Nach zwei Jahren ist es wieder soweit: ich werde erneut in die Volksrepublik China reisen. Vom 10. September bis zum 19. Oktober habe ich die Gelegenheit, neue Gebiete und Provinzen dieses riesigen Landes kennen zu lernen, und doch wird mir vieles vertrauter sein als bei meiner vergangenen Reise im Jahr 2005, als ich zum ersten Mal chinesischen Boden betrat - ich konnte Einblicke in Architektur und Mentalität, Kultur und Küche des Landes gewinnen, mich an das Gefühl gewöhnen, der einzige "langnasige Barbar" unter Millionen von Chinesen zu sein und erleben, wie sich ein Analphabet fühlen muss, der kein einziges der ihn umgebenden Schriftzeichen versteht...
...Chinesische Schriftzeichen verstehe ich leider auch heute noch nicht viel besser, und doch habe ich das Gefühl, dass diese Reise zunächst einmal eine Rückkehr sein wird: sehr plastisch vor Augen sind mir noch die chinesischen Riesenstädte, die Garküchen und überfüllten Busse, die lebensgefährlichen zu-Fuß-Überquerungen von zwölfspurigen Highways und die freundlich-neugierigen Menschen mit ihrer direkten und offenen Art. China kenne ich sicherlich noch lange nicht. Das chinesische feeling hingegen habe ich kennen- und liebengelernt.
Diesmal werde ich auch Gebiete des Landes zu sehen bekommen, deren Bereisung noch vor sehr wenigen Jahren ein wahrer Abenteuerurlaub gewesen sein muss: Die Autonome Region Tibet, das Dach der Welt. Mit einer Höhe irgendwo 3000 Meter (oder auch mal doppelt so viel) über Normal-Null, mit den Achttausendern des Himalaya, mit Gebirgspässen und Wüsten umgeben, war Tibet bis zur Einweihung der neuen Qinghai-Tibet-Eisenbahn ("Qingzang-Bahn") nur mühsam, per Flugzeug oder über eine schier endlose und latent erdrutschgefährdete Autobahn, erreichbar. Dies hat sich grundlegend geändert, seit der Zug, der weltweit nicht nur der höchste und einer der teuersten, sondern auch der modernste seiner Art ist, die tibetische Provinzhauptstadt Lhasa mit dem restlichen China verbindet. Und ebenfalls grundlegend ändern wird sich nicht zuletzt durch diesen Zug ganz Tibet: das Gebiet, das dreimal so groß wie Deutschland ist, aber weniger Einwohner als unsere Hauptstadt hat, wird endlich in der Moderne ankommen. Nicht nur die Belieferung mit großer Industrie und vielfältigen Konsumgütern, sondern auch der nun problemlos und kostengünstig mögliche Verkehr der Menschen wird das Angesicht dieser Provinz verändern, und zwar zum Positiven: nur engstirnige, rückständige Gemüter können ersthaft annehmen, dass kulturelle Abschottung, Einengung der Freizügigkeit und Konservierung reaktionärer Gebräuche, zur Belustigung westlicher Esoteriktouristen und -konsumenten, den Menschen in Tibet nutzt. Nicht kulturelle Isolation, sondern im Gegenteil wechselseitige kulturelle Befruchtung hat die Menschheit immer voran gebracht - in diesem Sinne sehe ich meine Reise, und in diesem Sinne gehe ich ganz parteiisch davon aus, dass auch die tibetische Kultur, die Menschen der nationalen Minderheit der Tibeter in der Volksrepublik China, von der Entwicklung profitieren werden - der erste regulär eingesetzte Zug, der Lhasa verließ, brachte denn auch tibetische Studenten zu ihrer neuen Universität in Beijing. Ein schöneres Bild für technischen Fortschritt, der gleichzeitig gesellschaftlichen Fortschritt bedeutet, kann es kaum geben...
