Als die deutschen Kommunistinnen und Kommunisten in den 20er Jahren an der Basis die sexuelle Frage diskutierten, kritisierte Genosse Lenin sie. Wir teilen diese Kritik, denn vielfach war die Diskussion flaches Geschwätz. Außerdem ist die Frage berechtigt, ob die deutschen KommunistInnen Ende der 20er Jahre Zeit für diese Thematik hatten. Statt diese Kritik jedoch produktiv umzusetzen, hüllt sich die kommunistische Bewegung seit jener Zeit bezüglich der sexuellen Frage in Schweigen. Dabei ist die Frage der sexuellen Befreiung ein wesentlicher Bestandteil der Frage der Befreiung der Frau, die wiederum notwendig für unsere soziale Befreiung ist. Schlimmer noch, die kommunistische Bewegung verficht zum Teil die bürgerliche Sexualmoral und befürwortet damit die uns vorgegebene Doppelmoral. In dieser Broschüre wollen wir mit der bürgerlichen Sexualmoral brechen. Und der erste Schritt ist hierfür die Kritik. Die Broschüre umfaßt zwei Aufsätze. Der erste „die sexuelle Kampffront eröffnen“ beschäftigt sich mit unserer Haltung zu den Grundpfeilern der bürgerlichen Familienordnung, der erzwungenen Monogamie. Er beschreibt einzelne Erscheinungsformen der bürgerlichen Sexualmoral und unsere Haltung hierzu. Wir sind der Meinung, dass auch das Private politisch ist. Insofern müssen wir auch anfangen, unser persönliches Leben im Hinblick auf unser sexuelles Leben kritisch zu hinterfragen und kommunistisch zu ändern. Im zweiten Aufsatz setzen wir uns mit den reaktionären Anschauungen der Gruppe Neue Einheit zur Homosexualität auseinander. Die Gruppe vertritt sicherlich besonders krasse Meinungen, die nicht repräsentativ für die kommunistische Bewegung sind. Dennoch zeigt sich hieran, warum wir Kommunistinnen und Kommunisten in der sexuellen Bewegung einen so schlechten Ruf haben. Auch die Tatsache, dass auf die diskriminierenden Pamphlete der Gruppe Neue Einheit nicht wesentlich reagiert wurde, zeigt, dass die sexuelle Frage unter uns Marxisten-LeninistInnen nicht hinreichend beziehungsweise falsch behandelt wird. Wir hoffen, durch diese Broschüre eine Diskussion anregen zu können. Für die sexuelle Befreiung!
www.secarts.org druckt die Broschüre "die sexuelle Kampffront eröffnen" der Organisation Roter Oktober mit freundlicher Genehmigung in drei Teilen ab. [Anm. d. Red. secarts.org]
Wer hätte das gedacht, die Kommunisten reden über die sexuelle Frage. In der Bewegung eher für Spießbürgertum und Wertkonservativismus bekannt, wagen wir es nun, zum Kampf für unsere sexuelle Befreiung aufzurufen. Damit wollen wir auch allen denjenigen revisionistischen Kräften innerhalb der kommunistischen Bewegung eine Absage erteilen, die die bürgerliche Sexualmoral im Namen der Befreiung der Menschheit für sich beanspruchen. Die Entfremdung des Menschen vom Menschen hat viele Gesichter. Nur zu bekannt ist die Entfremdung durch die kapitalistische Ausbeutung, durch die Arbeit in dieser Gesellschaftsordnung. Eine Seite dieser Ausbeutung ist aber auch die gnadenlose Unterwerfung sexueller Bedürfnisse unter die Interessen kapitalistischer Profitmaximierung. Sicherlich, die Unterdrückung der Sexualität hat ihren Beginn weit früher. Nämlich in der Entstehung der Monogamie beim Übergang von der klassenlosen zur Klassengesellschaft. Wir wollen uns aber heute und hier auf die bürgerliche Sexualmoral beschränken und unsere Haltung zu einzelnen Erscheinungen darstellen.
Unsere Haltung zur Moral
Dabei muss zunächst geklärt werden, was wir unter Moral verstehen. Moral wird definiert als ein System von auf Tradition, Gesellschaftsform, Religion beruhenden sittlichen Grundsätzen und Normen, das zu einem bestimmten Zeitpunkt das zwischenmenschliche Verhalten reguliert. Mit unseren Worten heißt das, ein den menschlichen Bedürfnissen aufoktroyrter Sittenkodex zur Gewährleistung der bestehenden Klassengesellschaft. Damit ist die Moral ein Teil der herrschenden Ideologie.
