Hallo Gerd.
Wie geht's dir denn so heute? Ich hoffe mal so gut wie mir. Ich bin nämlich prächtiger Laune, und DU bist zum gewissen Teil Urheber dieser Euphorie.
Ja, jetzt wirst du dich sicherlich fragen, wie das denn möglich ist; wir kennen uns doch nicht einmal. Ich werde es dir sagen:
Heute blätterte ich in der Zeitung und las mit höchster Befriedigung, dass du standhaft bleiben willst; da im Osten, wo dich keiner mag. Von verschiedentlicher Seite soll ja an dich das Ansinnen herangetragen worden sein, du mögest dich "da" besser nicht so schnell blicken lassen, zu groß sei der Unmut, den du mit deiner Hartz-Geschichte ausgelöst hast. Aber du willst nicht weichen vor dem Pöbel, und das stimmt mich im Herzen froh!
Ja, so gehört sich das; die Suppe, die man sich einbrockt, sollte man auch auslöffeln. Als hochgekommener Lumpenproletarier hast du dich einmal gewissen Leuten verkauft (natürlich symbolisch gemeint, versteht sich - finanzielle Korruption wirst du nicht nötig haben, mentale genügt), und nun erntest du die Früchte dieser sauberen Freundschaft.
Dank der "Reform"politik deiner Mannen zieht am Horizont eine in dieser BRD bisher nicht gekannte Gefahr auf: Nicht ungeringe Bevölkerungsschichten, nämlich so ungefähr 4 Millionen registrierte Arbeitslose plus all die in der Statistik weggeschönten, sind auf Dauer als nicht gewollt zum Ballast erklärt worden, und einige von ihnen könnten sich schon bald wieder mit einem als besiegt geglaubten Problem herumschlagen müssen: dem Kampf ums nackte materielle Überleben. Damit macht man sich halt keine Freunde.
Also Gerd, alter Kumpel: ich will dir die Schuld gar nicht mal persönlich unterstellen. Nicht du machst Geschichte, denn du bist auch nur ein kleiner Getriebener, wenn auch einer, der sich scheinbar ganz gerne treiben lässt. Vom unbedeutenden Licht, einem kleinen, größenwahnsinnigen Juso-Funktionär mit Kanzlerattitüde, zum Genossen der Bosse, dem derzeitigen Liebling des deutschen Kapitals, das ist schon etwas. Eine schöne, saubere Karriere. Wäre doch zu schade, wenn der Mob dir das kaputtmachen würde.
Also, standfest bleiben! Weiterhin in den Osten fahren, auch wenn da Canossa liegt - denn nur so bist du auch in Zukunft der geeignete Laufbursche für deine Kolonialwarenhändler in den Frankfurter, Wolfsburger und Berliner Vorstandsetagen. Und ich gebe dir noch einen gut gemeinten Rat mit auf den Weg - wenn die Luft mal wieder dicke werden sollte, möge er dir in den Ohren klingen und dir Kraft geben, auch das noch durchzuhalten, denn der nächste Dumme, der den "Job" schmeißen würde, steht schon bereit. Also reiß dich zusammen, du bist auch nur ein Tagelöhner. Und die haben keine Ansprüche zu stellen.
Vielleicht sehen wir uns dann ja bald mal wieder in Chemnitz, Leipzig oder Magdeburg beim Bad in der Menge. Wahrscheinlich nicht persönlich, aber ich werde Zeitung lesen.
Nun gut Gerd, alter Freund! Mach weiter so, steh deinen Mann! Vielleicht kommt's auch gar nicht so schlimm: die Ostdeutschen sollen ja sehr gastfreundlich sein und ihre werten Besucher öfter mal mit einer Kollektion reifer Früchte aus eigenem Boden beschenken, habe ich vernommen. Also: Augen zu - und durch!
herzlichst, dein SECARTS