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Dieser Morgen, der Morgen des Sieges, der Unabhängigkeit, kam für das vietnamesische Volk vor 32 Jahren.

Der Tag, an dem es mir endlich möglich war, Vietnam zu besuchen, kam erst im Frühjahr dieses Jahres.

Mich bewegt die Frage: Was ist aus dem Lachen des Sieges im ausgebrannten Land geworden? Übermenschliche Arbeit war zu bewältigen, doch das Land gehört dem Volk. Macht das Mut?

Mit Singapore Airlines kommen wir in Hanoi an. Die Formalitäten sind schnell erledigt. Ein Bus mit Reiseleitung bringt uns ins Hotel. Ein erster Blick aus dem Fenster zeigt eine Stadt mit vielen Parks und Grünflächen, künstlich angelegten Teichen. Alleen in Villenvierteln der Kolonialzeit und baumbestandene, breite Verkehrswege durchziehen Hanoi und verbinden die alten und neuen Stadtviertel. Wenige Verwaltungsbauten sind Hochhäuser, auch einige der neuen Hotels mit den internationalen Namen. Vor allem das alte Hanoi ist durch Tunnelhäuser der Handwerker und Händler reizvoll und gemütlich und steht unter Denkmalschutz.

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Auf dem Markt in Hanoi
Bei einem Stadtrundgang erleben wir die überquellenden Märkte mit viel frischem Gemüse und Obst, mit getrockneten Spezialitäten und Waren des täglichen Bedarfs, Fleisch und Fisch werden feilgeboten, freundlich den Kunden angepriesen.

Mit ihren Tragekörben laufen Frauen in den Straßen, sie bieten frisch geschälte Ananas, Bananen und anderes Obst an. Die Blumenverkäuferinnen sind mit dem Fahrradcyclo unterwegs. Vor den Tunnelhäusern, in denen ebenerdig meist der Laden ist, werden Salate, gekochte Speisen, Suppen, Reis angeboten. Alles für kleines Geld. Ein Plausch, ein Frühstück, ein Getränk und schon geht es weiter. Zu Fuß sind in diesem Gewirr von Fahrrädern, Mofas und Cyclos und Autos nur die Touristen unterwegs. Es ist laut, denn Blinken reicht nicht. Blinken und Hupen ist nach der Verkehrsordnung Pflicht. Die Luft ist stickig. Die sich auf zwei Rädern ihren Weg bahnen tragen einen Mundschutz.

Eher beiläufig erwähnt der Reiseleiter beim Besuch der in Verehrung des Konfuzius im 10. Jahrhundert errichteten weitläufigen Literaturtempelanlage die schweren Luftangriffe der US-Air-Force auf Hanoi. Häuser und Straßenzüge sind wieder aufgebaut. Die Erinnerung an die Opfer der barbarischen Untat bleibt. Dabei kennen mehr als die Hälfte der heute in Vietnam Lebenden den schmutzigen Krieg der US-Amerikaner nur aus Erzählungen. Sie sind unter 30 Jahre alt.

Der Bus fährt uns zum Großen Platz. Ordentlich aufgestellt und gemessenen Schrittes gelangen wir in das Mausoleum zu Ho Chi Minh, dem ersten Präsidenten. Vietnamesen, Kinder in Gruppen oder mit ihren Eltern, Besucher von überall her bieten ein buntes Bild, als sie wieder auf dem Großen Platz ankommen. Hier steht das Haus des Volkes, das Parlament. Wir hören wie das Land regiert wird. Die Kommunistische Partei und viele gesellschaftliche Organisationen Vietnams stellen die Volksvertreter; auch die Kirche ist dabei.

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Das Ho-Chi-Minh-Denkmal in Ho-Chi-Minh-Stadt
In einem weiten Park die ehemalige Repräsentanz des französischen Kolonialgouverneurs. Hier wollte Ho Chi Minh nicht wohnen und arbeiten. Es reichte ihm ein kleines Haus im Park, da lebte und arbeitete er. Morgens lockte er durch Klatschen die Goldfische des Teiches und fütterte sie. Heute locken Besucher die Fische so. Tief verwurzeltes Tun des Onkel Ho.

Über drei Millionen Menschen bewohnen die Hauptstadt Hanoi. Sie ist industrielles Zentrum und Universitätsstadt mit Universitäten und Hochschulen aller Disziplinen. Sie sind staatlich und ihr Besuch kostenlos. Ziel ist, in den Sprachen Harvard-Standard zu erreichen. Die nötige Schulreform versucht mit schulgeldpflichtigen Privatschulen Lernen und Ausbildung auf ein höheres Niveau zu heben, um auch wissenschaftlich-technisch an die Weltspitze zu kommen, dabei aber die Wissensvermittlung in die Breite nicht zu vernachlässigen.

