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Gegen die Gleichgültigkeit gegenüber dem, was mit den Ergebnissen der eigenen Forschung geschieht, gegen das Engagement von Forschern bei der Schaffung immer schrecklicherer Waffensysteme wandten sich nach den Erfahrungen von Hiroshima und Nagasaki in den 40er und 50er Jahren viele Wissenschaftler. Die Erkenntnis nahm zu, dass sich jeder Forscher über die Stellung und die Folgen seiner Arbeit zu den großen Problemen der Menschheit Rechenschaft geben müsse, dass die Zukunft in der Hand der Menschheit liegt, aber "auch ihre Selbstvernichtung durch den Missbrauch des größten Geschenks, der tiefsten Einsicht in unsere Welt" (Walther Gerlach).

Dieser Verantwortung stellten sich 1957 18 Atom- und Kernforscher der Bundesrepublik Deutschland aus konkretem Anlass - unter ihnen waren Otto Hahn, Carl Friedrich von Weizsäcker, Walther Gerlach und die Nobelpreisträger Max Born, Werner Heisenberg und Max von Laue. Ihre "Göttinger Erklärung" richtete sich gegen die von Konrad Adenauer geplante Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Darin hieß es unter anderem: "[...] unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns [...] mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen."

Die "Göttinger Erklärung" rief den Zorn Adenauers hervor. Es gelang der Regierung jedoch nicht, die Wissenschaftler als "kommunistisch gesteuert" darzustellen. Die Erklärung wurde zum Anstoß für Massenproteste gegen die nukleare Aufrüstung und einen drohenden "Atomtod". Sie ist nach wie vor von beängstigender Aktualität.


Die UZ dokumentiert Ausschnitte aus einem Beitrag des Wissenschaftshistorikers und Einsteinforschers Friedrich Herneck "Wissenschaft und Wissenschaftler in der Geschichte des Friedenskampfes" aus dem Jahr 1989.



Mit den Kernwaffenblitzen, heller als tausend Sonnen, die im Juli 1945 über dem nordamerikanischen Versuchsgelände und im August 1945 über zwei japanischen Großstädten aufflammten, wurde das Atomzeitalter eröffnet, das seit 1949 durch ein beständig wachsendes nukleares Wettrüsten zwischen West und Ost gekennzeichnet war. Die inzwischen angesammelten Kernwaffenbestände wären in der Lage, alles Leben auf unserem Planeten zu zerstören und das Antlitz der Erde ... in eine tote Kraterlandschaft zu verwandeln.

Ein Bild wie dieses wäre den Menschen des vornuklearen Zeitalters unvorstellbar gewesen, denn es hätte jeder naturwissenschaftlichen Begründung entbehrt. Wenn sich die Physiker und Astronomen des 19. Jahrhunderts über die Zukunft unseres Sonnensystems Gedanken machten, so dachten sie vorrangig an den möglichen "Wärmetod des Weltalls", der alles Leben auf unserem Planeten auslöschen würde. Dass das Schicksal der Erde und ihrer Bewohner einmal vom Missbrauch der in den Atomen schlummernden, vom Menschen befreiten Kräfte abhängen könnte, war undenkbar und wurde selbst von den utopischen Schriftstellern, denen es an blühender Phantasie nicht fehlte, niemals erwogen.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich Naturwissenschaft und Technik machtvoll zu entwickeln. Ihre Errungenschaften haben nicht nur die daran beteiligten Forscher und Erfinder mit Stolz erfüllt, sondern die gesamte Kulturwelt beglückt und begeistert. Ein Beleg dafür ist der Vortrag "Die Wissenschaft", den der Natur- und Kulturforscher Wilhelm Ostwald, Nobelpreisträger für Chemie, im Herbst 1911 in Hamburg auf dem 1. Internationalen Kongress des "Deutschen Monistenbundes" gehalten hat. Darin wurde die Naturwissenschaft gefeiert als "das allgewaltige Werkzeug, dem weder das Größte noch das Kleinste unzugänglich bleibt, dem die Gestirne ihre Geheimnisse nicht minder offenbaren müssen, wie die Keime des tierischen und pflanzlichen Lebens". Dieses Hohelied auf die Segnungen der Naturwissenschaften gipfelte in der Behauptung, dass der Begriff der Wissenschaft sich unwiderstehlich an die Stelle schiebe, die bisher der Gottesbegriff eingenommen habe; alles, was die Menschheit an Wünschen und Hoffnungen, an Zielen und Idealen in dem Begriff "Gott" zusammengedrängt habe, werde nun von der Wissenschaft erfüllt, die Wissenschaft sei "der Heiland, der Messias unserer Zukunft".