10.09. bis 19.10.2007: eine Reise durch die VR China
Vom 10. September bis zum 19. Oktober bereise ich die Volksrepublik China - und auch über die zweite große China-Reise werde ich (nach technischen Möglichkeiten), ähnlich wie vor zwei Jahren, auf secarts.org multimedial berichten: mit regelmäßigen Artikeln, Bildern und Impressionen aus diesem großen Land, vom Aufbauwerk seiner Menschen und dem Eintritt in eine - selbstbestimmte - Moderne für 1,4 Milliarden Menschen. Ein besonderes Reiseziel innerhalb Chinas ist die Autonome Region Tibet, die mit der vor einem Jahr neu eröffneten Eisenbahn bereist werden wird: Dieses technische Wunderwerk, auf Permafrost und eine Höhe von ~ rund 4000 bis 5000 Höhenmetern erbaut, macht erstmals in der Geschichte Tibets einen regelmäßigen Austausch von Menschen, Industrie und Konsumgütern mit dem restlichen China möglich, und wird so die Modernisierung des dünn besiedelten und früher schwer erreichbaren Gebietes beschleunigen. Durch die neuen technischen Möglichkeiten, Internet und digitale Medien, ist eine "Live"-Berichterstattung möglich geworden - und so hoffe ich, meine Freunde und Leser mit auf die Reise nehmen zu können!
Die Qinghai-Tibet-Bahn (Qingzang-Bahn, chin. qing zà ng tielù), ist eine Eisenbahnstrecke in der Volksrepublik China. Sie verbindet die Provinz Qinghai mit der Hauptstadt Lhasa des Autonomen Gebietes Tibet. Mit einem Scheitelpunkt von 5.072 Metern ist sie die höchstgelegene Bahnstrecke der Erde und hat auf 5.068 Metern mit Tanggula auch den höchsten Bahnhof der Welt. In Höhen von mehr als 4.000 Metern verlaufen rund 960 der 1.956 Streckenkilometer. Die Reise von Golmud in der Provinz Qinghai nach Lhasa dauert zwölf, von Beijing aus 48 Stunden.
Damit ist die Lhasa-Bahn, deren bautechnische Fertigstellung im Oktober 2005 verkündet wurde, das bisher größte Eisenbahnbauprojekt des 21. Jahrhunderts. Der technische Probebetrieb begann Anfang Februar 2006, der offizielle Eröffnungszug verließ Peking am 1. Juli 2006, dem 85. Gründungstag der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), und erreichte Lhasa am 3. Juli 2006. Im August 2006 ist die Strecke in den Regelbetrieb übergegangen.
Die Strecke beginnt in Golmud, Endpunkt der in den 1980er Jahren fertiggestellten, 814 Kilometer langen Strecke aus Xining, der Hauptstadt der Provinz Qinghai. Sie führt über die kleinen Orte Budongquan, Wudaoliang, Tuotuoheyan (Gemeinde Tanggulashan) zum 5.220 Meter hohen Tanggula-Pass. An dieser Stelle befindet sich ein Tunnel auf einer Höhe von 5.072 Metern, der den Scheitelpunkt der Strecke und den Übergang ins Autonome Gebiet Tibet darstellt. Wie schon zuvor führt die Strecke zunächst weiter durch die tibetische Hochebene, bis sie nach Damxung ins Tal des Flusses Doilung Qu absteigt und schließlich in Lhasa endet.
Mit Google Earth™ lassen sich einzelne Ziele der Reise via Satellitenbild ansehen: im Folgenden sind einige Städte verlinkt. Vorraussetzung zum Anschauen ist die Installation des Gratis-Programms Google Earth™, welches hier zum Download steht. Es ist für Windows (2000, XP, Vista), Mac OS X (ab 10.3.9) und Linux verfügbar; und mit Linux-Emulation auch unter BSD-Derivaten lauffähig. Die Links sind im KML-Format gespeichert und lassen sich mit Google Earth™ öffnen.
Mount Everest (Grenze zwischen der VR China und Nepal)
In Tibet selbst werde ich Gelegenheit haben, vieles mit eigenen Augen zu sehen, was hierzulande oftmals nur durch den Zerrspiegel interessierter Medien ankommt: ich werde mich längere Zeit in Lhasa selbst aufhalten, mit Bus und gemietetem Auto durch dünner besiedeltes Gebiet reisen, einen Abstecher zum "heiligen See" Nam-Tso machen, und - wenn Höhenluft und Klima dies ermöglichen - zum Basecamp des Mount Everest fahren: auf knapp 6000 Höhenmetern endet dort die befestigte Straße auf den höchsten Berg der Welt, von dort aus geht es nur noch zu Fuß weiter... aber dieses Wagnis ist für mich als untrainerten Nicht-Bergsteiger sicherlich nicht unbedingt ratsam...
