Die Euphorie der Parteigründer der neuen Linkspartei steigt. Der Wahltrend scheint stabil, an Mandaten, Mitarbeiterstellen und Wahlkampfzuwendungen seitens des Staats herrscht kein Mangel. Alle machen mit, bis hin zu den trotzkistischen Freunden von Linksruck, die noch auf jeder Welle mitgeritten sind. Wer nicht mitmacht ist sektiererisch, linksradikal oder schlicht von gestern.
Da linksradikal, linker Radikalismus und ähnliches sich zu wunderbaren Schmähwörtern entwickelt haben, die es mit dogmatisch, rechtgläubig - früher hieß das orthodox - stalinistisch oder dem mehr kumpelhaften Betonkopf durchaus aufnehmen können, lohnt es sich, ein wenig genauer hinzusehen. Ich sehe hier ein wenig in Lenins Linken Radikalismus hinein, der den Uneinsichtigen ja gern zur Lektüre empfohlen wird.
Zuvor jedoch ein wenig zur sprachlichen Klarheit. Linksradikal bedeutet in der politischen Umgangssprache erst einmal, den Dingen an die Wurzel zu gehen, und zwar von links. Soweit damit gemeint ist, und die Kommunisten meinen das, die herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung grundlegend zu ändern, sozusagen dem Übel an die Wurzel zu gehen, ist linksradikal seitens der bürgerlichen Schreiber, bis hin zum Jargon der staatlichen Verfolger, durchaus ein ehrenhaftes Attribut. Nicht ohne Grund heißt das Dokument, mit dem die Regierung Willy Brandt die Praxis der antidemokratischen Berufsverbote einleitete, Radikalenerlaß. Gemeint war der staatliche Aufruf zur Existenzvernichtung von als linksradikal denunzierten Menschen.
Lenins Schrift heißt
Der „linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus. Lenin benutzt hier die Anführungszeichen ausdrücklich im Titel. Die Schrift ist 1920 erschienen und wurde den Delegierten des II. Kongresses der Kommunistischen Internationale ausgehändigt. Es geht Lenin in dieser Schrift darum, die Erfahrungen der Oktoberrevolution auszuwerten und die Delegierten mit den Grundzügen der Strategie und Taktik der Bolschewik! bekannt zu machen. Ein besonderes Augenmerk verwendet Lenin darauf, den noch jungen kommunistischen Parteien bei Korrektur bzw. Vermeidung der „linken" Fehler ihrer ersten Schritte zu helfen.
Obwohl Lenins Schrift ausdrücklich auf die verallgemeinerbaren Erfahrungen der Bolschewiki zielt, ist der linke Radikalismus - ich gebrauche das Wort in diesem Text jetzt ohne die Anführungszeichen, sowohl für das Buch als auch für den Leninschen Begriff - kein Lehrbuch, geschweige denn ein Rezeptbuch. Man muss sich schon der Mühe unterziehen, das Denken Lenins zu verstehen. Die Schrift ist ein historisches Dokument der revolutionären Aufschwungphase nach dem Ersten Weltkrieg, geschrieben zweieinhalb Jahre nach der siegreichen Oktoberrevolution. Eine Phase des Aufschwungs der revolutionären Massenkämpfe lässt sich nicht naiv mit der jetzigen Situation nach einem strategischen Sieg der internationalen Bourgeoisie vergleichen, in der die kommunistischen Organisationen, zumindest in Europa, darum kämpfen müssen, nicht völlig aus dem gesellschaftlichen Leben herausgedrängt zu werden. Lenins Schrift gewinnt aber insofern an Bedeutung, als sie auf die Voraussetzungen revolutionärer Erfolge eingeht. Diese Gedanken bleiben unter Bedingungen, wo alle Grundzüge des Imperialismus sich auf neuem Niveau reproduzieren, in ihren grundlegenden Aspekten wertvoll.
Der Kerngedanke dieser Schrift wird in folgendem Zitat am Beginn des zweiten Kapitels deutlich: „
Sicherlich sieht jetzt schon fast jeder, daß die Bolschewiki die Macht keine 2 1/2 Monate, geschweige denn 2 1/2 Jahre hätten behaupten können ohne die strengste, wahrhaft eiserne Disziplin in unserer Partei, ohne die vollste und grenzenlose Unterstützung der Partei durch die gesamte Masse der Arbeiterklasse, .. "
Es geht um die innere Verfasstheit der Partei, ihren Charakter, und um die Verbindung der Partei zu den Massen. Das ist das Thema.