Diese uneingeschränkte Verherrlichung, ja Vergötterung der Naturwissenschaft und ihrer Wohltaten wurde von der geschichtlichen Entwicklung schon bald in Frage gestellt. Als drei Jahre danach in Europa der erste Weltkrieg entfesselt worden war, erfand ein Fachkollege Ostwalds, Fritz Haber, den Giftgaskampf und er bestand darauf, die Auswirkungen dieses teuflischen Missbrauchs physikalisch-chemischer Erkenntnisse für den Massenmord an den deutschen Fronten persönlich zu überwachen ...

Nationaler Taumel

Als im August 1914 der Weltkrieg entfesselt worden war, setzten 93 deutsche Geistesschaffende, unter ihnen weltbekannte Naturforscher, ihre Unterschrift unter den Aufruf "An die Kulturwelt". In diesem traurig berühmt gewordenen Zeitdokument, das dem Ansehen der deutschen Wissenschaftler und Künstler im Ausland noch lange geschadet hat, wurde versucht, die deutsche Kriegserklärung zu rechtfertigen und die völkerrechtswidrige Verletzung der militärischen Neutralität Belgiens durch den deutschen Generalstab politisch zu begründen. "Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt", hieß es in diesem von chauvinistischem Ungeist strotzenden Aufruf, der mit dem Satz schloss: "Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins."

Die Erklärung der "93" hatte in Deutschland Gegenbewegungen zur Folge, die unter den herrschenden politischen Machtverhältnissen freilich wirkungslos blieben. An erster Stelle ist hier der "Bund Neues Vaterland" zu nennen, der im November 1914 in Berlin von kriegsgegnerischen, linksbürgerlichen Intellektuellen gegründet wurde und zu dessen Förderern auch Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gehörten. Der später berühmteste Mitstreiter dieser Antikriegsorganisation war Albert Einstein.

Der Schöpfer der Lichtquantenlehre und der Relativitätstheorie, der seit April 1914 der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin als hauptamtliches Ordentliches Mitglied angehörte und sich an der Berliner Universität als Hochschullehrer betätigte, war mit antimilitaristischen Äußerungen gesprächsweise schon 1912/1913 während der von den deutschen Imperialisten angezettelten "Marokko-Krise" hervorgetreten. Nach dem Ausbruch des Weltkriegs versuchte er gemeinsam mit dem Berliner Physiologen Georg Friedrich Nicolai auch öffentlich für den Frieden zu wirken. Die beiden Forscher setzten dem völkerverhetzenden Appell "An die Kulturwelt" den völkerversöhnenden "Aufruf an die Europäer" entgegen.

In diesem von tiefer Sorge um die Zukunft Europas erfüllten Manifest wurden die Wissenschaftler der kriegführenden Länder aufgefordert, sich mit ihrem ganzen Ansehen für eine baldige Beendigung des Völkergemetzels einzusetzen und im Bewusstsein ihrer großen sittlichen Verantwortung dafür einzutreten, dass der Krieg als Mittel der Politik aus dem Leben der Völker verbannt werde. Da sich insgesamt nur vier Unterzeichner fanden, wurde auf eine Veröffentlichung des Textes verzichtet; sie wäre unter den gegebenen Verhältnissen ohnedies kaum möglich gewesen ...

Neben Einstein gab es in Deutschland nach Kriegsausbruch nur noch einen namhaften Physiker, der gegen den Krieg literarisch auftrat: Ernst Mach, der, hochbetagt und durch Krankheit behindert, seit 1913 in der Nähe von München lebte. Er brandmarkte 1915 in seinem Buch "Kultur und Mechanik" die "modernen Geldkriege" neben den Hexenprozessen des Mittelalters und den "Religionskriegen" als die "schmachvollsten Geschichtskapitel für die kommenden Generationen". Schon um die Jahrhundertwende hatte er sich in einem Nachtrag zu seinem Aufsatz "Über Erscheinungen an fliegenden Projektilen" gegen den Völkermord gewandt. In dem schönen Nachruf auf Mach, den Einstein 1916 in der "Physikalischen Zeitschrift" veröffentlichte, hat dieser nachdrücklich darauf hingewiesen, wobei er hervorhob, dass Mach der "Zeitkrankheit" jener Jahre, dem "nationalen Fanatismus", nirgends verfallen sei.