Natürlich erleben wir die Halong-Bucht mit ihren 2 000 Inseln und Karstbergen. Sehen Menschen und Wasserbüffel bei der schweren Arbeit in den Wasserreisfeldern. Gebückt werden die Setzlinge von Hand ausgebracht, oft das Wasser manuell in die Felder geschöpft. Frauenarbeit. "Unsere Frauen sind die Fleißigsten", bemerkt unser Reiseleiter. Seit einigen Jahren exportiert Vietnam wieder Reis. Fern die Zeit, da Kolonialherren die gesamte Reisernte zur Schuldentilgung benutzte und Millionen Vietnamesen verhungerten.

Hué, die alte Kaiserstadt, liegt am Fluss der Wohlgerüche. Von der neueren Stadt führen Brücken zur Zitadelle, dem Verteidigungsring um die Verbotene Stadt der Kaiser. Massiv bombardierten und beschossen die US-Aggressoren die Verbotene Stadt. Fast alle Paläste wurden schwer beschädigt. Die nur dem Kaiser vorbehaltene Purpurstadt ist so zerstört, dass noch nicht einmal ihre Fundamente zu finden sind. Die Restaurierung der anderen Gebäude dauert an, ist sehr kompliziert und die Kosten bezahlt nicht das Pentagon.

Auch im Falle von Son My haben die US-Bomber ganze Arbeit geleistet. Über diesem Cham-Heiligtum aus dem 4. Jahrhundert erhebt sich der Katzenzahnberg. Ende des 19. Jahrhunderts, bei der Besetzung Vietnams durch die Franzosen, wurde das religiöse Heiligtum des Volkes der Champa entdeckt, bei Ausgrabungen vom Dschungel befreit und kartiert. Bedeutende Teile wurden restauriert. Die Bitte der französischen Regierung, dieses Gebiet nicht zu bombardieren, blieb ungehört. Davon zeugen Bombentrichter der 500-kg-Bomben und Hinweise auf Minen und auch darauf: Es wird weiter restauriert. Von ehemals 70 Ruinen aus einem Zeitraum von 500 Jahren Champa-Herrschaft waren 1980, als polnische Restauratoren ihre Arbeit begannen, nur noch 20 Tempelruinen vorhanden. Was jetzt zu sehen ist, zeugt von der großen Kultur und Baukunst dieses Volkes.

Überhaupt ist hier deutlich zu spüren, was Agent Orange zur Baumentlaubung angerichtet hat. Kein Dschungel, kein Wald mehr. Eine ganze Landschaft verändert. In Vietnam sind nur noch 25 Prozent der Fläche von Wald bedeckt. Abholzen, aber vor allem Flächenbombardements und Entlaubungsaktionen der US-amerikanischen Kriegführung gegen das vietnamesische Volk sind die Ursache.

Bedrückender ist es My Lai (Son My) zu besuchen. Dort, wo es einmal war. Ein kleines Reisbauerndorf mit um die 500 Einwohnern. Sie hatten sich zum Schutz vor den US-Angriffen Höhlen, Unterstände gebaut. Im März 1968 half nichts gegen US-Barbaren. Hubschrauber beschossen die Menschen im Reisfeld, töteten sie in den Häusern, in allen Unterständen. Wüteten so lange bis 504 Frauen, Kinder, Greise, alles was sich bewegte, auch die Tiere, zur Strecke gebracht war.

Einer fotografierte die Untaten. Dadurch wurden sie öffentlich. Der verantwortliche Leutnant der 174. US-amerikanischen Hubschrauberstaffel, im Jahre 1971 zu Lebenslänglich bestraft, kam bereits nach dreieinhalb Jahren frei.

Die Bilder des GI sind mit entsprechenden Texten in der Gedenkstätte zu sehen. An der Stirnwand lesen wir 504 Namen. Wo einmal die Felder waren, erhebt sich mahnend ein Denkmal.

Unsere Reiseleiter erklären gerne, warum sie gutes Deutsch sprechen. Sie lebten in der DDR, arbeiteten, studierten dort. "Da war es unsere Heimat", sagt Herr Lam. "Ich bin traurig, dass es diese Heimat nicht mehr gibt."

Herr Lam ist ein Quell alter Sagen und Märchen. Die hat er von seiner Mutter, einer Landfrau. Die Episoden breitet er über uns aus, sie bringen uns das Denken dieser Menschen nah. Von drei Generationen spricht er, der Kriegsgeneration, von der des Mangels nach dem Kriege und von der Mofa-Generation. Er meint damit, die Jugend habe mehr Freiheiten, fahre mit Freunden oder der Freundin herum und entwachse schneller den oft der Tradition verbundenen Elternhäusern.

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Während er Produktionszahlen nennt, über Steinkohle- und Ölförderung, Zuckerproduktion und Exportwachstum spricht, fahren wir durch langgezogene Ortschaften. Möbel, Haushaltsgegenstände, Elektroartikel, Werkzeuge, lebende Tiere und anderes werden am Markt auf der Straße verkauft und mit Mofa oder Roller abtransportiert. Manchmal ist ein neues Industriegebiet nicht weit.

Zwei Wochen Urlaub bekommt ein Fabrikarbeiter bezahlt und die Statistik nennt 700 Dollar Jahresverdienst pro Kopf. Vietnam ist ein Entwicklungsland. Es plant, 2020 Industrienation zu sein. Seit 1990 wird das Land nicht mehr blockiert. Es ist Mitglied im ASEAN. Das Wachstum ist sichtbar.

