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Nun wollen wir uns einigen konkreten Fragen widmen. Unsere grundsätzliche Ablehnung der bürgerlichen Sexualmoral zum Ausdruck gebracht, ist doch die Frage, wie wir uns heute hier im Kapitalismus als Kommunistinnen und Kommunisten zu verhalten haben. Am Anfang von allem steht die Erkenntnis, dass wir in der bürgerlichen Sexualmoral gefangen sind. Wir müssen sie erkennen und kritisieren. Die Unterscheidung zwischen bürgerlicher und proletarischer Familienordnung greift hier zu kurz. Denn die Moral der Herrschenden ist auch bei uns noch die herrschende Moral. NOCH.

Unsere Haltung zu klassischen 2er Beziehungen

Die heterosexuelle Beziehung zwischen zwei Personen ist die vorgegebene sexuelle Beziehung zwischen Menschen in dieser Gesellschaftsordnung. In Ländern wie Deutschland ist es in großen Teilen der Bevölkerung sozial akzeptiert, dass man vorehelichen Geschlechtsverkehr betreibt. Nichtsdestotrotz geht die Konzeption der klassischen 2er Beziehungen dahin, dass man ein bißchen probieren kann, bis man den oder die „Richtige“ gefunden hat. D.h. die Person, mit der man dann eine bürgerliche Ehe eingehen wird. Die klassische 2er Beziehung ist damit die Vorform der Ehe und stellt ein Fundament der bürgerlichen Familienordnung dar.
Dürfen also Kommunistinnen und Kommunisten in klassischen 2er Beziehungen leben?

Wie Anfangs betont, stellen wir keine neue Moral auf, da wir dies ablehnen. Aber Erkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Wir haben den Anspruch, unsere Bedürfnisse soweit möglich im Kapitalismus zu erkennen und versuchen, diese auszuleben. Nun ist das Problem bei den Beziehungen, dass die bürgerliche Sexualmoral tief verankert ist. Außerdem ist es DIE Form der Geschlechtsbeziehung, die uns in dieser Gesellschaft geboten wird. Und allein die Absage an diese Beziehungsform stellt noch keine progressive Lösung dar. Außerdem ist es ja auch möglich, dass Menschen in dieser 2er Konstellation ihre Bedürfnisse befriedigen können. Wichtig ist für uns daher, den Zusammenhang dieser Beziehungsform mit der bürgerlichen Familienordnung zu erkennen und reflektiv in solchen Beziehungen – sollten Genossinnen oder Genossen sie eingehen – umzugehen. Gerade für die Frauen stellen alle eheähnlichen Beziehungskonstrukte eine besondere Einschränkung dar, die die GenossInnen kritisch hinterfragen müssen. Daran muß gearbeitet werden.

Unsere Haltung zur Ehe

Ähnlich ist unsere Haltung zur bürgerlichen Ehe. Viele Ehen werden aufgrund der materiellen Anreize wie Steuervergünstigungen geschlossen. Aber immer noch ist die bürgerlichen Ehe als ideologisches Fundament in der Arbeiterklasse weit verbreitet. Hier wirkt die bürgerliche Sexualmoral stark.
Wir können niemandem vorwerfen, seine materielle Situation mittels einer Eheschließung verbessern zu wollen. Gegen idealistische Ehevorstellungen gehen wir natürlich vor. Aber auch hier muss die Situation der Ehefrauen besondere Berücksichtigung finden. Es kann nicht angehen, dass Ehen von GenossInnen die Frauen in besondere Abhängigkeit bringen.

Es kann nicht angehen, dass Kommunisten am abend unter der Bettdecke keine mehr sind. Es kann nicht angehen, dass sich Kommunisten zu Hause von ihrer Frau bekochen lassen und den Haushalt machen lassen. Kommunist sein, heißt eine bestimmte zukunftsgewandte Lebenseinstellung zu haben und diese auch zu praktizieren.

Dürfen KommunistInnen eine Familie gründen?

Derzeit ist es so, dass die vorgegebene Organisationsform beim Kinderkriegen die Familie mit der bürgerlichen Ehe ist. Gerade für Frauen bedeutet Alleinerziehen immer sozialer Abstieg – sowohl materiell als auch im sozialen Umgang. Wir vertreten keinen Kommunegedanken. Wir wissen, dass eine wirklich neue Gesellschaftsstruktur nur im Sozialismus aufgebaut werden können. Wir haben aber die Pflicht als Kommunistische Organisation, langfristig Strukturen zu schaffen, in denen auch Menschen, die NICHT in der vorgegeben bürgerlichen Familienordnung leben, aufgefangen werden.

