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Von MW

Dieser Tage teilten die Kinder von Karl Kielhorn in der sozialistischen Tageszeitung Neues Deutschland mit, dass ihr Vater, geboren 1919, am 24. März verstorben ist. Nun ist also auch Karl nicht mehr. Ich hatte seine Anrufe, seine überraschend jugendliche Stimme schon vermisst, denn es ist schon ein paar Monate her, dass er sich das letzte Mal meldete, aus purer Freude über einen Beitrag aus Leipzig in der UZ. Man lese ja heute so selten die Wahrheit über uns Ostdeutsche.

Der Ostberliner hatte beizeiten Bekanntschaft mit dem bundesdeutschen Rechtswesen machen müssen. Was damals Anlass für unsere Bekanntschaft war, auch wenn wir uns erst am 26. Juli 1993 persönlich kennenlernten, bei der Beerdigung seines Genossen Gerhard Bögelein aus der Anitfa-Lagerleitung des sowjetischen Kriegsgefangenenlagers Kleipeda.

Beide Männer waren, kaum dass die Unterschrift unter dem sogenannten Vereinigungsvertrag trocken war, regelrecht aus Berlin bzw. aus Leipzig nach Hamburg verschleppt und wegen "Mordes" angeklagt worden. Karl hatte eine intakte, verantwortungsvolle Familie, die sehr bald eine Kaution stellen und den Vater erst einmal wieder nach Haus holen konnte. Gerhard lebte allein, verlassen, sein Verschwinden wurde gar nicht wahrgenommen im Leipzig der Wendewirren. Karl, einst Vorsitzender des Anti-Lagerkomitees, hatte mit dieser Funktion womöglich den neutraleren Part gegenüber Gerhard. Denn der war als Offizier der Roten Armee (der Gestapo und dem bereits verkündeten Todesurteil nur "dank" eines Bombenangriffs entkommen) im Kriegsgefangenenlager verantwortlich, deutsche Kriegsverbrecher zu überführen. In dieser Funktion hatte er auch das Geständnis eines Erich Kallmerten aus Friesland erwirkt und gegengezeichnet.

Um es kurz machen: Man hatte im Lager Kallmertens minutiös geführtes Tagebuch gefunden, darin verzeichnet 178 Todesurteile, die er als Oberster Militärrichter der Kurland-Armee gegen deutsche Deserteure, russische Partisanen, auch gegen 30 Parlamentäre der Roten Armee, ausgesprochen hatte. Als im darob zornerfüllten Lager dann auch noch bekannt wurde, dass die Husumer Bürgerschaft ihrem "verdienstvollen Mitbürger" per Postkarte das Bürgermeisteramt angetragen hatte, war der Lynchmord an diesem Naziverbrecher kaum mehr aufzuhalten - weder vom deutschen Lagerchef Karl Kielhorn noch von Gerhard Bögelein. Letzterer aber hatte, wie gesagt, das Verhör geführt - Grund genug für den bundesdeutschen Rechtsstaat, den herzkranken Bögelein (dem während der Untersuchungshaft wichtige Medikamente verweigert wurden) wegen "heimtückischen Mordes" am 15. Mai 1992 zu einer lebenslangen Haftstrafe zu verurteilen.

Schon in den Fünfzigerjahren, als sich die alten Kameraden in der BRD wieder formierten, hatte ein gewisser Steckel, vormals Staatsanwalt beim Sondergerichtshof in Königsberg und beim "Volksgerichtshof" in Potsdam, begonnen, intensiv gegen Karl Kielhorn und Gerhard Bögelein zu ermitteln. Allerdings, keiner der befragten ehemaligen gefangenen Offiziere hatte die Antifaschisten wirklich belasten können. Es fand sich partout kein Tatzeuge. Von seinerzeit ebenfalls geladenen Antifaschisten ist überliefert, sie seien sich bei Steckels Verhören wieder wie bei Freisler vorgekommen. Dass die DDR einen Auslieferungsantrag verweigerte, muss nicht besonders erwähnt werden. Doch mit der Annektion der DDR schlug die große Stunde. Steckels Erbe und Schüler, Staatsanwalt Harald Duhn nahm sich die beiden Kommunisten genüsslich zur Brust, getreu der Weisung seines obersten Dienstherrn Kinkel, das "SED-Regime zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter Humanität hergeleitetet hat".

Karl Kielhorn musste trotz heftiger Bemühungen freigesprochen werden. Doch der Überläufer zur Roten Armee, der inzwischen sterbenskranke Bögelein, hatte keine Chance. Der Prozess war eine einzige Farce. Richter Friedhelm Erdmann, der genießerisch der staatsanwaltlichen Vorgabe folgte, schilderte phantasiereich und höchst detailliert die Mordtat, auch wenn die kein einziger Zeuge jemals hatte wirklich beschreiben können. Aus dem Blutrichter Kallmerten, den Bögelein und auch Kielhorn der sowjetischen Gerichtsbarkeit hatten übergeben wollen, wurde das Opfer eines heimtückischen, also nicht verjährenden Mordes, während der aufrechte Bögelein ohne ein einziges Indiz zum Mörder gemacht wurde. Auch wenn Gerhard den Prozess um kaum mehr als ein Jahr überlebt hat, Karl, sein Gefährte von einst, ließ nicht locker, zusammen mit antifaschistischen Freunden um Gerhards Rehabilitierung zu kämpfen.

 
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