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Nach mehr als sechs Monaten Verhandlungen hat Belgien nun endlich eine neue "provisorische" Regierung. Sie ist zusammengesetzt aus Vertretern der liberalen, christdemokratischen und der frankophonen sozialistischen Parteien. Sie wird drei Monate im Amt bleiben und bedeutet eigentlich nur eine Atempause während der weiter verhandelt wird um zu einer richtigen Regierung zu geraten. Sie wird sich nur mit den dringendsten Fragen beschäftigen und inzwischen sucht eine Gruppe, angeführt vom zukünftigen Minister-Präsidenten und Wahlsieger Leterme der flämischen Christdemokraten, weiter nach einer Lösung für die institutionelle Krise.

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Die Gemeinschaften Belgiens: Flämische Gemeinschaft (gelb), Französische Gemeinschaft (rot), Zweisprachiges Gebiet Brüssel-Hauptstadt (gelb-rot schraffiert), Deutschsprachige Gemeinschaft (blau)
Nach außen hin hat es den Anschein als habe die belgische Krise vor allem mit linguistischen Problemen zu tun. Das ist falsch.

Heute sprechen 6 Millionen Belgier Niederländisch und 3,5 Millionen Französisch. Es gibt in Ostbelgien eine kleine deutschsprachige Gemeinde von 70 000 Leuten. Und es gibt eine erhebliche Anzahl an Immigranten aus Italien, der Türkei und Nordafrika. In der Region Brüssel spricht ca. die Hälfte der Einwohner zu Hause Französisch. Ein weiteres Viertel spricht Holländisch und Französisch.

Aber das Sprachenproblem ist heute vor allem ein Vorwand. Der flämische Nationalismus hat sich zu einer Ideologie der neuen Bourgeoisie in Flandern entwickelt, die in den 60er Jahren ihren Aufstieg erlebte, als die Region Wallonien in den wirtschaftlichen Niedergang geriet und Flandern zu einer der am stärksten prosperierenden Regionen Europas wurde. Flandern ist heute sozioökonomisch deutlich besser gestellt als Wallonien. Das Pro-Kopf-Einkommen (BIP je Einwohner) betrug 2005 in ganz Belgien 27 700 Euro, in Brüssel (dem Standort vieler internationaler Konzernzentralen) aber 54 905 Euro, in Flandern 27 300 Euro und in Wallonien nur 19 800 Euro. Ähnlich ist es mit der Arbeitslosigkeit. Die liegt heute in Charleroi, Liège (Lüttich) und La Louvière bei 20 Prozent.

Heute braucht Wallonien Flandern. Aufgrund der ökonomischen Ungleichheit gibt es erhebliche Transferzahlungen von Flandern nach Brüssel und Wallonien. Der finanzielle Transfer über die Steuer- und sozialen Sicherungssysteme vom flämischen zum französischsprachigen Landesteil wird auf 3 bis 6 Milliarden Euro jährlich geschätzt, das heißt 3 bis 4 Prozent des flämischen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Das meiste davon hat mit der Tatsache zu tun, dass die Beschäftigten in den reicheren Regionen, wo es mehr Jobs gibt, mehr in die nationale Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung bzw. in den Topf fürs Kindergeld etc. einbezahlen als sie herausbekommen. Denn die sind noch auf nationaler Ebene organisiert. Umgekehrt bekommen die ärmeren Regionen mehr heraus als sie eingezahlt haben. Einfach weil es dort mehr Erwerbslose und kranke Menschen gibt.

Föderalismus oder föderale Parteien

Die nationalistischen Parteien machen diese Probleme zu einem Sprachenproblem. Der Bezug, der hergestellt wird, ist der des "Nord-Süd-Transfers". Diese Transfers gibt es in ganz Europa. Der Südosten Großbritanniens wendet 12,6 Prozent seines Einkommens für die nationale Solidarität auf. Im Falle Flanderns sind es gerade mal 3,6 Prozent. In ihrer Agitation versuchen die flämischen Separatisten allerdings den Eindruck zu erwecken, dass Flandern allein alles besser könnte, d. h. wenn es nicht länger "die Bürde" dieser Transferzahlungen mit sich herumschleppen müsste.

Und diese Agitation ist desto leichter, da Belgien heute ein föderaler Staat ist, aber ohne föderale Parteien. Die PTB/PVDA ausgenommen, gibt es keine belgienweiten Parteien. Es gibt nur flämische, französische und deutsche Parteien. Ein Belgier, der in Wallonien lebt, kann niemals gegen einen flämischen Politiker stimmen. Das bedeutet, dass die politische Agenda mehr und mehr von regionalen Interessen beeinflusst wird. Bei den letzen Wahlen auf Bundesebene im Juni 2007 sind die wichtigsten flämischen Parteien mit einem demagogischen, chauvinistischen Programm angetreten und haben Versprechungen gemacht, dass sie, wenn sie gewählt werden, einige spezifisch flämische Interessen durchsetzen werden, die nicht im Interesse der französischsprachigen Community liegen.

