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Heinrichs ahistorische Betrachtungsweise führt nicht nur in Bezug auf die Frage der längerfristigen Entwicklungstendenzen des Kapitalismus zu einer den Marxschen Positionen widersprechenden Sichtweise. Sie hat bereits auf der abstrakten Ebene der Werttheorie gravierende Konsequenzen.

Heinrich polemisiert gegen Vertreter einer "substanzialistischen" Werttheorie. Er behauptet "Die Rede von der ´Wertsubstanz´ wurde häufig quasi-stofflich verstanden: Der Arbeiter oder die Arbeiterin haben ein bestimmtes Quantum abstrakter Arbeit verausgabt und dieses Quantum stecke jetzt als Wertsubstanz in der einzelnen Ware und mache das einzelne Ding zu einem Wertgegenstand." Dieser Auffassung gegenüber betont er die Tatsache, dass ein Produkt erst durch seine Beziehung auf den Austausch zur Ware wird, "dass die Produkte ihre Wertgegenständlichkeit erst im Austausch erhalten". Soweit wäre ihm zuzustimmen, bliebe er hier nicht stehen. Anstatt nun Determinanten der Austauschverhältnisse zu bestimmen, die Wechselwirkungen zwischen Produktion und Austausch zu untersuchen, bricht die Heinrichsche Werttheorie bei der Konstatierung der Anerkennung des Wertes im Austausch ab. Heinrich betrachtet den Wert lediglich unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Anerkennung einer vorab verausgabten Privatarbeit im Verkaufsakt auf dem Markt. Diese Sichtweise kommt besonders drastisch im sechsten Kapitel der "Wissenschaft vom Wert" zum Ausdruck, wo er mit dem Hinweis seiner Gegner, die Produkte kapitalistischer Unternehmen seien ihrer Bestimmung nach immer schon Waren, so gar nichts anzufangen weiß. Bei Heinrich bestimmt nicht der Fortgang des Akkumulationsprozesses, die Entwicklung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die Wert- und Austauschverhältnisse, sondern der Austausch bestimmt ihm zufolge umgekehrt die Wertgröße und damit den Akkumulationsprozess. Aller Rhetorik zum Trotz ist es hier letztlich die Zirkulationssphäre, die über Wertgröße und Preis entscheidet. Damit sind wir glücklich auf dem Boden der subjektiven Wertlehre gelandet: Den Satz, Wert sei das, was der Markt als solchen anerkenne, kann jeder marginalistische Schulökonom unterschreiben.

Natürlich kann sich eine solche Sicht der Dinge nicht auf Marx stützen. Dieser betont unzweideutig, "dass nicht der Austausch die Wertgröße der Ware, sondern umgekehrt die Wertgröße der Ware ihre Austauschverhältnisse reguliert." Heinrich sieht sich gezwungen, einen Widerspruch zwischen seiner und der Marxschen Theorie zu konstatieren, schiebt den schwarzen Peter aber Marx zu: "Wie (...) gezeigt wurde, blieb Marx in der Darstellung seiner Werttheorie ambivalent. Zwar entwickelte er wesentliche Momente einer monetären Werttheorie, er fiel aber immer wieder auf das bereits überwundene Terrain einer nicht-monetären Werttheorie zurück."

Wieder ist es seine undialektische Betrachtungsweise, die Heinrich auf Abwege führt. Indem er zum einen Wesens- und Erscheinungsebene beständig miteinander vermengt (Die Begriffe Wert, Wertsubstanz, Wertgröße und Wertgegenständlichkeit purzeln munter durcheinander), zum anderen die Wertverhältnisse nicht in ihrer Prozesshaftigkeit als stets werdendes Resultat eines sich beständig entwickelnden Reproduktionsprozesses begreift, kann er nicht nachvollziehen, wie Marx Wesen (Wert, Wertsubstanz) und Erscheinung (Wertgegenständlichkeit, Tauschwert, Preis) miteinander vermittelt. Ohne diese beiden zentralen Aspekte Marxscher Dialektik ist der Übergang zu einer positivistischen Auffassung von Wert und Preis unvermeidlich.