In der KPD/ML in den 70er Jahren wurde zum Beispiel die Kinderbehütung von der Organisation übernommen, damit möglichst viele GenossInnen an politischen Aktionen teilnehmen können. Das setzt natürlich einen gewissen Grad der Bewegung voraus, den wir derzeit noch nicht haben. Fakt ist aber, dass Kinder von GenossInnen auch der Verantwortung der Organisation unterliegen. Wir kümmern uns ja auch um GenossInnen, die in finanziellen, psychologischen oder sogenannt persönlichen Problemen stecken. Das Private ist politisch.

Unsere Haltung zur Rolle des Sexes

Sexualität bei Menschen ist nicht in erster Linie für die Fortpflanzung da. In den meisten Fällen dient Sexualität einzig der Lustbefriedigung. Sexualität ist nichts Schlechtes, im Kommunismus werden die Menschen wieder wirkliche Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse erfahren.

Unsere Haltung zu Inzest

Da wir die Lustsexualität als dominante Form des Sexes begreifen, ist es nur konsequent, dass für uns ein Verbot der Geschwisterliebe nicht in Frage kommt. Auch hier gilt die Prämisse, dass es nicht an uns ist, die Bedürfnisse der Menschen festzulegen. Hinzukommt, dass Bedürfnisse – sind sie vorhanden – auch irgendwie ausgelebt werden. Verbote können menschliche Bedürfnisse nicht unterdrücken. Ein Verbot des Inzest wie im §173 Strafgesetzbuch kommt für uns im Sozialismus nicht in Frage.

Unsere Haltung zu Polygamie und Polyamie

Menschheitsgeschichtlich haben die Menschen meisten polygam und polyam gelebt. Polygam heißt, dass ein Mann viele Frauen hat; Polyam heißt, dass eine Frau viele Männer hat. Wir weiten die Definition selbstverständlich auch auf homosexuelle Partnerschaften aus.
Wir sind natürlich für diverse Beziehungsformen offen. Ein Verbot der Doppelehe wie in § 172 Strafgesetzbuch ist für uns im Sozialismus nicht denkbar.

Wir machen auch nicht die Aussage, dass alle Menschen polygam oder polyam leben werden. Es wird an ihnen sein, dies festzulegen. So händeln wir das auch heute. Wir Kommunistinnen und Kommunisten sind keine bürgerlichen Sexualprediger. Solange alle beteiligten Menschen freiwillig teilnehmen, ist es an ihnen, ihre Sexualität in der für sie bevorzugten Form auszuleben.
Wir sehen natürlich das Problem, das moralisch konstruierte Bedürfnisse oder auch ihre Ausflüsse, die Perversionen, scheinbare Bedürfnisse sein können. Da sind wir aber nicht in der Lage, Maßregeln festzulegen. Die Bedürfnisse, die ausgelebt werden wollen, sollen es auch.

Unsere Haltung zur Homosexualität

Bei allen erkämpften Freiräumen der homosexuellen Bewegung existiert die Diskriminierung der Homosexualität weiter – sowohl offen als auch verdeckt. Es ist hier unsere Aufgabe aufzuzeigen, dass die Homosexualität der bürgerlichen Sexualmoral widerspricht. In unserer Bewegung müssen wir gegen homophobe Tendenzen vorgehen. Homophobie ist die Angst vor gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten; nicht nur bei sich selbst selbst, sondern auch die Existenz der Homosexualität als solche. Wir müssen die Genossinnen und Genossen in dem Weg für ihre sexuelle Identitätsfindung unterstützen. Wir müssen die fortschrittlichsten Teile der heterogenen homosexuellen Bewegung gewinnen, denn es kann keine sexuelle Befreiung ohne sexuelle Revolution geben.
Gerade die lesbische Bewegung muss für uns besonderes Augenmerk finden, denn ganz im Sinne der Unterdrückung der Frau hat die lesbische Bewegung weit weniger soziale, rechtliche, und finanzielle Freiräume erkämpft als die schwule Bewegung.

