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KABUL/BERLIN (06.08.2007) - Angesichts des Besatzungsfiaskos in Afghanistan nimmt der Streit um eine erneute Ausweitung des Bundeswehreinsatzes zu. Vor der kommenden Mandatsverlängerung, über die das Parlament im Herbst entscheidet, plädieren führende Berliner Außenpolitiker für die Entsendung zusätzlicher Truppen. Zugleich soll das bisherige Einsatzgebiet der deutschen Militärexpedition entgrenzt werden, um den westlichen Alliierten zu Hilfe zu kommen. Auch konservative Kriegsgegner warnen, bei der geplanten Fortführung des Krieges müssten die Besatzungsmächte das Land womöglich "demnächst unter unwürdigen Bedingungen verlassen". Um den Warnungen entgegenzuwirken, bietet die Bundesregierung den deutschen Politiker Tom Koenigs auf. Koenigs (Bündnis 90/Die Grünen) gilt als karrierebewusster Bellizist der Fischer-Schule und war der UNO vom Auswärtigen Amt angedient worden. Als UN-Sonderbeauftragter in Afghanistan nimmt er die Rolle eines Kronzeugen für die weitere Eskalation der Kriegshandlungen wahr. Die deutsche Publizistik begleitet die Gewaltexplosion in Afghanistan, der in der vergangenen Woche erneut Dutzende Zivilpersonen zum Opfer fielen, mit bekannten Legitimationsmustern. Frieden "musste zu allen Zeiten erzwungen werden" - durch "überlegene militärische Macht", heißt es in der führenden Zeitschrift für deutsche Außenpolitik.

Wachsende Spannungen kennzeichnen die Berliner Debatte um die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Wegen zunehmender Kritik an der US-geführten Operation Enduring Freedom (OEF) plant die Bundesregierung die politische Aushebelung zweifelnder Abgeordneter: Das Kabinett Merkel will die deutsche OEF-Verlängerung mit der Erneuerung der Mandate für die NATO-geführten ISAF-Einheiten verbinden und zugleich über die Luftwaffentornados abstimmen lassen. Die Zusammenlegung der drei Entsendebeschlüsse soll OEF-Kritiker neutralisieren. Ihre Zahl nimmt inzwischen auch innerhalb der Regierungsparteien zu.

Hinderlich

Die Bundesregierung steht unter dem Druck der USA, deren führende Militärpolitiker eine Aufstockung des deutschen Expeditionskontingents fordern, um den eigenen Blutzoll zu verringern. Den transatlantischen Bündnisverlangen entspricht der SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck und wirbt für zusätzliche Truppen. Der militärpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Rainer Arnold plädiert für die Ausweitung des Mandatsgebiets auf ganz Afghanistan. Schon längst werden auch im Süden des Landes deutsche Soldaten eingesetzt, doch müssen diese Maßnahmen derzeit als "Ausnahme" deklariert und eigens begründet werden, was in Militärkreisen als hinderlich bezeichnet wird.

Präzisionsangriff

Die geplante Ausweitung der Gewalthandlungen geht mit grausamen Praktiken der Besatzungstruppen einher. Ende Juli hatte NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer angekündigt, das westliche Kriegsbündnis werde in Zukunft Bombardements hinauszögern, falls ihnen Zivilpersonen zum Opfer fallen würden, und zur Vermeidung von Massakern ab sofort auch kleinere Bomben verwenden - ein indirektes Eingeständnis vorangegangener völkerrechtswidriger Handlungen.1 Die Mitteilung war erst wenige Tage alt, als in der vergangenen Woche US-Einheiten ein neues Blutbad anrichteten - in einer Menschenmenge, die sich bei einem lokalen Heiligtum versammelt hatte, um der Hinrichtung zweier angeblicher Spione beizuwohnen. In einem "Präzisionsangriff", der gegen zwei "berüchtigte Taliban-Kommandeure" gerichtet war2, bombardierten US-Militärs die Ansammlung von mehreren hundert Menschen und brachten dabei angeblich 150 Taliban zur Strecke. Afghanische Quellen sprechen von mehreren hundert getöteten Zivilpersonen; träfe dies zu, wäre der Angriff das größte Massaker in dem zentralasiatischen Land seit 2001.3