Neben den drei Wochen in Tibet bleibt mir noch genug Zeit, auch andere Orte in China zu besuchen: nachdem ich vor zwei Jahren bereits eine große Rundtour durch Zentralchina, Xi'an, Beijing und Yen'an unternehmen konnte, werde ich diesmal die ehemalige portugiesische Kolonie Macao bereisen, einen Abstecher zum Geburtsort des Vorsitzenden Mao, Shaoshan in der Provinz Hunan, machen und wieder genug Gelegenheiten haben, die Stadt Guangzhou, in der ich die erste Woche und nach meiner Rückkehr aus Tibet auch den letzten Teil meiner Reise verbringen werde, zu erkunden.
Es werden also sechs volle Wochen, und ich freue mich schon riesig auf den Start der Reise - ebenso sehr freue ich mich, dass ich via Internet auf www.secarts.org regelmäßig über meine Eindrücke werde berichten können. Dabei maße ich mir nicht an, erschöpfend und allseitig jedes Detail des gesellschaftlichen Lebens in China behandeln zu können; ich werde subjektiv schreiben, ich werde persönliche Impressionen vermitteln und ich werde auch nicht "neutral" bleiben können und wollen: aus meiner Sympathie für das große chinesische Experiment mache ich keinen Hehl. Als Besucher in China erfährt man Geschichte hautnah; sieht Umwälzungen und Neuerungen in einer Größenordnung, die ihresgleichen in der menschlichen Entwicklung suchen; und erlebt, natürlich, nicht nur Sonnenseiten, sondern auch Probleme, Rückschläge, Schwierigkeiten beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft - auch darauf will und werde ich ein Auge werfen. Fehlende Häme über die negativen Seiten der chinesischen Entwicklung und mangelnde eurozentrische Überheblichkeit mag man mir jedoch nachsehen. Dies übernimmt die durch Markt und Meinungsmacht gleichgeschaltete deutsche Presse bereits gründlich genug, um meiner dazu noch zu bedürfen.
Sechs Wochen China - und nun geht es los. Es bleibt noch genug zu tun, deswegen fasse ich mich kurz - ich wünsche euch "daheim Gebliebenen" alles Gute, hoffe auf rege Diskussion unter meinen Artikeln und verbleibe in der Hoffnung, euch alle ein Stück mitnehmen zu können in die Volksrepublik China. Besonderen Dank schulde ich all denen, die mir diese Erfahrung ermöglichten; meiner Familie, meiner Freundin Jing, meinen Freunden in China und daheim - in hoffentlich nicht allzu langer Zeit besuchen wir China mal alle zusammen!
Bis bald, und bleibt sauber! Viele Grüße, euer secarts.
Anmerkung: ich bediene mich sowohl auf der Karte als auch in den Artikeln der offiziellen chinesischen Pinyin-Umschrift, die vielfach von der hierzulande bekannten, allerdings überholten Umschrift abweicht. "Guangzhou" ist gleichbedeutend mit "Canton", "Beijing" mit "Peking" und so weiter. Wenn einmal ein Wort nicht verständlich ist, bitte gleich in den Kommentaren nachfragen!
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Ein großes Hurra, oder was auch immer das auf chinesisch heißen mag, auf unseren weitreisenden Genossen!
Kommentar zum Artikel von secarts:
Dienstag, 11.09.2007 - 16:20
Hallo zusammen, ich bin seit einigen Stunden gut in Guangzhou angekommen... Flug & Fahrt waren alles in allem problemlos, und nun habe ich mir erstmal den Bauch vollgeschlagen und werde demnaechst meinen Jetlag ausschlafen!
Viele Gruesse an alle zu Hause, morgen werde ich mich wohl ausfuehrlicher melden koennen!
Kommentar zum Artikel von secarts:
Montag, 10.09.2007 - 08:17
Es geht los... Mein Zug, der mich zum Flughafen bringen wird, startet demnächst, ich bin also unterwegs!
...ich melde mich, sobald ich chinesischen Boden betreten habe und ans I-Net komme! Bis bald!