Lenin sagt, es sei allgemein bekannt, dass Zentralisation und strengste Disziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Sieg über die Bourgeoisie seien. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Frage, warum die Bolschewiki diese notwendige Disziplin schaffen konnten.
Dabei benennt er drei Gründe: a) Das Klassenbewusstsein der proletarischen Avantgarde und ihre Ergebenheit für die Revolution; b) die Fähigkeit der proletarischen Avantgarde, bis zu einem gewissen Grade mit den werktätigen Massen, auch den nicht-proletarischen, zu verschmelzen; c) die Richtigkeit der Führung, der Strategie und Taktik unter der Bedingung, dass die Massen sich durch eigene Erfahrung von dieser Richtigkeit überzeugen können.
Er betont, dass diese Bedingungen nicht auf einmal entstehen können, sondern dass die Organisation diese Bedingungen nur im Ergebnis von langen Bemühungen und harten Erfahrungen erarbeiten kann und fährt dann fort: „
... ihre Erarbeitung (dieser Bedingungen, jm) wird erleichtert durch die richtige revolutionäre Theorie, die ihrerseits kein Dogma ist, sondern nur in engem Zusammenhang mit der Praxis einer wirklichen Massenbewegung und einer wirklich revolutionären Bewegung endgültige Gestalt annimmt." (Kapitel II, 5. Absatz).
Die Kapitel III und IV der Schrift gehen auf die Geschichte, die politische und ideologische Stellung des Bolschewismus innerhalb der Arbeiterbewegung ein. Bevor sich Lenin ausführlich mit den „linken" Fehlern und Irrtümern befasst, hält er fest, dass der Opportunismus und Sozialchauvinismus der Hauptfeind des Bolschewismus innerhalb der Arbeiterbewegung ist. „
Dieser Feind bleibt auch der Hauptfeind im internationalen Maßstab."(Kapitel IV, erster Absatz).
Lenin entwickelt seine Kritik des linken Radikalismus ausgehend von den Erfahrungen der Bolschewiki hauptsächlich in Auseinandersetzung mit den noch jungen oder gerade im Entstehen begriffenen kommunistischen Parteien in Deutschland, Frankreich und England. Ich versuche hier, die Kernpunkte wiederzugeben. Darüber hinaus gilt wie stets: Lest die Klassiker!
Keinerlei Kompromisse? Lenin behandelt diese Frage in seiner Broschüre sehr gründlich. „
Sich im voraus die Hände zu binden, dem Feind, der heute besser gerüstet ist als wir, offen zu sagen, ob und wann wir mit ihm Krieg führen werden, ist eine Dummheit und keine revolutionäre Tat..." (Kapitel VIII, letzter Absatz).
