Es war ein Donnerstag, als dank unseres Politbüro-Mitglieds Schabowski die Berliner Mauer etwas überhastet aufgebrochen wurde. Bereits am Montag darauf hatte meine Chefredaktion für mich einen für damalige Zeiten noch sehr ungewohnten Interview-Termin vereinbart, nämlich mit dem damaligen Hannoveraner Bürgermeister Schmalstieg. Im Vorzimmer ein Herr Moser. Wir kamen ins Gespräch. Die von ihm erfragten Details über sich nun auftuende Geschäftsmöglichkeiten wären auch nicht uninteressant. Bei Gelegenheit vielleicht. Denn häufiger, inzwischen fast täglich, werde ich an einen unsere Diskussion prägenden Satz erinnert. Mein Entsetzen über die ersten Nazis mit Glatzen und Springerstiefeln, die hinter oder auch schon mal vor den Wir-sind-ein-Volk-Grölern in Leipzig marschierten, kommentierte er – es sei dahin gestellt, ob nun lakonisch oder leicht amüsiert: Das ist der Preis der Freiheit.
Am vergangenen Sonnabend nun trampelte die braune Bande erstmals unbehelligt durch das Brandenburger Tor. Die Polizei kam später.
Sie kam jüngst am Himmelfahrtstag in der 15 000-Einwohner Stadt Wurzen auch erst später. Erst als 30 Jugendliche – und ein paar Ältere – ein Fußballspiel von Chemnitzer und Wurzener 14-jährigen Junioren, in dem beide Mannschaften gegen den Abstieg aus der C-Jugend-Landesliga Sachsen kämpften, in eine Naziorgie verwandelt hatten. Natürlich ist es jetzt leicht, alles auf den Alkohol zu schieben, es war ja "Vatertag". (Wobei – auch dies der Preis der Freiheit. Jeder fünfte zwischen 12 und 25 Jahren greift nun auch im Osten regelmäßig zur Flasche. Da wären in der so unfreien DDR aber Lehrer, Eltern, Pionierleiter, Zirkelleiter, FDJ-Gruppen und wer weiß ich was noch vor gewesen! Und das Lehrstellenangebot! Und, ach, wenn eine wie ich in Ostalgie verfällt. Als wüsste ich nicht, dass das unbotmäßig ist).
Also zurück: Der Alkohol an sich war schuld. Aber sagen nicht Kinder und Besoffene die Wahrheit? Was auch heißt, sie sagen, was sie denken. Und so brüllten sie halt in Richtung Schiedsrichter und Chemnitzer Gäste: "Du Judenschwein", "Fick deine Mutter, du Judensau" und "Wir ziehen dir die Vorhaut runter, du Jude". Ungestört konnten sie auch das sogenannte U-Bahn-Lied ("Wir bauen eine U-Bahn von Chemnitz bis nach Auschwitz") singen, während einer aufrief, ein Hakenkreuz zu formieren.
Nichts passierte. Auch dann noch nicht, als die Gäste nach einer Stunde einen Spieler vietnamesischer Herkunft einwechselten, und der mit "Nazi Goreng" und "Fidschischwein" beschimpft wurde. Kam er in den Ballbesitz, wurde das mit Affenlauten quittiert. Nichts passierte. Die anderen Zuschauer waren wohl alle mit den drei hinlänglich bekannten Affen verwandt: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen (der Rasen in Wurzen ist ja wohl keine unübersichtliche Riesenarena!). Ordner gab es gar nicht erst. Nach 65 Spielminuten und einem weiteren Wechsel bedrohte ein aufs Feld stürmender Jungnazi den Einwechselspieler und den Trainer der Gäste. Endlich unterbrach die Schiedsrichterin die Partie und kündigte den Abpfiff an, falls nicht endlich Ruhe einzöge.
Nach dem Spiel ging es weiter. Und endlich, in ihrer Umkleidekabine, riefen die Schiedsrichter die Polizei zu Hilfe.
Aber siehe oben, als die eintraf, waren die Nazis über alle Berge.
Schlimmeres kann nicht mehr kommen? Doch! Der Wurzener Schiedsrichterbetreuer versucht inzwischen, die Ausschreitungen zu verharmlosen, denn, so wird er zitiert: "Wir haben schon genug Ärger. Es ist doch niemand zu Schaden gekommen. Solche Gesänge kommen bei jedem Fußballspiel vor." Klar, ein bisschen Freiheit schadet doch keinem.
Inzwischen verkündete auch der Präsident der Wurzener Fußballer, Heiko Wandel, dass ihm mehrere anwesende Vereinsfunktionäre versichert hätten, es sei überhaupt nichts vorgefallen. Die Schiedsrichterin "war schlicht überfordert. Die hat einfach das in den Spielbericht eingetragen, was ihr Assistent ihr ins Ohr geflüstert hat", äußerte er gegenüber der jungle world. Rassistische oder antisemitische Sprüche seien jedenfalls nicht gefallen. Basta!
Nein, noch nicht ganz. Der vietnamesische Spieler musste nach dem Spiel noch einen Feldverweis einstecken. Er hatte einen Gegenspieler, der ihn beleidigte (also auch die!), nach Spielende gestoßen. "Ich möchte mich für diese Aktion entschuldigen", schrieb er an den Sächsischen Fußballverband, "aber solche Ausdrücke lasse ich mir nicht gefallen".
Das einzig Erfreuliche: die von Wurzener Nazis ins Visier genommenen Gäste aus Chemnitz siegten mit 2:0.
Noch ein Nachsatz zu Wurzen, es liegt zwar beschaulich mitten im Muldetal und schenkte uns Nachfahren den Dichter Ringelnatz und köstliche Kekse, aber es hat – als Preis der Freiheit – heute auch NPDler im Stadtrat und im Kreistag sitzen. Neulich wurden sie von Kreisrat Gey (CDU) zusammen mit der "volkstreuen" Jugend empfangen – und als Ergebnis der Audienz sollte ein NPD-Mann sogar eine ABM-Stelle als Jugend-Sozialarbeiter bekommen.
Aber egal, ob in Wurzen, in Mittweida, in Leipzig (wo die NPD inzwischen im "Haus Leipzig" tagt, das, welch Hohn, früher vielen Leipzigern als "Haus Antifa" eine wichtige Adresse war): hier und heute wird nur die Freiheit Andersdenkender beschnitten, was Nazis ja nun wahrlich nicht sind.