Von der Mehrzahl der Kollegen des österreichischen Physikers konnte man dies nicht behaupten. So hat Max Planck in Reden, die er als Rektor der Berliner Universität im Sommer und Herbst 1914 gehalten hat, begrüßt, dass sich das deutsche Volk am Tag der Kriegserklärung "wiedergefunden" habe. Er sprach von einer "gen Himmel lodernden Flamme heiligen Zornes" und hob rühmend hervor, dass sich Studenten und junge Wissenschaftler freiwillig und "in hellen Scharen" zum Waffendienst gemeldet hatten. Den Tod auf dem Schlachtfeld pries er als den "köstlichsten Preis", den ein junger Akademiker sich erringen könne.

Ähnlich wie Planck dachten und fühlten damals die meisten deutschen Naturwissenschaftler. So erhoffte sich Ernst Haeckel in seinem Buch "Ewigkeit" durch den Krieg eine beträchtliche Gebietserweiterung des Deutschen Reiches und Wilhelm Ostwald, der noch im Frühjahr 1914 die Antikriegsbestrebungen Bertha von Suttners unterstützt und vor einer deutschen "Überrüstung" gewarnt hatte, verherrlichte nun siegreiche U-Boot-Kapitäne und forderte als Kriegsziel ein "Europa unter deutscher Führung".

Alle diese politischen Hirngespinste brachen im November 1918 jäh und gründlich zusammen. Aber während Einstein die Niederlage des preußisch-deutschen Militarismus lebhaft begrüßte und am 11. November 1918 an seine Mutter in der Schweiz schrieb, dass er sich erst jetzt in Berlin wohlfühle, beklagte Max Planck noch 1922 in seiner Eröffnungsrede auf der Naturforscherversammlung in Leipzig, dass man "die Fürstengeschlechter entthront" habe und dass "die schimmernde Wehr zu Lande und zur See" zerbrochen sei.

Verstrickung und Widerstand

Die zwiespältige Haltung zur Frage von Krieg und Frieden kennzeichnet die meisten deutschen Naturwissenschaftler auch in den Jahren der Weimarer Republik. Mit seinen ausgeprägt antimilitaristischen Überzeugungen hatte Einstein, der sich selbst als "Friedenshetzer" bezeichnete, unter seinen akademischen Kollegen keinen Gesinnungsgenossen. Von einem organisierten Kampf der Wissenschaftler gegen Krieg und Kriegsgefahr war in der ersten deutschen Republik keine Rede. In den folgenden zwölf Jahren faschistischer Gewaltherrschaft wurden Wissenschaftler, die sich an kriegsgegnerischen Unternehmungen beteiligten, Blutzeugen ihrer humanistischen Gesinnung. Wegen "defätistischer" Äußerungen vom "Volksgerichtshof" im Mai 1944 zum Tode verurteilt, wurde der Zoologe Walther Arndt, Kustos am Museum für Naturkunde in Berlin, im Zuchthaus Brandenburg ermordet. Dass der Antifaschist und Kriegsgegner Max von Laue, der wiederholt "rassisch" verfolgten Kollegen zur Flucht verhalf und notleidende jüdische Freunde materiell unterstützte, nicht auch politisch belangt und gemaßregelt wurde, hatte er wohl nur seinem wissenschaftlichen Weltruf als einer der frühen deutschen Nobelpreisträger für Physik zu danken.

Seit der Entdeckung der Uranspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann in Berlin-Dahlem im Dezember 1938 musste befürchtet werden, dass diese neue Naturkraft in Hitlerdeutschland zu militärischen Zwecken missbraucht würde. Dies veranlasste Einstein, im Sommer 1939 in seinem Schreiben an Roosevelt anzuregen, vorsorglich die Möglichkeit der Herstellung einer Atombombe prüfen zu lassen. Da die neuartige Waffe erst nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands einsatzbereit war, wurden die ersten Atombomben im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen.

