einem Gedankenexperiment prüffen. Angenommen, wir hätten das Wahlrecht der Weimarer Republik (hochgerechnet auf die gestiegene Bevölkerungszahl), also 80.000 Stimmen pro Sitz, bei einem Rest > 40.000 Stimmen ein weiterer. Dann sähe das Wahlergebnis wie folgt aus (Differenzen ebenfalls nach dieser Methode von der letzten Wahl berechnet):
SPD 125 Sitze (vorher 202, - 77; BRD-Verfahren 146)
CDU 148 (164, - 16; BRD 194)
FDP 79 (58, + 21; BRD 93)
Linke 64 (48, +10; BRD 76)
Grüne 58 (48, +10; BRD 68)
CSU 35 (46, -11; BRD 45)
und im Parlament vertreten:
NPD 8 Sitze (es wären 2005 9 gewesen, -1)
Republikaner 2 ( -1)
Familienpartei 2 (0)
Tierschutz 3 (+1)
MLPD 0 (-1)
BüSo 0 (-1)
ödp 2 (+2)
DVU 1 (+1)
Piraten 11 (+11)
Graue Panther 0 (-2)
Rentnerinnen und Rentner 1 (+1)
Rentner 1 (+1)

Die Gesamtsitzzahl wäre - entsprechend der niedrigen Wahlbeteiligung von 624 auf 541 gesunken, CDU/CSU und FDP hätten mit insgesamt 268 Sitzen keine Mehrheit.

Das ist natürlich nur theoretisch, allein die Annahme, mit einem anderen Wahlsystem, das den kleinsten Parteien reelle Chancen auf einen Sitz einräumt, würden die Bürger sich bei dieser Wahl genauso entscheiden (hingehen oder nicht, Zweitstimme so abliefern), ist vollkommen absurd. Bei gleichem Verfahren und einer 5%-Hürde wäre das Parlament mit 509 Abgeordneten noch kleiner, da hätte die "Tigerente" wieder die Mehrheit.

Es zeigt sich auch, dass vor allem die CDU überproportional profitiert, dies liegt an den Überhangmandaten, die ja im Bund nicht ausgeglichen werden.