Eine Welle von flämischem Nationalismus hat die meisten Parteien in Flandern in den letzten Jahren fest gepackt. Das ist ein großer Sieg für die separatistischen und faschistischen Parteien in Flandern. Die flämische christdemokratische Partei CD&V ist ein Bündnis mit der NVA (einer kleinen separatistischen flämischen Partei) eingegangen, um stärkste Partei im Lande zu werden und den Posten des Ministerpräsidenten fordern zu können.

Was neu ist und den separatistischen Standpunkten einen starken Rückenwind verschafft hat, ist die Tatsache, dass diese Positionen von einem großen Teil der flämischen Bourgeoisie unterstützt werden. Die flämischen Arbeitgeberverbände haben im Wahlkampf ihren traditionellen Forderungskatalog veröffentlicht: Geringere Besteuerung der Unternehmen, weitere Senkung der Arbeitskosten, noch mehr Flexibilität, längere Wochen- und Lebensarbeitszeit sowie die Abschaffung aller Frühverrentungssysteme. Sie wollen eine radikale Arbeitsmarktreform, so wie sie die Lissaboner EU-Agenda vorsieht. Das wollen sie im ganzen Land, aber sie schätzen, dass es leichter sein wird, das in Flandern durchzusetzen, wenn die Arbeitsmarktpolitik regionalisiert wird. Sie hoffen, dass sie in Flandern die starken föderalen Gewerkschaften und die stärkere Klassenkampftradition in Wallonien loswerden. Wenn die Lohn- und Beschäftigungspolitik regionalisiert wird, werden sie nicht länger regionale oder Branchentarifverträge akzeptieren, sondern nur noch auf betrieblicher Ebene verhandeln. Sie werden nur noch dann Abkommen akzeptieren, wenn sie im Interesse der Kapitalisten sind.

Diese Agenda für mehr Autonomie etc. stellt einen beispiellosen Angriff auf die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse in Belgien dar. Das ist ein Programm zur Spaltung der Organisationen der Arbeiterklasse und zur Schaffung einer Konkurrenz zwischen den Arbeitern der verschiedenen Regionen. Mit unterschiedlichen Löhnen, unterschiedlichen sozialen Sicherungen, unterschiedlichen Steuersätzen und Unternehen, die die Arbeiter der einen nach Belieben gegen die Arbeiter der anderen Region ausspielen und sie mit Standortverlagerung erpressen können.

Die Krise dauert an weil ein anderer Teil der belgischen Bourgeoisie, wie der Verband van Belgische Ondernemingen (VBO bzw. FEB), es ablehnt, den Regionen eine größere Autonomie zu gewähren. Sie fürchten eine lange Periode politischer Instabilität, viele bürokratische Komplikationen und Konfusion, was die Regelungen anbelangt. Jeder achte Belgier arbeitet in einer anderen Region als der, in der er lebt. Sie fürchten, dass ihre internationale Glaubwürdigkeit Schaden nimmt. Und sie argumentieren, dass alle von Lissabon vorgesehenen Maßnahmen ohne diese Komplikationen umgesetzt werden könnten. Bürgerliche Parteien in der Region Wallonien unterstützen diesen Standpunkt und ergreifen alle möglichen Maßnahmen, um ihre Region auf das Niveau der Lissaboner Agenda zu bringen.

Die Gegenoffensive

Es gibt jedoch eine zunehmende, breite Reaktion unter Gewerkschaftern, Künstlern und Akademikern, die das verhindern will - auch in Flandern. In der letzten Septemberwoche startete die von einem breiten Bündnis getragene Kampagne ´Die Solidarität bewahren!´ Sie wurde von Hunderten von Gewerkschaftsaktivisten initiiert, von vielen bekannten Künstlern, Akademikern, Journalisten und Schriftstellern unterstützt. Heute wird diese Petition von mehr als 100 000 Menschen getragen. Die beiden großen Gewerkschaftsbünde FGTB/ABVV und CSC/ACV erklären weiterhin, dass sie gegen eine Zersplitterung der Arbeitsmarktpolitik, der nationalen Tarifverhandlungen und der sozialen Sicherungssysteme sind. Sie sehen sehr genau, dass das der schnellste Weg ist, um die in der Vergangenheit erkämpften Errungenschaften der Arbeiter wieder zu verlieren. Sie bedroht auch ihre eigene Rolle als Organisation. Falls sich die flämischen Arbeitgeberverbände durchsetzen sollten und es keine regionalen oder Branchentarifverträge mehr gäbe, fiele auch die Verhandlungsrolle der Gewerkschaftsapparate weg. Außerdem wollen die flämischen Kapitalisten auch die Dienstleistungsfunktion der Gewerkschaften streichen. Mit einem Organisationsgrad von zwei Dritteln der Beschäftigten hat Belgien heute einen der höchsten Organisationsgrade. Das hat auch damit zu tun, dass die Gewerkschaften auch Dienstleistungsgewerkschaften sind: Sie zahlen zum Beispiel das Arbeitslosengeld an ihre Mitglieder aus. Diese hohe Mitgliederzahl macht aber auch ihre Stärke aus.