Hiroshima und Nagasaki

Mit der nuklearen Verwüstung von zwei japanischen Großstädten, mit einem Massenmord an der Zivilbevölkerung, brach das Atomzeitalter an. Führende Naturforscher und Techniker aus mehreren Ländern hatten sich mitschuldig gemacht an diesem Verbrechen. "Es war schimpflich geworden, etwas zu entdecken", schrieb Bertolt Brecht 1947 in der Schlussbemerkung zur amerikanischen Aufführung seines Stücks "Leben des Galilei".

Die Frage nach der Verantwortung des Natur- und Technikwissenschaftlers war nun in einer grundsätzlich neuen, bis dahin unbekannten Weise gestellt. Dies wurde auch von Gelehrten erkannt, die sich in früheren Jahren in politischen Dingen zurückgehalten oder geirrt hatten. So sprach Max Planck in der Neufassung seines Vortrages "Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft" 1947 von der "überaus eindringlichen Friedensmahnung" der Toten der beiden japanischen Städte für alle Völker und für die verantwortlichen Staatsmänner und er warnte vor der Gefahr einer "Selbstausrottung der gesamten Menschheit", falls in einem künftigen Krieg solche Bomben in größerer Zahl eingesetzt würden.

Der nur wenige Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkriegs beginnende Rüstungswettlauf der Nuklearmächte wurde von den Atomstrategen des Pentagon immer erneut angeheizt und vorangetrieben. Dieser verhängnisvollen Entwicklung trat vor allem die rasch an moralischem Gewicht gewinnende Weltfriedensbewegung entgegen, an deren Spitze der französische Kernphysiker und Nobelpreisträger Frederic Joliot-Curie wirkte. Sein politischer Mitstreiter und seit 1958 sein Nachfolger war der britische Kristallphysiker und Wissenschaftssoziologe John Desmond Bernal, der seine programmatischen Gedanken über den Friedenskampf 1958 in dem Buch "Welt ohne Krieg" eindringlich dargelegt hat ...

Der größte und berühmteste unter den Naturwissenschaftlern, die im Atomzeitalter für die Erhaltung und Sicherung des Friedens kämpften, war Albert Einstein... Seine letzte Handlung im Kampf gegen den Atomtod war die Unterzeichnung einer von Bertrand Russell verfassten Erklärung, die im Sommer 1955 als "Russell-Einstein-Appell" bekannt gemacht wurde und weltweite Beachtung gefunden hat.

Die "Göttinger Erklärung"

Besondere Bedeutung für die Geschichte des Ringens der Naturwissenschaftler um die Verhütung eines Kernwaffenkrieges mit seinen verheerenden Folgen kommt den Dokumenten zu, die in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre veröffentlicht wurden.

In der "Mainauer Erklärung der Nobelpreisträger" vom 15. Juli 1955, die von Otto Hahn angeregt und von insgesamt 52 Naturforschern unterschrieben wurde, heißt es abschließend: "Alle Nationen müssen zu der Entscheidung kommen, freiwillig auf die Gewalt als letztes Mittel der Politik zu verzichten. Sind sie dazu nicht bereit, so werden sie aufhören zu existieren."

Am 13. April 1957 unterschrieben in Göttingen 18 namhafte deutsche Physiker und Chemiker, unter ihnen die Nobelpreisträger Max Born, Otto Hahn, Werner Heisenberg und Max von Laue, sowie der damalige Direktor des Philosophischen Seminars der Universität Hamburg und spätere Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker ein Manifest, in dem sie sich feierlich verpflichteten, sich niemals an der Herstellung und Erprobung von Kernwaffen zu beteiligen ...

Ein Jahr später, 1958, verabschiedeten die Teilnehmer der Dritten Pugwash-Konferenz eine Erklärung, in der gesagt wird, Naturwissenschaftler, die dafür zuständig seien, Gefahren zu erkennen, die sich aus der Entwicklung ihrer Wissenschaft ergeben, seien auch mitverantwortlich für die Erhaltung des Weltfriedens, das "dringendste Problem unserer Zeit". Das Dokument wurde von 70 Gelehrten unterzeichnet, darunter auch von führenden sowjetischen Kernforschern sowie von namhaften Physikern und Chemikern aus anderen sozialistischen Ländern.

Diese Aufrufe, denen zahlreiche weitere in ähnlichem Geist gehaltene gefolgt sind, haben bis heute nichts an Gewicht und an aktueller Bedeutung verloren ...

(Aus: Verantwortung aus Wissen. Berlin 1989. S. 55-67; Zwischenüberschriften: UZ)

 
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