Die Landschaft wechselt von Ebene zu Hochland. Hier ist braunroter Basaltboden. Über grünen Blättern blüht es weiß und duftet wie bei uns Jasmin. Kaffeesträucher. Sorte Arabica. "Wussten Sie, das Vietnam nach Brasilien größter Kaffeeexporteur ist?" Wussten wir nicht. Auch nicht, dass wir Arabica in Form von Pulverkaffee großer Kaffeekonzerne trinken. Die DDR hatte seinerzeit den Kaffeeanbau vorangebracht und bei der Züchtung geeigneter Sorten geholfen.

Hoi An, Qui Nhon, Na Trang, Dalat, weiße Strände, die gepflegten Bergdörfer mit abwechslungsreichen Gemüsefeldern, die Kalane der Cham-Heiligtümer sind interessante Stationen, bevor uns Ho-Chi-Minh-Stadt Saigon erwartet. Die moderne Hafenstadt am Mekong-Delta schlechthin. Hochhäuser, mehrspurige Straßen, Roller, Mofas, Autos, Omnibusse, Laster, Lärm.

Unser Bus tastet sich ins Stadtzentrum. "Und nun bitte gleich nach der Kreuzung nach links schauen. Bitte gleich, jetzt! Da ist sie. Wir haben eine Thälmann-Schule", ruft Herr Lam. Im Bus breitet sich Schweigen aus und die Freude stirbt im Gesicht von Herrn Lam. Er ahnt nicht, wie wenig die neuen Deutschen von Ernst Thälmann wissen, seine DDR-Erfahrung ist anders.

Am Tor der Thälmann-Schule eine Tafel mit dem Aufruf der Kommunistischen Partei Indochinas: "Hier trafen sich am 19.3.1950 tausend Persönlichkeiten zu einem Meeting, um gegen die Invasion der US-Imperialisten in Indochina zu protestieren. .(...) Das ganze Land und die vietnamesische Bevölkerung werden zum Widerstand aufgerufen."

Der schönste Platz in Ho-Chi-Minh-Stadt befindet sich vor dem nach Pariser Vorbild gebauten Rathaus. Umrahmt von echten Orchideen steht hier das Denkmal für Ho-Chi-Minh. Fotografen, fotografierende Eltern, Kinder, alles wuselt durcheinander. Den ganzen Tag. Schwer, in Ruhe das Denkmal und Onkel Ho zu betrachten. Früh am Morgen gelingt es. Hier steht ein Mann des Volkes mit Kindern. Er starb 1969.

Von Ho-Chi-Minh-Stadt aus fahren wir zum Tunnelsystem des Vietcong. Die Cu-Chi-Tunnel sind ein eindrucksvolles Zeugnis vietnamesischer Widerstandskraft gegen die US-Aggressoren. Sie hatten in diesem Gebiet einen Stützpunkt für ihre 25. Division errichtet. Von dem genau unter ihnen liegenden Tunnelsystem des Vietcong sollen sie nichts gewusst haben. Es erstreckt sich auf einer Fläche von 150 Quadratkilometern.

Als die US-Amerikaner es entdeckten, war ihnen kein Mittel zu schmutzig, es auszuräuchern, zu zerstören oder es zu erobern. Kleine Menschen, deutsche Schäferhunde, niemand kam hinein. Die Tunnel waren nicht zu knacken. Die Menschenopfer zählen nach Zehntausenden, 44 357 Namen sind auf einer Stele eingraviert. Napalmbomben und Agent Orange hinterließen eine Mondlandschaft. Zäh und willensstark sind die, die jahrelang in den Tunneln lebten und die Kraft hatten, diese vergiftete und zerstörte Heimat wieder aufzubauen.

Wir versuchen hinunter zu steigen. Dunkelheit. Die Luft wird knapp. Wir kriechen wieder ans Tageslicht. Nachgebildet ist, wie ein Dorf funktionierte mit Schule, Krankenstation, Laufgräben, verdeckten Tunneleingängen, Bambusfallen zur Abwehr der Überfälle.

Nachdenklich sind wir. Herr Lam zeigt das alles scheinbar unbekümmert, um dann zu sagen: "Das ist es, warum wir nie mehr Krieg wollen, aber unabhängig sein. Dafür leben wir."

Was bleibt von meinen Fragen? Vietnam will frei bleiben. Seine Menschen möchten endlich würdig leben. Leben heißt arbeiten, etwas Schaffen. Leben heißt lernen. Es bedeutet die Industrie zu entwickeln und in der Landwirtschaft nach besseren Methoden zu arbeiten. Unser Reiseleiter ist nicht der einzige, der seiner Regierung vertraut, die für die sozialistische Republik Vietnam eine Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung anstrebt.

Er selbst möchte sein Wissen nutzen, um mit seiner Familie ein Guesthouse zu führen. Wenn es soweit ist, sind wir herzlich eingeladen. Ist das der Anfang einer weiteren beeindruckenden Reise?

 
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