Unsere Haltung zur Bi- und Transsexualität

Die Bi- und Transsexuellen sind noch weit mehr diskriminiert als die Homosexuellen. Den Bisexuellen wird oft eine verkappte Heterosexualität unterstellt und sie stehen im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den Stühlen.
Gerade bei Transsexuellen ist die pathologische Erklärung ein noch sehr gängiges Modell.
Besonders hier ist es unsere Aufgabe, die Individualität der menschlichen sexuellen Bedürfnisse darzustellen.

Unsere Haltung zur Eifersucht

Eifersucht ist die anerzogene Moralvorstellung zur Aufrechterhaltung der bürgerlichen Sexualmoral. Sie ist das Eigentumsdenken bezüglich anderer Menschen. Diese müssen wir bekämpfen. Wir können keiner/m GenossIn vorwerfen, wenn sie eifersüchtig ist, denn wir sind hier sozialisiert. Aber wir können erwarten, dass wir uns kollektiv und individuell mit diesem bürgerlichen Laster auseinandersetzen und versuchen, die Eifersucht so weit als möglich abzubauen. Wir sind für die Befreiung der Menschheit. Eigentum und Besitz an Menschen lehnen wir ab.

Unsere Haltung zum „fremdgehen“

Zunächst einmal lehnen wir den Begriff fremdgehen ab. Denn er impliziert, dass die Person, die mit einer anderen Person eine Beziehung eingeht, sein/ihr eigen ist. Nur dann kann man ja fremdgehen.
Wir verurteilen es nicht, wenn Menschen ihre sexuellen Bedürfnisse ausleben. Es ist aber auch nicht fortschrittlich, in der Gegend rumzupoppen, genauso wie es nicht fortschrittlich ist, eine Ehe einzugehen. Wir sind aber keine Moralapostel zur Verfechtung einer Seite der bürgerlichen Sexualmoral. Insofern paßt der Satz: Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Wir sagen ja auch nicht, dass es fortschrittlich ist, sich der Lohnarbeit hinzugeben. Das sind erst einmal einfach die gesellschaftlichen Strukturen, die uns diese Form des Lebens aufdrücken. Die Menschen, die ihre sexuellen Bedürfnisse mehr ausleben, sind wahrscheinlich mehr befriedigt, als die Menschen, die ihre sexuellen Bedürfnisse fast ganz unterdrücken – wie das bei den meisten Frauen der Fall ist.

Unsere Haltung zur Pornographie

Wir sind keine asexuellen Menschen. Wir müssen bei sexuellen Filmen differenzieren. Natürlich ist es ok, wenn jemand optische Reize benutzt, um sich sexuell zu befriedigen. Wenn dabei jedoch die Frau herabwertend behandelt wird, ist es Teil bürgerlicher Sexualmoral, gegen die wir vorgehen müssen. Denn auch Filme fördern das herrschende Bewußtsein.
Mit gleicher Kritik müssen wir jedoch dagegen vorgehen, wenn reaktionäre Filme im nicht-sexuellen Bereich geguckt werden (z.B. Kriegsfilme). Da besteht für unskein Unterschied. Wir sind als Kommunisten die Sexualität Befürwortende und nicht verklemmt.

Unsere Haltung zu Beziehungen mit großen Altersunterschieden

Sollen wir es ablehnen, dass eine junge Frau mit einem alten Mann zusammen ist? Oder ein junger Mann mit einer alten Frau? Oder ein junger Mann mit einem alten, eine junge Frau mit einer alten? Problematisch hieran ist, dass zum Teil Vaterkomplexe o.ä. eine Rolle bei dieser Partnerwahl spielen. Aber psychische Störungen sind auch bei anderer Partnerwahl eine nicht unerhebliche Rolle. Dieses am Alter festzumachen, halten wir für falsch und moralisch vorbelastet. Gegen diese Diskriminierung müssen wir also vorgehen.

Unsere Forderung: Für die Politisierung der sexuellen Frage!

Unsere Aufgabe ist es, ein Klima zu schaffen, in dem wir in der Lage sind, unsere WIRKLICHEN Bedürfnisse so weit als hier möglich herauszufinden und so weit wie hier möglich auch zu leben. Gerade bei Frauen müssen wir da ansetzen, da wir hier mehr Zwängen unterworfen sind.

