Wer Fußballfan ist, also sich zum denkenden und fühlenden Teil der Menschheit rechnet
[Anm. der Redaktion: Stephan spricht hier lediglich von sich und seinesgleichen!], weiß der vier Arten, Fußball zu erleben:
1.) Im Stadion, bei Wind und Wetter;
2.) vor dem Fernseher in gemütlicher Atmosphäre bei gnadenlos entnervenden Kommentierversuchen eines J. Baptist Kerner;
3.) vor dem Radio irgendwo in freier Natur -
4.) oder abgeschnitten von jeglicher Zivilisation etwa auf glänzend terminierten Familienfesten („Wer hat Euch denn den Fußball geschenkt?“), in der man, Süchtigen gleich, verzweifelt ans Spiel denkt und seine Handyrechnung aufquellen lässt wie der Hefekuchen, an dem man gerade lustlos mümmelt.
Es begab sich nunmehr, dass ich um Art 1 zu erleben ins Hessische fuhr, dann aber wegen nicht-aus-dem-Bett-kommen auf Art 2 ausweichen musste. Ich betrat in Begleitung einer jungen, charmanten, kaum weniger verkaterten Dame ein Etablissement, welches sich durch ein Leuchtschild als „Premiere Sportsbar“ auswies. Nun war das quasi vor Ort eines Bundesligisten (Mainz 05), der durch seinen überraschenden Aufstieg in der ganzen Region eine Euphorie entfacht hatte, die das viel zu kleine Stadion (der zweite Grund, nicht hinzukommen) regelmäßig ausverkauft sein ließ.
Die ganze Region? Nein, eine kleine Lokalität, durch ein Leuchtschild als „Premiere Sportsbar“ ausgewiesen, trotze dem Trend: „Was guckt Ihr denn?“, meine unschuldige Frage, „Konferenz!“, die ernüchternde Antwort. Gut, sagte ich mir und meiner Begleitung, es hat ohnehin schon angefangen, gucken wir Konferenz. Als Experte, für den ich mich halte, hatte ich den Spielplan und die vermuteten Aufstellungen weitestgehend – dem „kicker“ sei Dank - im Kopf, meine Begleitung guckte etwas hilfloser. „Sie verpassen nichts!“, warb der Sender für seine Zusammenschaltung und weckte Erinnerungen an Art 3, Fußball zu genießen – welch gnadenlose Lüge!
Sie verpassen alles, wäre richtiger gewesen, immerhin konnten wir zwei der 19 Tore live verfolgen (>10%), kamen sonst aber nur auf Rufen „Tor in München!!“ zu spät und konnten jubelnde Fußballer erleben. Jubelnde Fußballer sind klasse! Wie Waldorfschüler im Ausdruckstanz! Sie drücken nämlich etwas aus beim Jubeln:
Sie formen mit ihren Armen eine Kinderwiege (= Freundin ist kurz vor/nach der Entbindung), deuten in den Himmel (=Papi/Kumpel gerade oder vor genau x Wochen aufgefahren), machen Rollenspielchen mit Schuhputzpantomime (=neue Schuhe gekauft oder gerade Schleife gelernt), zappeln in der Gruppe mit dem tschechischen Stürmer (=ätsch, ich komme aus Brasilien und kann tanzen, nicht so wie der karpatische Tanzbär neben mir) oder deuten bedeutungsvoll auf das Vereinswappen am Trikot (=ich will wechseln, dorthin, wo es mehr Geld gibt).
Das Ausziehen des Trikots ist derzeit wieder untersagt, da sich einzelne Zuschauer an der Zurschaustellung eines unbekleideten Männeroberkörpers stören könnten (Beschluß der Fifa, vermutlich nach einer Probe innerhalb dieses Altmännergremiums). Wen das interessiert? Keine Ahnung.
Meine Begleitung, einen epileptischen Anfall nur durch Anheben der Toleranzschwelle (Äppelwoi, gespritzt) verhindernd, hatte eine weitere Erkenntnis: „Die spielen ja mit unterschiedlichen Bällen.“. Auch so eine Erkenntnis, für die sich 600km Wegstrecke in vollen Zügen wirklich gelohnt hat. „Ja und?“ „Ich dachte, die hätten alle den gleichen“. Zumindest kann die Frau kochen!
Vollends absurd wurde die Übertragung, als es „Platzverweis in Mainz“ schallte und man - diesmal war man rechtzeitig - sah, wie der Schiri erst gelb und dann rot zückte. Das zugrundeliegende Foul gab es erst später in Zeitlupe, so dass man weder beurteilen konnte, ob der Ball wirklich so lange schon weg war, und sich die Spannung „Zeigt er gelb? Ist das nicht die zweite gelbe...“ ja bekanntlich in nichts auflöste. Und dann ging es auch schon weiter mit der immer zu spät kommenden Übertragung, ähnlich einem verlangsamten Tennisspieler, der konsequent mit seinem Schläger die Luft dort durchsiebt, wo eben noch ein Ball war.
Aber, es gibt eine Gerechtigkeit: Als dann nach der Schreierei und dem Verpassen von 90% aller Tore der Spuk ein Ende hatte, der Sender seine Einzelübertragungen beendete und für diese eine (recht fundierte) Aufarbeitung aller Spiele bot, drehten sich die leicht benommen wirkenden Gäste ab und zahlten, der Wirt stand binnen kürzester Frist neben dem Fernseher und dem ohnehin betrunkenen Stammgast.
„Hätten Sie Mainz gezeigt“, konnte ich mich nicht verkneifen, beim Hinausgehen zu erwähnen, „würden sie noch mal schönen Umsatz machen“.