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Gegen Widerstand WARSCHAU/BERLIN (08.05.2008) - Mit Kranzniederlegungen für die Opfer Nazideutschlands und Gedenkveranstaltungen zur Erinnerung an den alliierten Sieg begehen gesellschaftliche Organisationen den heutigen "Tag der Befreiung" (8. Mai). Die Kapitulation der Wehrmacht vor 63 Jahren besiegelte die zweite deutsche Militäraggression im vergangenen Jahrhundert, die über 50 Millionen Menschenleben kostete. Zahlreiche alliierte Opfer sind bis heute namenlos oder werden in Deutschland beschwiegen. Dazu gehören Hunderttausende russische Kriegsgefangene, die dem Hungertod ausgeliefert waren oder ermordet wurden. Auch die vom NS-Regime deportierten Kinder und Jugendlichen fanden bis vor kurzem in Deutschland keine gesonderte Beachtung. Ihnen gilt eine Zeremonie, die der "Zug der Erinnerung" am 8. Mai in der Gedenkstätte Auschwitz durchführt. Der Zug hat in sechs Monaten etwa zehntausend Kilometer zurückgelegt und auf den früheren deutschen Deportationsbahnhöfen Lebendzeugnisse der Opfer gesammelt - gegen den erbitterten Widerstand maßgeblicher Teile des größten europäischen Bahnkonzerns (Deutsche Bahn AG).

Der "Zug der Erinnerung" ist am gestrigen Mittwoch in Oświęcim (Auschwitz) eingetroffen und wird von rund 100 Jugendlichen begleitet. Die Delegierten, die in 62 deutschen Städten nach Spuren der Deportierten suchten, sind auf ihrer Reise auf den Bahnhöfen von Zgorzelec und Wrocław von polnischen Jugendlichen empfangen worden. An der deutsch-polnischen Grenze hatten sie am Dienstag (6. Mai) einen Kranz für die Opfer der polnischen Nation niedergelegt. Etwa drei Millionen Polen starben infolge der NS-Okkupation.

G 10

Am heutigen "Tag der Befreiung" versammeln sich die deutschen Jugendlichen an der früheren Vernichtungsrampe. In Erinnerung an die mit der deutschen Reichsbahn zugeführten Opfer steht dort ein gedeckter Transportwaggon ("G 10"). Auf Einladung der Initiatoren im "Zug der Erinnerung" sprechen polnische Repräsentanten sowie der Vorsitzende der Sinti und Roma in Deutschland, Romani Rose, und die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Katrin Göring-Eckardt. Frau Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) und ihr Fraktionskollege Winfried Hermann hatten den "Zug der Erinnerung" in den vergangenen Monaten wiederholt unterstützt. Wegen der finanziellen Blockade der Deutschen Bahn AG (DB AG) stand die Weiterfahrt zeitweise in Frage.

Vorenthalten

Die DB AG ist Erbin des Reichsbahnvermögens, das die Vorgängerorganisation mit Hilfe von etwa 400.000 Zwangsarbeitern und drei Millionen Deportierten anhäufte. Die Fahrt in die Todeslager ließ sich die "Reichsbahn" von den Opfern bezahlen. Diese nie zurückerstatteten Einnahmen sind seit dem 8. Mai 1945 zu einem Schuldenberg von 4,2 Milliarden Euro angewachsen. Die Höhe der den Zwangsarbeitern vorenthaltenen Beträge ist unbekannt und Gegenstand einer aktuellen Anfrage durch die Bundestagsfraktion "Die Linke".

Schwerindustrie

Auf das übernommene Erbe der "Reichsbahn" und die damals unterschlagenen Milliardenbeträge zahlte die DB AG in den Zwangsarbeiterfonds der deutschen Industrie einmalig 65 Millionen Euro - etwa ein Prozent der tatsächlichen Schulden. Wie die DB betont, erfolgte der Abgleich "ohne Rechtsanspruch". Das Unternehmen behauptet bis heute, es habe "genug getan". Über das geforderte Gedenken an die mit dem Vorgängerunternehmen deportierten Kinder äußerte der Vorstandsvorsitzende, man habe dieser Opfer in einer Nürnberger DB-Ausstellung bereits gedacht. Weiteres Gedenken bei der DB sei überflüssig. Die Nürnberger Ausstellung musste in den 1980er Jahren gegen massive Widerstände der deutschen Schwerindustrie und des Bahn-Unternehmens realisiert werden.

Durchgesetzt

Auch beim jetzigen Gedenken mit dem "Zug der Erinnerung" kämpften die Initiatoren gegen Obstruktionen jeglicher Art an. Nach Informationen dieser Redaktion stand die letzte Etappe der Fahrt nach Auschwitz zeitweise in Frage, weil die DB AG den Übergang nach Polen nicht bedienen wollte. Erst in letzter Minute habe die polnische Seite beim Vorstand der DB AG die Freigabe der Strecke durchgesetzt, heißt es im Auswärtigen Amt (AA).

Betrunken

Die Fäden des faktischen Boykotts gegen den "Zug der Erinnerung" zieht im Vorstand des größten europäischen Logistikunternehmens der CSU-Politiker Dr. Otto Wiesheu. Wiesheu lehnt gemeinsam mit Vorstandschef Mehdorn den Erlass von Bahngebühren an den "Zug der Erinnerung" ab und weigert sich, mit den Initiatoren über einen Erlass von Gebühren für das Gedenken an die KZ-Opfer in Höhe von 100.000 Euro zu sprechen. Mit KZ-Opfern hatte Wiesheu bereits früher zu tun. Im Oktober 1983 fuhr er in betrunkenem Zustand Josef Rubinfeld zu Tode, einen früheren Gefangenen im KZ Dachau, der auf der Autobahn vom schwergewichtigen Mercedes des CSU-Politikers erfasst wurde und starb. 25 Jahre nach der Todesfahrt verlangt Wiesheu für das Gedenken an die Millionen anderer KZ-Opfer Geld und lehnt jede Spende ab.


Anmerkung:
Bitte lesen Sie auch unser EXTRA-Dossier Elftausend Kinder.


 
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