Der "ideale Durchschnitt"

Während die große Mehrheit der Marx-Forscher die Auffassung vertritt, der Gegenstand des "Kapital" sei das Kapital im Allgemeinen, widerspricht Michael Heinrich dieser Ansicht. Immer und immer wieder betont er, Marx gehe es um die Darstellung des "Kapital in seinem idealen Durchschnitt". Auf den ersten Blick eine Detailfrage für Marxologen, auf den zweiten Blick ein Unterschied ums Ganze. Die Betonung der Formulierung "idealer Durchschnitt" bedeutet in der Konsequenz die Eliminierung des Entwicklungsgedankens in der Analyse. Ein idealer Durchschnitt entwickelt sich nicht. Diese Formulierung legt die Interpretation des "Kapital" von vornherein auf eine statische Betrachtung seines Gegenstandes - des Kapitalismus!! - fest. Ein idealer Durchschnitt hat keine Geschichte. Die Rede vom Kapital im Allgemeinen hingegen verweist notwendig auf Besonderes und Einzelnes, öffnet somit den Blick für die historische Dimension der Analyse.

Hat Heinrich recht? Die Art, in der er seine Marxinterpretation begründet, ist ein nur allzu typisches Beispiel für seinen Umgang mit Quellentexten. In seiner "Kritik der politischen Ökonomie" rechtfertigt Heinrich seine Lieblingsformulierung auf Seite 28 f. mit einem einzigen Marx-Zitat. Wer sich jedoch die Mühe macht, die Stelle im dritten Band des Kapital nachzuschlagen, entdeckt, dass der angeführte Beleg nicht mehr ist als ein unvollständig zitierter Satzteil am Ende eines unvollendeten, von Marx nicht redigierten Manuskriptfragments, zudem eines Fragments, das in einem völlig anderen Kontext steht. Der Satzteil lautet: "... weil die wirkliche Bewegung außerhalb unseres Plans liegt und wir nur die innere Organisation der kapitalistischen Produktionsweise, sozusagen in ihrem idealen Durchschnitt, darzustellen haben." Den Kontext dieser Aussage bildet eine Auseinandersetzung mit der sogenannten "Trinitarischen Formel", also einem vulgärökonomischen Theorem. Selbst in dieser für die zu klärende Frage völlig unsignifikanten Passage schränkt Marx die Relevanz der Rede vom "idealen Durchschnitt" noch durch ein "sozusagen" ein. Michael Heinrich hingegen erhebt sie unter souveräner Missachtung unzähliger gegenläufiger Textstellen zum Schlüssel seiner gesamten Analyse des "Kapital".

Das Verschwinden des Menschen

Die Aversion gegen die historische Dimension des Marxschen Denkens treibt Heinrich zu den seltsamsten Stilblüten. Man mag ihm ja noch folgen, wenn er in Bezug auf die von Marx und Engels gemeinsam verfasste "Deutsche Ideologie" feststellt: "Der Versuch, die gesellschaftliche Wirklichkeit mit Hilfe bestimmter Vorstellungen vom ´Wesen des Menschen´ zu erfassen, wird abgelehnt, da diese Wesensbegriffe immer nur die Hypostasierung bestimmter gesellschaftlicher Vorstellungen sind." Statt jedoch nun das Wesen des Menschen im Sinne einer historischen Anthropologie in seiner Entwicklung zu begreifen, lässt er die Menschheit in einer Fußnote verschwinden: "Nun mag man zwar einwenden, dass hinreichend allgemeine Wesensbestimmungen diesem Verdikt nicht unterliegen würden. Aber selbst wenn dies zutrifft, leisten diese allgemeinen Bestimmungen gerade wegen ihrer ahistorischen Allgemeinheit nichts für das Verständnis einer bestimmten Gesellschaft. Hält man beispielsweise ´Gesellschaftlichkeit´ als eine solche Bestimmung fest, so muss man sie so allgemein auffassen, dass in ihr nur noch die Tatsache enthalten ist, dass die Menschen in Gesellschaft leben. Dies trifft aber auch auf Schimpansen zu."

Nichts verbindet uns demnach mehr mit den Menschen vergangener Epochen. Nichts verbindet uns auch mit jenen, die noch oder schon außerhalb kapitalistischer Reproduktionszusammenhänge leben. Der Begriff der Menschheit, die größte Errungenschaft der Philosophiegeschichte, löst sich auf in ein disparates Nebeneinander unterschiedlicher Wesen, denen nicht einmal mehr ein gemeinsamer Gattungsbegriff zugestanden wird. Wenn wir mit den Bewohnern des antiken Griechenland oder den Angehörigen eines traditionell lebenden Ureinwohnerstammes nicht mehr gemeinsam haben als mit einer Schimpansenhorde, dann ist jedem humanistischen Denken die Grundlage entzogen. Einem neurechten "Ethnopluralismus" sind hingegen Tür und Tor geöffnet. Wieder einmal zeigt sich: Die Eliminierung des Entwicklungsgedankens aus der Wissenschaft führt entweder zu unauflösbaren logischen Widersprüchen oder zu Konsequenzen, die dem Marxschen Denken entgegengesetzt sind.