Wir müssen die Tabuisierung der Sexualität überwinden. D.h. auch, dass auf unseren politischen Treffen ein Klima herrschen muss, wo über Fragen dieser Art diskutiert werden kann. Dabei wollen wir nicht in das bürgerliche Geschwätz über Sexualität einsteigen. Wir müssen diese Diskussionen politisch führen. Insofern hatte Lenin auch in dem bekannten Gespräch mit Clara Zetkin recht, als er die verflachten Diskussionen der deutschen Kommunistinnen und Kommunisten über Sexualität kritisierte.

Die sexuelle Kampffront wird viele Kräfte freisetzen

Viele mögen jetzt einwenden, ist ja schön und gut, aber wir haben so viele ungelöste Aufgaben. Warum beschäftigt ihr euch gerade mit der sexuellen Frage? Gibt es nichts Wichtigeres?
Natürlich ist die sexuelle Frage nur ein Bereich unseres Kampfes für den Sozialismus. Aber wir dürfen nicht vergessen, das die Frage der Befreiung der Frau unmittelbar an die sexuelle Frage geknüpft ist und diese eine unserer wichtigsten Aufgaben ist.

Außerdem sind wir auch der Ansicht, wenn Bedürfnisse unterdrückt werden, diese Hemmung den Gesamtorganismus beeinflusst. Wer hungert, kann schlechter politisch arbeiten. Wer seine sexuellen Bedürfnisse nicht annähernd ausleben kann, ist gehemmt.

Der Kampf für die sexuelle Befreiung kann ein Hebel zur Freisetzung politischer Energien werden.

 
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  Kommentar zum Artikel von secarts:
Samstag, 21.04.2007 - 02:55

@Alex:

Ja, schon klar... mir war schon bewußt, was du meinst. Ich wollte nur nochmal darauf aufmerksam machen, dass unser heute üblicher Begriff von "privatem Leben" - und der "privaten Sexualität" als Teil davon - eben insofern neu ist, als dass es diesen im Feudalismus noch gar nicht gab... Sexualität war dort eben keine "Privatsache", weil es die Kleinfamilie als Spielraum für "privates Leben" noch nicht gab. So zumindest habe ich die von dir kritisierte (und tatsächlich etwas schwammig formulierte) Stelle im Artikel verstanden - und so ergibt's auch Sinn.

Und: Kapitalismus ist nicht automatisch bürgerliche Demokratie mit libertinären Freizügigkeiten. Auch im Kapitalismus kann es krasseste, unverhüllteste Formen moralischer, religiöser, justizieller etc. Unterdrückung geben - und gab es zu den allermeisten Zeiten auch.


  Kommentar zum Artikel von 127712:
Freitag, 20.04.2007 - 21:41

Ich wollte lediglich anmerken, dass die Aussage, ein Reglement des Geschlechtsverhältnisses gäbe es erst im Kapitalismus (und das steht definitiv so da), falsch ist, und warum. Dabei geht es mir nicht um die verschiedenen Formen (juristisch, moralisch, religiös etc.) sondern um den Inhalt.

"Ganz klar: als Frau lebt es sich...definitiv angenehmer im Spätkapitalismus unter bürgerlich demokratischer Prägung als z.B. im alten Athen. " - secarts

Darauf wollte ich eigentlich hinaus.


@Hardcore: Das "[sic!]" wird bei Zitaten angefügt, um darauf hinzuweisen, dass eventuelle orthografische, grammatikalische oder inhaltliche Widersprüche bereits im Original vorhanden waren.


  Kommentar zum Artikel von 127757:
Freitag, 20.04.2007 - 19:17

eine höchst spannende Diskussion!

@Alex:
was soll das [sic]?


  Kommentar zum Artikel von RO:
Freitag, 20.04.2007 - 18:54

Lieber Genosse Alex,
die Frage der Reglementierung in der bürgerlichen Gesellschaftsordnung ist offensichtlich mißverstanden worden. Es geht uns nicht darum zu behaupten, es hätte keine Unterdrückung der Frau in anderen Klassengesellschaften gegeben. Sicherlich ist die Unterdrückung der Frau mit Übergang von der Ur- zur Klassengesellschaft aufgekommen. Das ist aber nicht unser Punkt gewesen. Die gesetzliche Fassung von dem, was Menschen wie und warum unter der Bettdecke machen sollen oder nicht, ist in der Form vorher nicht vorhanden gewesen. So schreibst ja auch Du, dass es "Sitte" war, die Frau auch Gästen "zur Verfügung" zu stellen.

