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...so erklärt Berthold Huber, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, in der „metall“ (März 2007), „warum wir mehr verdient haben“. Auch Beschäftigte verschiedener Betriebe schildern dort kurz und prägnant die Erwartungen ihrer Belegschaften und warum sie mehr Lohn brauchen: Lebenshaltungskosten und Belastungen steigen, ebenso die Umsätze und Profite „ihrer“ Betriebe, darum wollen sie jetzt „an diesem Erfolg teilhaben, der maßgeblich durch unsere Arbeit erzielt wird“. In diesem Sinne werden sie zustimmen, wenn Berthold Huber formuliert: „6,5 Prozent mehr sind fair“.

Die Forderung nach einem „fairen“ Entgelt ist so alt wie die Arbeiterbewegung. „Ein gerechter Tagelohn (fair day's wages) für ein gerechtes Tagewerk (fair day's work)“– mit diesem „Wahlspruch der englischen Arbeiterbewegung“ befasst sich Friedrich Engels 1881 in einem Artikel für eine englische Gewerkschaftszeitung. Er fragt, was das denn eigentlich sei: ein „gerechter“ Tagelohn und ein „gerechtes“ Tagewerk? Für eine Antwort könne man sich „weder auf die Wissenschaft von der Moral oder von Recht und Billigkeit berufen, noch auf irgendwelche sentimentalen Gefühle von Humanität, Gerechtigkeit oder gar Barmherzigkeit“, sondern nur auf die „Gesetze, unter denen die moderne Gesellschaft existiert und sich entwickelt“. Er stellt fest: „Ein gerechter Tagelohn ist... die Summe, die erforderlich ist, dem Arbeiter die Existenzmittel zu verschaffen, die er entsprechend dem Lebensstandard seiner Stellung und seines Landes benötigt, um sich arbeitsfähig zu erhalten und sein Geschlecht fortzupflanzen... Ein gerechtes Tagewerk ist diejenige Dauer des Arbeitstages und diejenige Intensität der tatsächlichen Arbeit, bei denen ein Arbeiter die volle Arbeitskraft eines Tages verausgabt, ohne seine Fähigkeit zu beeinträchtigen, am nächsten Tag und an den folgenden Tagen dieselbe Arbeitsmenge zu leisten.“ Modern formuliert: „Von Arbeit muß man leben können“, und „Arbeit darf nicht krank machen“ – wer wollte dieser Definition widersprechen?

Bei genauerer Untersuchung stellt sich das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit allerdings als „eine sehr sonderbare Sorte von Gerechtigkeit“ heraus. Beide Seiten haben bei diesem Handel nicht denselben „fairen“ Ausgangspunkt: „Wenn der Kapitalist mit dem Arbeiter nicht einig werden kann, kann er es sich leisten, zu warten, und von seinem Kapital leben. Der Arbeiter kann das nicht. Er hat nur seinen Lohn zum Leben und muß daher Arbeit annehmen, wann, wo und zu welchen Bedingungen er sie bekommen kann.“

Dazu kommt: durch „Anwendung von mechanischer Kraft und Maschinerie“, also die ständige Rationalisierung aller Arbeitsabläufe, werden immer mehr Arbeitskräfte ersetzt. Diese bilden eine „industrielle Reservearmee“, deren Konkurrenz auf die Löhne der Beschäftigten drückt und „durch ihre bloße Existenz die Macht des Kapitals in seinem Kampf gegen die Arbeiter“ verstärkt. „In dem Wettlauf mit dem Kapital sind die Arbeiter nicht nur benachteiligt, sie haben eine ans Bein geschmiedete Kanonenkugel mitzuschleppen. Aber das ist nach der kapitalistischen politischen Ökonomie Gerechtigkeit“.

Die „Fairness“ dieser Wirtschaftsordnung zeigt sich auch an der Frage, „aus welchem Fonds das Kapital diese so überaus gerechten Löhne zahlt“. Da das Kapital keine Werte schafft und die Arbeit (neben der Natur) die einzige Quelle allen Reichtums ist, folgt daraus, „daß der Arbeiter aus seinem eigenen Arbeitsprodukt entlohnt wird“. Aber davon erhält er eben nur einen mehr oder weniger kleinen Teil – an dem anderen bereichert sich „sein“ Unternehmer, so dass am Ende „dieses ungewöhnlich „gerechten“ Wettlaufs... das Arbeitsprodukt derer, die arbeiten, unvermeidlich in den Händen derer angehäuft wird, die nicht arbeiten, und in ihren Händen zu dem mächtigsten Mittel wird, eben die Menschen zu versklaven, die es hervorgebracht haben.“

Was hat sich an dieser „Fairness“ zwischen Kapital und Arbeit bis heute wesentlich geändert? Wird dieses Verhältnis „fairer“ mit 6,5 Prozent höheren Einkommen?

Gewerkschaften und ihr wirtschaftlicher Kampf sind notwendig und wichtig – ohne sie wären die Beschäftigten der Unternehmerwillkür schutzlos preisgegeben. Doch solange sie sich beschränken auf den Kampf um „faire“ Einkommen und „gute Arbeit“, solange ändert sich nichts an der abhängigen Stellung der Beschäftigten und an der von Engels so treffend beschriebenen „Fairness“ ihres Verhältnisses zum Kapital. Darum schlägt Engels als neues Motto vor: „Besitzer der Arbeitsmittel — der Rohstoffe, Fabriken und Maschinen — soll das arbeitende Volk selbst sein.“

Solche Gedanken sind heute in Deutschland nicht nur bei Gewerkschaftsführern, sondern auch bei der großen Mehrzahl der von ihnen Vertretenen verschüttet. Jahrzehnte scheinbarer „Sozialpartnerschaft“ haben tiefe Spuren hinterlassen. Doch gerade dies ist eine der Ursachen für die tiefe Krise der Gewerkschaftsbewegung. Ohne Erkenntnisse wie die von Engels gibt es keinen Ausweg aus dieser Krise.



Marx/Engels, Werke, Bd. 19, S. 247 ff., Ausgewählte Werke, Bd. V, S. 478 ff., Über die Gewerkschaften, Berlin 1971, S. 394 ff.

 
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