Eine Moral kann es also im Kommunismus nicht geben. Schon Marx und Engels äußerten sich diesbezüglich eindeutig im Manifest der Kommunistischen Partei: „Die Ideen der Gewissens- und Religionsfreiheit sprachen nur die Herrschaft der freien Konkurrenz auf dem Gebiete des Wissens aus. „Aber“, wird man sagen, „religiöse, moralische, philosophische, politische, rechtliche Ideen usw. modifizieren sich allerdings im Lauf der geschichtlichen Entwicklung. Die Religion, die Moral, die Philosophie, die Politik, das Recht erhielten sich stets in diesem Wechsel. Es gibt zudem ewige Wahrheiten, wie Freiheit, Gerechtigkeit usw., die allen gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam sind. Der Kommunismus aber schafft die ewigen Wahrheiten ab, er schafft die Religion ab, die Moral, statt sie neu zu gestalten, er widerspricht also allen bisherigen geschichtlichen Entwicklungen.“ Worauf reduziert sich diese Anklage? Die Geschichte der ganzen bisherigen Gesellschaft bewegte sich in Klassengegensätzen, die in den verschiedenen Epochen verschieden gestaltet waren. Welche Form sie aber auch immer angenommen, die Ausbeutung des einen Teils der Gesellschaft durch den andern ist eine allen vergangenen Jahrhunderten gemeinsame Tatsache. Kein Wunder daher, daß das gesellschaftliche Bewußtsein aller Jahrhunderte, aller Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zum Trotz, in gewissen gemeinsamen Formen sich bewegt, in Bewußtseinsformen, die nur mit dem gänzlichen Verschwinden des Klassengegensatzes sich vollständig auflösen.“ [Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, ME Ausgewählte Werke in 6 Bänden, Bd. I, S. 436]
Im Sozialismus, der Diktatur des Proletariats als Übergangsgesellschaft, ist eine sozialistische Moral natürlich nicht ausgeschlossen.
Die bürgerliche Sexualmoral ist eine unserer härtesten Gegner
Unser Ansatzpunkt, die bürgerliche Sexualmoral zu kritisieren, ist ein schwieriges Unterfangen. Wir brauchen uns nicht einzubilden, dass wir Kommunistinnen und Kommunisten davon frei wären, genauso wenig, wie wir uns endgültig von anderen Formen kapitalistischer Ideologie lösen können. Und doch gibt es noch einen Aspekt, der die bürgerliche Sexualmoral tiefer sitzen läßt, der erklärt, warum wir uns immer noch scheuen, die Frage in unser Programm aufzunehmen: „Wir sind in Familien aufgewachsen und sind im kapitalistischen System aufgezogen worden. Man wird nun einwenden, es sei ein großer Unterschied, zwischen proletarischen und bürgerlichen Familien. So einfach liegt die Sache nicht. Wir müssen erst fragen, in welcher Hinsicht die proletarischen Familie proletarisch und in welcher sie gut bürgerlich ist. Wir brauchen nicht lange nachzudenken, um die Antwort herauszubekommen; es genügt, wenn wir die einzelnen Elemente der Lebens- und Denkweise gesondert betrachten. Haben wir uns von der bürgerlichen Eigentumsideologie freigemacht? Ja, weitgehend, weil in den Besitzverhältnissen ein scharfer Unterschied ist zwischen Bürger- und Arbeiterfamilien. Haben wir uns von der Religion ganz freigemacht? Es gibt tausende proletarischer Familien, die religiös sind, und je weiter wir in das kleinbürgerliche Proletariat vordringen, desto tiefer sitzt die Religion. Und wie ist es mit der Sexualmoral? Ist sie nicht in der Eigenheit der Familie selbst verwurzelt, die auch der Proletarier infolge der Lebensverhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft zu gründen gezwungen ist? Gehört nicht die sexuelle Unterdrückung und die Einpflanzung der bürgerlichen Sexualmoral wie wir das ja schon früher begründet haben, zum Bestand der bürgerlichen Ehe und Familie? Gewiß, die Widersprüche zwischen der Lebensweise des Arbeiters und der bürgerlichen Familienmoral, der er unterworfen ist, sind sehr groß; es sind Widersprüche, die in der mittleren und höheren Bourgeoisie fehlen; aber diese bürgerliche Sexualmoral ist doch im Proletariat vorhanden; sie ist von allen bürgerlichen Ideologien am tiefsten verankert, weil sie von frühester Kindheit an am stärksten eingepflanzt wurde. Sie ist eine der mächtigsten ideologischen Stützen des Bürgertums innerhalb der unterdrückten Klasse. Wir sehen es täglich und stündlich, daß sich auch die klassenbewußten Jugendlichen von ihr am allerschwersten freimachen können. Die bürgerliche Sexualmoral, deren wesentlichstes Stück ist, das Sexualleben nicht natürlich, selbstverständlich, im klaren Zusammenhang mit der jeweiligen Gesellschaftsordnung zu sehen, es zu verneinen, Scheu und Angst davor zu haben, steckt uns Kommunisten viel tiefer in den Knochen als wir alle glauben.“ [Wilhelm Reich, Der sexuelle Kampf der Jugend, S. 71f.] Die Tatsache, dass wir Wilhelm Reich zitieren, heißt nicht, dass wir uns auf sein Leben und Wirken ausschließlich positiv beziehen.