Wenn wir aber von befreiter Sexualität sprechen, meinen wir damit auch, dass eine Normierung in diesem Bereich höchst problematisch ist, denn die Bedürfnisse wollen wir gerade nicht mehr steuern - unabhängig von der Frage, inwieweit sie steuerbar sind.

Dabei ist auch die Frage der Genossen umfasst, was mit Vergewaltigung etc. ist. Diese sind ja Ausdruck von machtverhältnissen, ihre Widerspiegelung und insofern bei der Befreiung der Menschen von der Unterdrückung durch den Menschen sicherlich nicht mehr in der Form vorhanden und denkbar.

Also noch mal im Klartext: die rechtsphilosophische Auffassung, alles juristisch regeln zu können und zu müssen, ist etwas menschheitsgeschichtlich gesehen relativ Neues. Wenn wir der Meinung sind, dies wäre etwas im Rahmen der Negation der Negation Erhaltenswürdiges, müsste ein wenig mehr Begründung erfolgen, als der Fakt, dass dies in Cuba verboten oder in der SU der 20er Jahre nicht verboten war.

Also noch mal: wovor wollen wir die Menschen mit einem Inzest-Verbot schützen?


  Kommentar zum Artikel von secarts:
Freitag, 20.04.2007 - 15:58

@Alex:

Naja, zum Teil gebe ich dir Recht; zum Teil vermute ich, dass du etwas schief liegst - oder möglicherweise die Intention des Textes mißverstanden hast: die Trennung des "Privaten", also des abgeschirmten Bereichs einer typischen Kleinfamilie (2 Generationen) ist definitiv eine Innovation der kapitalistischen Phase. Und um die geht es. Familienstrukturen sowohl in der Sklavenhalter- als auch in der Feudalepoche unterscheiden sich ganz grundsätzlich vom heutigen Familienverständnis (du schilderst es ja sehr gründlich). In solchen Großverbänden mit i.d.R. 15 Personen oder mehr konnte die Reglementierung des Einzelnen nicht dergestalt funktionieren, wie es der Kapitalismus perfektioniert hat: die typische, kapitalistische Kleinfamilie, bestehend aus Vater (verlängerter Arm der staatlich/gesellschaftlichen Autorität und Repräsentant eben jener Autorität in der Familie), Mutter (als Sicherstellerin der häuslichen Reproduktionsfähigkeit) und 1 bis 2 Kindern (Garanten des Klassenerhalts und Altersversorgung). Eben jene Kleinfamilie ist die Keimzelle der Gesellschaft; alle gesellschaftlichen Widersprüche spiegeln sich also auch in der Kleinfamilie mehr oder weniger direkt wieder.

Ein Teil davon ist die - zeitlich definitiv in den Beginn des Frühkapitalismus fallende - Tabuisierung des Sexuellen: begonnen hat das mit der beinahe hysterischen, absolut irrationalen Onanieangst, die sich synchron zur Etablierung der kapitalistischen Kleinfamilienstruktur durchsetzte - und nicht nur ganze Bibliotheken pseudowissenschaftlicher Literatur, sondern auch Garnisionen merkwürdigster Threrapien für ein gänzlich unschädliches Verhalten auf den Markt schwemmte: von Wechselgußkuren über bizarre Apparaturen, die Kinder des Nachts tragen mussten, um Rückenmarksschwund und ähnlich grausamen - herbeiphantasierten - Folgen der Onanie vorzubeugen... Die Liste ist noch weitaus länger: übertriebene Sauberkeitserziehung, neurotische Fixierung auf frühkindliche Körperfunktionen (Ess- und Fäkalfunktionen), sog. Schlank- und Schönheitswahn, etc, etc, etc...

Den Zusammenhang zwischen derartiger sexueller Reglementierung und charakterlicher Deformierung des Menschen hat Freud enthüllt, freilich nur bei sehr begrenzten Teilen der bürgerlichen Klasse. Reich z. B. widmete sich in seinem Frühwerk stärker den Auswirkungen derartiger antisexueller Deformation im Kleinbürgertum und Proletariat. Fazit: die derartig - unter Tabuisierung und Verbiegung des Sexuellen stattfindende - Charakterbildung ist eine Grundbedingung für das Funktionieren des Menschen in einer hochabstrakten, maximal entfremdeten Welt wie der des Kapitalismus. Spitz formuliert: sexuell ausgeglichene Menschen mit vollentwickelter orgastischer Erlebnis- und Genußfähigkeit tun sich schwer, acht Stunden am Fließband zu stehen. Die dafür geeigneten, verklemmten, zwangsneurotischen Buchhaltertypen und Krämerseelen werden durch Sexualdeformation geprägt - inklusive all ihrer Spätfolgen wie Neurosen, Zwangsverhalten, sadistischer Charakterstruktur usw... Eine kranke Gesellschaft erzeugt kranke Menschen.