Neues vom demokratischen Rechtsstaat

Auch in Hinblick auf die Staatstheorie ist Heinrich mit dem Traditionsmarxismus unzufrieden: "Staatskritik wird von den Vertretern dieser Auffassung vor allem als Entlarvung verstanden: Die Neutralität des Staates soll als nur scheinbare nachgewiesen werden." In der Tat haben Generationen von marxistischen Staatstheoretikern, von Marx und Engels über Lenin, Gramsci und Poulantzas bis jüngst zu Canfora aufzuzeigen versucht, dass der bürgerliche Staat als "ideeller Gesamtkapitalist" letztlich im Interesse der ökonomisch herrschenden Klasse fungiert, dass trotz einer gewissen Arbeitsteilung zwischen ökonomischer und politischer Elite Letztere die Interessen der Ersteren vertritt. "Der Staat ist der Ort der strategischen Organisation der herrschenden Klasse in ihrem Verhältnis zu den beherrschten Klassen", schreibt Nicos Poulantzas in seiner "Staatstheorie". Der bürgerliche Staat ist Klassenstaat, selbst wenn formale Gleichheit zwischen den Staatsbürgern existiert. Er ist Klassenstaat, nicht obwohl, sondern weil es Millionären und Obdachlosen gleichermaßen verboten ist, unter Brücken zu nächtigen.

Heinrich hingegen hält von derartigen Ansichten wenig. Er nimmt die Form für den Inhalt, reproduziert liberale Glaubensformeln: "Der Staat verhält sich den einzelnen Bürgern gegenüber tatsächlich als neutrale Instanz; diese Neutralität ist keineswegs nur Schein." Zwar räumt Heinrich ein, der bürgerliche Staat vertrete das kapitalistische Gesamtinteresse, relativiert dies aber, da der Staat den Interessen der Bevölkerungsmehrheit Rechnung trage: "Die Auseinandersetzung über die verschiedenen politischen Maßnahmen und die unterschiedlichen Strategien, die Bildung von Konsens und Legitimation, die kapitalismuskonforme Integration von Interessen, all dies umfasst nicht nur die ´herrschende´, sondern auch die ´beherrschten´ Klassen." (Man beachte die Anführungszeichen! - H. W.) Der Satz "Zwar kann Politik mit den Machtmitteln des Staates auch diktatorisch gegen eine Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden" wird sofort wieder abgeschwächt: "Eine länger andauernde Ausschaltung demokratischer Institutionen und die Einschränkung von Presse- und Meinungsfreiheit bringt jedoch erhebliche materielle Kosten mit sich (...) und stört zudem erheblich die Ermittlung des kapitalistischen Gesamtinteresses. Militärdiktaturen und Ähnliches sind in entwickelten kapitalistischen Ländern deshalb eher die Ausnahme." Diese Aussage ist nicht nur sachlich falsch - historisch ist eine funktionierende Demokratie mit uneingeschränkter Presse- und Meinungsfreiheit die seltene Ausnahme - sie versperrt vor allem den Blick auf das Wesentliche: Sobald die Bevölkerungsmehrheit den kapitalismuskonformen Konsens aufkündigt, sobald die Macht der ökonomisch herrschenden Klasse ins Wanken gerät, macht der bürgerliche Staatsapparat Schluss mit dem schönen Schein von Freiheit, Gleichheit und Demokratie.

Kann man Heinrich vorwerfen, er leugne, dass bürgerliche Staaten Klassenstaaten seien? Nein, er gibt sich lediglich große Mühe, deren Klassencharakter zu relativieren. Dabei spielt er sein übliches Spiel: Dem "Traditionsmarxismus" werden simplifizierende Aussagen untergeschoben, Heinrich kontert mit Allgemeinplätzen, denen er en passant eine gehörige Portion liberaler Ideologie beimischt.


Der vollständige Beitrag mit ausführlichen Fußnoten steht zum kostenlosen Download bereit unter www.masch-skripte.de. Gegen eine Schutzgebühr von von 2,00 Euro (in Briefmarken) zu bestellen bei Neue Impulse Versand, Hoffnungstraße 18, 45127 Essen.


 
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