In der belgischen Geschichte wurde sozialer Fortschritt immer nur durch Einheit und durch Kampf erreicht. Jedes Mal, wenn es der Bourgeoisie gelang, die Arbeiter in verschiedene Nationalitäten zu spalten, gingen die Kämpfe verloren. Auch dieses Mal wird die Idee der Klassenkollaboration auf einer nationalistischen Grundlage wachsen, wenn dem kein Einhalt geboten wird. Dann wird es eine Phase erbitterter nationalistischer Agitation geben, die das Klassenbewusstsein unter den Arbeitern zerstören kann. Die Entfremdung der Arbeiter aus den verschiedenen Regionen wird zunehmen.

Deshalb hat die Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA) seit ihrer Gründung klar Stellung gegen die föderalistische Entwicklung in Belgien bezogen und sich für die Einheit der Arbeiterklasse und des belgischen Volkes eingesetzt. Natürlich bedeutet Demokratie, dass die Rechte von Minderheiten überall geschützt werden müssen. Deshalb fordert die PTB/PVDA, dass die Brüsseler Region auf der Basis der realen sozioökonomischen Region Brüssel ausgedehnt wird. Innerhalb dieser Region sollte eine strikte Zweisprachigkeit eingehalten und gefördert werden. Beide Sprachen sollten an den Schulen unterrichtet werden. Es darf nirgendwo eine Diskriminierung geben.

Die PTB/PVDA unterstützt außerdem die von einigen antiseparatistischen Kreisen erhobene Forderung, eine föderale Wahlpflicht einzuführen. Wobei sich Politiker, die auf der Bundesebene Verantwortung tragen, dem Wählervotum im ganzen Land stellen müssen. Dies könnte eine Waffe gegen zunehmende nationalistische Demagogie in Wahlkampfzeiten sein. Außerdem wollen wir, dass über alle wesentlichen Bereiche, wie soziale Sicherheit, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung, Lohnpolitik und Verkehrswesen auf der nationalen Ebene entschieden wird. Föderalisierung hat zu Ineffizienz, Verwirrung und Geldverschwendung und darüber hinaus zu einer Spaltung der Menschen geführt.

Gemeinsam mit den Gewerkschaften widersetzt sich die PTB/PVDA der Regionalisierung jedes Teils der Sozialversicherung und unterstützt die Wahrung der Solidarität zwischen den Regionen mit Hilfe dieser Mechanismen. Arbeitsgesetzgebung und Tarifverhandlungen sollten ebenfalls auf der nationalen Ebene verbleiben.

Anstatt vom "Geldstrom von Nord nach Süd" zu reden, thematisiert die PTB/PVDA den sehr viel größeren Geldstrom von den Arbeitern zu den Kapitaleignern. Während der letzten 20 Jahre wurden 10 Prozent des BIP von den Arbeitern zu den Kapitaleignern verschoben. Jedes Jahr fließen unangemessener Weise 1,5 Milliarden Euro aus den Sozialkassen auf die Konten der multinationalen Pharmakonzerne, weil die belgische Sozialversicherung zu viel für Arzneimittel bezahlt. Das ist tatsächlich ein Skandal! Wenn diese Transferströme gestoppt werden, lassen sich Probleme wie die Alterung der Bevölkerung leicht lösen. Um diese Probleme in Angriff zu nehmen, brauchen wir starke und vereinigte Gewerkschaften und eine klassenbewusste Arbeiterklasse.

Zu beidem versuchen wir unseren Beitrag zu leisten und eine entsprechende Partei aufzubauen. Das ist umso wichtiger in einer Situation, in der vor allem in Flandern, die Sozialdemokratie in einer tiefen Krise steckt. Sie hat bei den letzten Wahlen eine sehr schwere Niederlage erlitten (-6,8 Prozent) und unter vielen Mitglieder der beiden sozialdemokratischen Parteien herrscht heute große Konfusion.



Von Herwig Lerouge, Herausgeber der Zeitschrift "Études marxistes" und Mitglied des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Belgiens (PTB/PVDA)