"Wenn die bürgerliche Gesellschaft hier etwas verändert hat, dann hat sie die strengen und unmenschlichen moralischen und juristischen Einschränkungen der Frau aufgeweicht."
Das ist mir zu linear gedacht. Hat denn der Kapitalismus auch die Ausbeutung "aufgeweicht", weil er den Arbeiter zum doppelt freien Lohnarbeiter macht? Sicher nicht - die Ausbeutung funktioniert weniger offen, weniger direkt - mit Gewalt - erzwungen, dafür aber umso effektiver, weil schwerer erkennbar. Aus diesem Verhältnis leiten wir den Nebenwiderspruch der Unterdrückung der Frau durch den Mann ab. Dialektisch betrachtet kann also die Unterdrückung schon deshalb, weil Ausbeutung besteht, kaum verschwunden sein (da sind wir uns sicher einig) - sie hat also nur andere Formen angenommen. Ebenso wie dem doppelt freien Lohnarbeiter der kap. Epoche der Gang zum Gericht freisteht, oder auch die Arbeitsverweigerung und selbst das revolutionär neue Recht auf Verhungern (was ein Fortschritt ist!); ist auch die Frau dem Manne vor dem Gesetz gleichgestellt. Das ist eine Grundbedingung für die kommende Befreiung (weil der ökonomische Tatbestand der Unterdrückung offengelegt wird und nicht mehr hinter formaljuristischen Hürden verborgen ist), selbst aber noch nicht befreiend. Ganz klar: als Frau lebt es sich - aus heutiger Sichtweise betrachtet - definitiv angenehmer im Spätkapitalismus unter bürgerlich demokratischer Prägung als z.B. im alten Athen. Aber auch im Kapitalismus kann es Rückfälle in (mithin vorkapitalistische) Formen der Unterdrückung geben. Faschismus zum Beispiel, in dem die Frau wiederum an den Herd gekettet und erneuter juristischer und moralischer Unterdrückung unterworfen ist. Der Kapitalismus selbst weicht also noch gar nichts auf; er erzeugt jedoch - in seiner höchsten Entwicklungsstufe, der bürgerlich-demokratischen Herrschaftsform - die Vorraussetzung für Befreiung.


  Kommentar zum Artikel von 127712:
Freitag, 20.04.2007 - 13:32

"Überhaupt ist die Reglementieren des privaten, sexuellen Lebens nicht allen Gesellschaftsordnungen eigen, sondern mit dem Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft ausgekommen [sic!]. Das ist also durchaus auch etwas spezifisch kapitalistisches." - roteroktober

Das soll wahrscheinlich aufgekommen heißen. Dann jedenfalls ist es eine völlige Verdrehung von Tatsachen, denn man denke doch mal bitte an die Sklavenhaltergesellschaft zurück, als die Frau zur reinen Haussklavin degradiert war und teilweise nichtmal ohne "Bewachung" (sprich: Überwachung) das Haus verlassen durfte. Im alten Griechenland z.B. bestand die schöne Sitte dem über Nacht bleibenden Gast nicht nur ein Bett, sondern auch die eigene Frau zur Verfügung zu stellen. Daneben holte man sich aus Eroberungszügen dann noch ein paar Lustsklavinnen ins Haus. Im Feudalismus wird's kaum besser; im christlich dominierten Europa stand auf Unkeuschheit der Frau oft genug die Todesstrafe, zumindest aber der soziale Ruin.

Wenn die bürgerliche Gesellschaft hier etwas verändert hat, dann hat sie die strengen und unmenschlichen moralischen und juristischen Einschränkungen der Frau aufgeweicht.