Lenin wendet sich mit Schärfe gegen die Tendenz, die kompromisslose Treue zu den Grundsätzen und Zielen der revolutionären sozialistischen Organisation damit zu verwechseln, in den konkreten Kämpfen keinerlei Bündnisse und Kompromisse einzugehen. „
Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter größter Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs angelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten »Riß« zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein. Wer das nicht begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlichen, modernen, Sozialismus überhaupt begriffen." (Kapitel VIII, 9. Abschnitt)
Es gibt kein Schema, keinen Abzählvers, nach dem man die Zulässigkeit eines Kompromisses beurteilen kann. Aber es gibt Maßstäbe: „
Es kommt nur darauf an, daß man es versteht, diese Taktik (zu lavieren, Kompromisse zu schließen, jm) so anzuwenden, daß sie zur Hebung und nicht zur Senkung des allgemeinen Niveaus des proletarischen Klassenbewußtseins, des revolutionären Geistes, der Kampf- und Siegesfähigkeit beiträgt." (Kapitel VIII, viertletzter Abschnitt)
Das Wirksamwerden der Kommunisten unter den Massen, das ist der Grundgedanke Lenins, der seine Kritik des linken Radikalismus durchzieht. Bei der Frage, ob Revolutionäre in den Gewerkschaften arbeiten sollen, geht Lenin genau von diesem Gesichtspunkt aus. „
Gerade die absurde 'Theorie', wonach sich die Kommunisten an den reaktionären Gewerkschaften nicht beteiligen dürfen, zeigt am deutlichsten, wie leichtfertig sich diese 'linken' Kommunisten zur Frage der Beeinflussung der 'Massen' verhalten und wie sie mit ihrem Geschrei von den 'Massen' Mißbrauch treiben. Will man der "Masse" helfen und sich die Sympathien, die Zuneigung, die Unterstützung der 'Masse' erwerben, so darf man sich nicht fürchten vor Schwierigkeiten, darf man sich nicht fürchten vor den Schikanen, den Fußangeln, den Beleidigungen und Verfolgungen seitens der 'Führer' (die als Opportunisten und Sozialchauvinisten in den meisten Fällen direkt oder indirekt mit der Bourgeoisie und der Polizei in Verbindung stehen) und muß unbedingt dort arbeiten, wo die Massen sind." (Kapitel VI, fünftletzter Abschnitt)
Es reizt natürlich, an dieser Stelle auf aktuelle Fragen der Arbeit der Kommunisten in den Gewerkschaften einzugehen. Da es in diesem Artikel primär darauf ankommt, grundsätzliche Aspekte von Lenins Gedanken zu erfassen, mag das obige Zitat genügen.
Bei der Frage der Beteiligung an Parlamenten, die in der damaligen Periode auch gerade von den deutschen Kommunisten abgelehnt wurde, muss man verstehen, dass die Bankrotterklärung der sozialdemokratischen Parlamentarier, die bis auf die Vertreter der Bolschewiki und eben solcher Ausnahmen wie Karl Liebknecht allesamt die Kriegsposition „ihrer" Bourgeoisie unterstützt hatten, zu einer Haltung führte, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Hinzu kommt, dass mit den siegreichen Sowjets eine revolutionäre Form der Demokratie auf den Plan getreten war, die den Parlamentarismus für die bewusstesten Teile der Arbeiterklasse „erledigt" scheinen ließ.
Lenin hält diesem scheinbar linken Überschwang völlig nüchtern entgegen: „
Gerade deshalb, weil die rückständigen Massen der Arbeiter und - in noch höherem Grade - der Kleinbauern in Westeuropa viel stärker als in Rußland von bürgerlich-demokratischen und parlamentarischen Vorurteilen durchdrungen sind, gerade deshalb können (und müssen) die Kommunisten nur in solchen Institutionen wie den bürgerlichen Parlamenten von innen heraus den langwierigen, hartnäckigen, vor keinen Schwierigkeiten zurückschreckenden Kampf zur Enthüllung, Zerstreuung und Überwindung dieser Vorurteile führen." (Kapitel VII, vorletzter Absatz).
Lenin macht sich über die „linken" Antiparlamentarier lustig, die sich vor den Mühen scheuen, eine „
gute Parlamentsfraktion aus überzeugten, heldenhaften Kommunisten im reaktionären Parlament" zu schaffen. Der Gedanke sollte denjenigen zu denken geben, die meinen, sie seien immun gegen den linken Radikalismus aber gleichzeitig vertreten, dass Oskar und Gregor es schon machen würden und wir ja auch nicht viel anderes dort ausrichten könnten. Ja, die Argumente sind nicht linksradikal, aber die Haltung und das Ergebnis ist das gleiche, man scheut die Mühe.
Ich versuche abschließend, sozusagen als Diskussionsvorschlag, eine Definition des linken Radikalismus zu geben.
Linker Radikalismus ist eine fehlerhafte politische Strategie oder Taktik einer kommunistischen Organisation, die damit ihr Wirksamwerden in den Massen behindert, weil sie ihr eigenes Wollen, ihre eigenen Einsichten und auch ihre eigene Aktionsfähigkeit mit dem Wollen, den Einsichten und der Aktionsfähigkeit der objektiv antikapitalistischen Klassen und Schichten verwechselt und dabei eine nüchterne Analyse der politischen Reife der Massen und des Kräfteverhältnisses zwischen den kämpfenden Klassen unterlässt.