Voll verantwortlich

Nach unbestätigten Meldungen waren an der Vorbereitung des Angriffs mehrere Bundeswehrtornados beteiligt, die im April nach Afghanistan verlegt wurden und seitdem in über 150 Einsätzen sogenannte Aufklärungsflüge über dem Kampfgebiet betrieben haben. Dabei werden tatsächliche oder vermeintliche Gegner mit Infrarotsensoren geortet. Die in den NATO-Leitstäben empfangenen Informationen gelangen auf Umwegen an Bombereinheiten, die das deutsche Zielpotential unter Feuer nehmen - mit den bekannten Folgen. "Mit den Tornados wurde viel Vertrauen verspielt", urteilt die afghanische Leiterin einer in Deutschland ansässigen Hilfsorganisation nach einem Besuch am Hindukusch: "Das gefährdet unter anderem die gesamte humanitäre Arbeit in Afghanistan."4 Dies bestätigt ein afghanischer Exilpolitiker im Gespräch mit german-foreign-policy.com.5 Demnach war der im Mai verübte Anschlag auf ein Bundeswehrkommando als Antwort auf die Tornado-Entsendung zu verstehen. Seitdem häufen sich Angriffe auf deutsche Zivilisten sowie Geiselnahmen. Die dabei erhobenen Forderungen nach Abzug der deutschen Truppen machen deutlich, dass die Bundesrepublik als voll verantwortliche Kriegspartei verstanden wird.

Kurs halten

Obwohl mit weiteren Anschlägen und Geiselnahmen gerechnet wird und die innerdeutsche Opposition gegen den Afghanistan-Einsatz zunimmt, besteht die Bundesregierung auf einer Fortführung der Militärintervention. Im Juli hat sie einen Berlin-Aufenthalt des UN-Sonderbeauftragten in Afghanistan, Tom Koenigs, genutzt, um sich die angebliche Notwendigkeit einer Ausweitung des Mandats öffentlich bestätigen zu lassen. Es werde "ganz entscheidend darauf ankommen", dass Staaten wie Deutschland "Kurs halten", erklärte Koenigs in Berlin.6 Der Politiker von Bündnis 90/Die Grünen ist als ehemaliger Pazifist bekannt. Seinem Urteil wird Einfluss auf die wachsende Anzahl von Kriegsgegnern in seiner Partei zugetraut. Die innerparteiliche Opposition hat einen Sonderparteitag zum Afghanistan-Einsatz erzwungen.

Kolonialinteressen

Laut Willy Wimmer (CDU), ehemals Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, ist das hartnäckige Festhalten der Bundesregierung am Einsatz in Afghanistan geostrategischen Interessen geschuldet, die Berlin gemeinsam mit Washington verfolgt.7 Demnach geht es darum, sich "mit Blick auf künftige Konkurrenten wie China und Indien" und "wegen der Konfrontation mit Teheran" in Zentralasien festzusetzen. "Die USA nutzen von 'humanitärer Intervention' bis 'regime change' alle Kampfbegriffe, die seitens der Briten im 19. Jahrhundert verwendet wurden, um unter globalen Aspekten ihre Kolonialinteressen durchzusetzen", sagt Wimmer über die Vereinigten Staaten - eine Einschätzung, die sich unmittelbar auf den deutschen Kriegsverbündeten übertragen lässt. Der CDU-Politiker weist darauf hin, dass hochrangige NATO-Militärs die anvisierte Besatzungsdauer inzwischen mit 40 Jahren beziffern.

Ordnung

Die Aussicht auf einen jahrzehntelangen Krieg mit entsprechenden Opferzahlen findet publizistische Unterstützung. In der neuesten Ausgabe der offiziösen Zeitschrift "Internationale Politik" werden historische Allusionen aus der Frühgeschichte bemüht: "Wo es keine Macht gab, die andere nieder und zusammen zwang, herrschte selten Frieden".8 Zwar bedürfe jede "Ordnung" "vieler ziviler Ergänzungen", etwa "begrenzte Autonomie für unterworfene Völkerschaften", "mehr oder minder beschränkte Selbstverwaltung für Gemeinden", auch "gewisse Freiheiten zur Gestaltung des beruflichen und privaten Lebens". "Dauerhafter Frieden" aber, heißt es vor dem Hintergrund zunehmender deutscher Kriegstätigkeit weltweit, "musste zu allen Zeiten erzwungen werden. Nur eine überlegene militärische Macht, die für Ruhe sorgte, war in der Lage, einer Welt eine Ordnung zu geben."


Anmerkungen:
1 s. dazu Kriegsverbrechen
2 Zahlreiche Zivilisten sterben bei Nato-Angriff; Die Welt 03.08.2007
3 U.S. Airstrike on 2 Taliban Commanders in South Wounds at Least 18 Civilians, Afghans Say; The New York Times 04.08.2007
4 "Man kann den Terrorismus nicht wegbomben"; Süddeutsche Zeitung 25.07.2007
5 s. dazu Das Echo der Tornados und Keine Chance
6 Koenigs fordert mehr Hilfen; ddp 24.07.2007
7 Eingebunkert für 40 Jahre; Freitag 03.08.2007
8 Frieden muss erzwungen werden; Internationale Politik Juli/August 2007


 
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