  Anmerkung vom Autor dieses Artikels roteroktober:
Donnerstag, 19.04.2007 - 19:50

Wir denken, die Frage mit dem Inzest-Verbot kann auch noch mal anders betrachtet werden, nämlich von dem Gesichtspunkt, welche Rolle überhaupt die Gesetzgebung in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung spielen soll. Wir sind wahrscheinlich einer Meinung, dass sich Recht in der kommunistischen Gesellschaft (oder deren zweiten, höheren Phase, also die klassenlose Gesellschaft) ausschließt. Der Sozialismus soll den Weg dahin bereiten, und die erste und wichtigste Aufgabe ist dabei die Garantierung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Bei Fragen des sozialen Miteinanders sollten wir sehr vorsichtig sein, unsere auch von der alten kapitalistischen Gesellschaftsordnung geerbten "Moral"Vorstellungen in Gesetzesform zu adaptieren, da gerade die erste Generation der sozialistischen Gesellschaftsordnung noch wenig Vorstellungsvermögen darüber haben mag, wie die Bedürfnisse in diesem Gebiet des "befreiten Menschen" aussehen kann. Überhaupt ist die Reglementieren des privaten, sexuellen Lebens nicht allen Gesellschaftsordnungen eigen, sondern mit dem Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft ausgekommen. Das ist also durchaus auch etwas spezifisch kapitalistisches.

Also ganz provokativ gefragt: Sollen wir also den Überwachungswahn der bürgerlichen Gesellschaftsordnung im Sozialismus übernehmen? Und seit wann ist es Aufgabe der Diktatur des Proletariats, die ArbeiterInnen vor sich selbst zu schützen? Sollten wir nicht unser Augenmerk auf die Überreste der herrschenden Klasse richten statt unter die Bettdecke der befreiten Menschen zu gucken (und dabei Gefahr laufen, eine neue Unterdrückermoral zu etablieren)?


  Kommentar zum Artikel von secarts:
Mittwoch, 18.04.2007 - 14:31

@RO:

"Die Frage ist ja auch grundsätzlich, ob man Sexualität bzw. bestimmte Formen legalisieren oder illegalisieren kann."

Hier beginnt natürlich eine Definitionsfrage - speziell in Bezug auf die zu Recht verbotenen Formen bzw. Abirrungen in der Sexualität; insb. Kinderpornographie, Pädophilie, "Snuff" und so weiter (generell für mich alle Formen, bei denen andere irgendwie geschädigt werden und nicht von einer freien Übereinkunft zwischen gleichberechtigen Partnern gesprochen werden kann) ... handelt es sich dabei überhaupt noch um Sexualität, oder ist das Kriminalität mit sexuellem Einschlag... Wie dem auch sei - selbstverständlich ist hier Illegalisierung nötig. Und die Hoffnung, dass dererlei Formen von moral insanity im Sozialismus schnellstmöglich absterben. Erfahrungen hierzu gibt es jedoch noch keine, die zur Beantwortung der Frage ausreichen würden. Auch hier: Sein bestimmt das Bewußtsein; doch beide gehen nicht unbedingt synchron. Und deswegen muss natürlich auch im Sozialismus gegen solche Fälle hart durchgegriffen werden, solange sie vorkommen.


  Kommentar zum Artikel von secarts:
Mittwoch, 18.04.2007 - 13:47

@Commandante:

dann nenn doch bitte mal einen Grund, warum Inzest verboten werden (resp. verboten bleiben, denn die bürgerliche Sexualmoral hat das Verbot ja bereits gut durchgesetzt) sollte... dass es in Cuba so ist, reicht mir da alleine nicht aus - in der UdSSR unter Lenin wurde das Verbot schließlich, wie gesagt, auch schon mal aufgehoben.
Alleine mit sozialistischem Erfahrungsaustausch werden wir kaum zur Antwort kommen, wie wir in den imperialistischen Metropolen 1) heute um bürgerlich-demokratische Rechte kämpfen müssen und 2) im Sozialismus zu arbeiten haben.


  Kommentar zum Artikel von Comandante:
Mittwoch, 18.04.2007 - 13:44

@ro

du sprichst von der höheren phase des kommunismus, deinen vorschlag zur legalisierung von inzest willst du aber wahrscheinlich im sozialismus durchsetzen. und in diesem bin auf jedenfall dafür, dass inzest verboten bleiben sollte. in kuba, dem sich am meisten dem sozialismus näherndem land der welt (meine bescheidene meinung), ist inzest ebenfalls verboten.


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