Aufgrund der Verankerung der bürgerlichen Sexualmoral ist erklärlich, dass bis heute in der kommunistischen Bewegung Positionen Bestand haben können, die ganz im Widerspruch zu unserer sonstigen zukunftsgewandten Einstellung stehen. So gibt es die Position, die Ehe zwischen Revolutionären sei eine revolutionäre Ehe; oder die Monogamie sei legitim, wenn sie beiderseits gelebt wird und das sogenannte Fremdgehen sei Ausdruck der Unterdrückung der Frau; die „wahre Liebe“ (im Sinne von einer/m PartnerIn, die man nur finden müsse) wäre etwas, was wir für alle Menschen anstreben; oder auch die Position, dass die Liebe fester Bestandteil der Sexualität sein müsse bis hin zu der Einstellung, Homosexualität sei pathologisch usw. usf.
Wie sieht Sexualität im Kommunismus aus?
Wer dem Vorhergesagten zur Moral gefolgt ist, wird die Antwort schon erraten können: wir wissen es nicht. Und wir werden uns hüten, mit unserer kapitalistischen Sozialisation Hirngespinste zu entwickeln, was die Bedürfnisse eines kommunistischen Menschen sein werden. Würden wir dies tun, kämen entweder Absurditäten heraus (wir erinnern an Paradiesbilder der Zeugen Jehovas, auf denen die Menschen mit Tigern kuscheln) oder wir verhielten uns selbst wieder herrschaftlich (zumindest hätten wir einen Einfluß in dieser Frage) und wollten eine neue (oder alte?) Moral den Menschen in spe auferzwingen. Das wollen und werden wir nicht tun.
Sicherlich gibt es aber dennoch Aussagen, die wir über das Sexualleben im Kommunismus machen können. Die Unterdrückung der Frau wird aufgehoben sein. Die Frau wird wieder ein gesellschaftliches Wesen sein. Die erzwungene Monogamie wird mit der Unterdrückung der Frau fallen. Ob dann alle Menschen polygam und polyam leben, wissen wir nicht. Wir können jedoch stark vermuten und sogar annehmen, dass die freiwillige Monogamie nicht die herrschende Form der zwischenmenschlichen geschlechtlichen Beziehungen sein wird, da sie menschheitsgeschichtliche nie wirklich existiert hat.
„Aber ihr Kommunisten wollt die Weibergemeinschaft einführen, schreit uns die ganze Bourgeoisie im Chor entgegen. Der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument. Er hört, daß die Produktionsinstrumente gemeinschaftlich ausgebeutet werden sollen, und kann sich natürlich nichts anderes denken, als daß das Los der Gemeinschaftlichkeit die Weiber gleichfalls treffen wird. Er ahnt nicht, daß es sich eben darum handelt, die Stellung der Weiber als bloßer Produktionsinstrumente aufzuheben. Übrigens ist nichts lächerlicher als das hochmoralische Entsetzen unserer Bourgois über die angebliche offizielle Weibergemeinschaft der Kommunisten. Die Kommunisten brauchen die Weibergemeinschaft nicht einzuführen, sie hat fast immer existiert. Unsere Bourgeois, nicht zufrieden damit, daß ihnen die Weiber und Töchter ihrer Proletarier zur Verfügung stehen, von der offiziellen Prostitution gar nicht zu sprechen, finden ein Hauptvergnügen darin, ihre Ehefrauen wechselseitig zu verführen. Die bürgerliche Ehe ist in Wirklichkeit die Gemeinschaft der Ehefrauen. Man könnte höchsten den Kommunisten vorwerfen, daß sie an die Stelle einer heuchlerisch versteckten eine offizielle, offenherzige Weibergemeinschaft einführen wollen. Es versteht sich übrigens von selbst, daß mit der Aufhebung der jetzigen Produktionsverhältnisse auch die aus ihnen hervorgehende Weibergemeinschaft, d.h. die offizielle und nichtoffizielle Prostitution, verschwindet.“ [Marx/Engel, Manifest...aaO, S. 434f.]
Dem können wir nur noch hinzufügen, dass wir selbstverständlich nicht nur die Frauen-, sondern auch die Männergemeinschaft einführen wollen.
Einen letzten Punkt (und dies ist nur die Reihenfolge, nicht die Priorität) wollen wir der homo-, trans- und bisexuellen Frage widmen. Es versteht sich von selbst, dass die menschlichen Bedürfnisse im Kommunismus ausgelebt werden können. Es ist auch zu vermuten, dass die Geschlechtlichkeit weit phantasiereicher ablaufen wird als wir das heute denken. Denn dass Streß und Sorgen lusthemmend sind, wird wohl jede/r bestätigen. Das gilt auch für die Offenheit im bürgerlichen Sinne außerkonventioneller Sexualität. Seit es Überlieferungen menschlicher Sexualität gibt, weiß man von den homo- und bisexuellen Bedürfnissen der Menschen. Es ist zu vermuten, dass eine Kategorisierung im Kommunismus nicht mehr im Vordergrund stehen wird. Denn das Individuum steht im Mittelpunkt gesellschaftlichen Interesses. Ob der Mensch Frau, Mann, homo-, bi-, trans- oder heterosexuelle Bedürfnisse hat, wird das Ermessen seiner eigenen Bedürfniswelt unterliegen.
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